Regierungsbildung in Spanien: der unbedachte König und der listige Anwärter
Spanien hat fast zwei Monate nach den Parlamentswahlen immer noch keine Regierung. Im Augenblick bemüht sich Pedro Sánchez, der sozialistische Spitzenkandidat, um eine mehrheitsfähige Koalition. Dabei war es eigentlich sein Konkurrent Mariano Rajoy von der konservativen Partido Popular, der als relativer Wahlsieger den Auftrag zur Regierungsbildung hätte bekommen sollen. Dieser hatte aber das Angebot des Königs überraschenderweise abgelehnt – ein Vorgehen, das gegen Artikel 99 der Spanischen Verfassung (SV) verstößt und die ohnehin schon schwierige Regierungsbildung zusätzlich verfassungsrechtlich überschattet.
Nach Artikel 99 SV schlägt der König dem Kongress der Abgeordneten einen Kandidaten für das Amt des Regierungspräsidenten vor. Der Kongress stimmt über den Kandidaten nach einer Investiturdebatte ab. Erreicht dieser Kandidat nicht die absolute Mehrheit der Stimmen, und 48 Stunden später auch nicht eine einfache Mehrheit, werden weitere Vorschläge „in der in den vorhergehenden Absätzen vorgesehenen Form behandelt.“ (Abs. 4). Wenn in zwei Monaten kein Kandidat Erfolg gehabt hat, werden der Kongress der Abgeordneten und der Senat aufgelöst (Abs. 5).
Artikel 99 SV schweigt über eine mögliche Ablehnung des Angebots des Königs durch den vorgeschlagenen Kandidaten. Abs. 4 scheint von weiteren Vorschlägen erst auszugehen, nachdem ein erster Kandidat das Vertrauen des Kongresses der Abgeordneten verfehlt hat. Der König kann also keine neuen Vorschläge machen, bevor sein erster Vorschlag die notwendige Mehrheit verpasst hat. Dies schließt folgerichtig aus, dass der König neue Vorschläge machen kann, bevor der Kongress sich geäußert hat, und damit die Ablehnung durch einen Kandidaten.
Obwohl in der Pressemitteilung des Königs die Rede von einem „Angebot“ war, geht die Lehre davon aus, dass dem König bei seinem Vorschlag kaum Ermessen zusteht. Seiner neutralen Position entsprechend muss er den Kandidaten mit dem besten Wahlergebnis bzw. mit den besten Aussichten auf Erfolg vorschlagen.[1] Deswegen ist vielmehr von einem Auftrag denn von einem Angebot auszugehen.[2] Der Vorschlag eines Kandidaten zum Regierungspräsidenten ist eine von den wenigen Befugnissen des Königs, bei denen er nicht auf die Mitwirkung anderer Verfassungsorgane angewiesen ist.[3]
Diese verfassungsrechtliche gewollte Selbstständigkeit wäre in Frage gestellt, wenn die potenziellen Kandidaten sich weigern könnten, den Auftrag des Königs entgegenzunehmen. Die Position des Königs im verfassungsrechtlichen institutionellen Gefüge spricht auch für diese Interpretation. Nach Artikel 56 SV ist der König „Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Beständigkeit. Er überwacht und lenkt als Schiedsrichter den regelmäßigen Gang der Institutionen (…).“ Dem König kommt also eine vermittelnde, neutrale und parteipolitisch ferne Position zu. Vor allem durch Vermittlung, Beratung und ein hohes Ansehen erfüllt er seine Rolle. Seine Neutralität und seine gehobene Stellung wären gefährdet, wenn Kandidaten seinen Auftrag ablehnen könnten. Dadurch würde er dazu gezwungen, erstmal einen neuen Kandidaten zu suchen.
Dies könnte taktisch ausgenutzt werden. In der aktuellen Situation spricht vieles dafür, dass Herr Rajoy mit seiner Ablehnung einen Auftrag durch den König an seinen Kontrahenten Pedro Sánchez von den Sozialdemokraten beabsichtigt hatte. Die Absicht von Herrn Rajoy scheint dabei gewesen zu sein, Herrn Sánchez im Parlament scheitern zu lassen, um anschließend sich vom König noch einmal vorschlagen zu lassen und gewählt zu werden. Herr Rajoy könnte damit zeigen, dass in solch einzigartiger und höchstens ungewisser Situation nur er die notwendige Stabilität verkörpert, aus der man ansonsten nur durch Neuwahlen heraus kommen würde.
Nur schwer lässt sich erklären, weshalb der Spitzenkandidat der wahlsiegenden Partei die Regierungsbildung ablehnt. Tatsächlich hat Herr Rajoy nach dem Auftrag des Königs an Herrn Sánchez erklärt, er schließe eine Investitur nach einem Scheitern von Herrn Sánchez nicht aus. Wenn aber die Monarchie die höchste Institution des Staates ist, dürfte es verfassungsrechtlich nicht gestattet sein, dass sie zur Verwirklichung der politischen Ambitionen der politischen Parteien instrumentalisiert wird. Wenn andere Kandidaten auch die Regierungsbildung ablehnen, kann es zur bedauerlichen Situation kommen, in welcher der König bei den Kandidaten beinahe um die Annahme des Auftrags „betteln“ muss. Dies wäre der hohen Stellung des Königs zweifellos völlig unangemessen und kann nicht im Sinne der Verfassung sein. Auch könnten sukzessive Ablehnungen mehrerer Kandidaten zu einer verfassungsrechtlich nicht gewollten Verzögerung der Regierungsbildung führen (Vgl. Art. 99 Abs. 5 SV).
Im Ergebnis lässt Artikel 99 SV eine Ablehnung durch einen Kandidaten nicht zu, und Herr Rajoy hat die Verfassung verletzt. Die Möglichkeiten einer gerichtlichen Kontrolle scheinen im Falle der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgrund der politischen Natur der Handlung Herrn Rajoys ausgeschlossen (vgl. Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit) und im Falle der Verfassungsgerichtsbarkeit wenig erfolgsversprechend. Der Konflikt zwischen Verfassungsorganen (Art. 73 des Verfassungsgerichtsgesetzes) ist, anders als das deutsche Organstreitverfahren, als Kompetenzkonflikt, und nicht als Konflikt von Rechten und Pflichten ausgestaltet. In der vorliegenden Konstellation ist aber ein Kompetenzkonflikt zwischen geschäftsführender Regierung und Kongress der Abgeordneten kaum anzunehmen.
Auch der König verdient Kritik. Nach der hier vertretenen Auffassung hätte er die Ablehnung Herrn Rajoys zurückweisen müssen. Jedenfalls als er mit einer in der spanischen Verfassungsgeschichte erstmaligen Situation konfrontiert wurde, hätte er sich Zeit nehmen sollen, um sie und ihre Konsequenzen zu prüfen. Seiner Rolle als „Wächter der Verfassung“ war Felipe VI in seiner ersten Regierungsbildung nicht gewachsen.
Verfassungsrechtliche Bestimmungen zu Staatsoberhäuptern sind häufig offen und wenig konkret. Vieles überlassen sie dem politischen Takt und dem institutionellen Sinn der Inhaber der jeweiligen Ämter und bergen somit ein gewisses Risiko. Entweder existiert wie in Deutschland die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle oder ist man auf die Umsicht eines (in Monarchien nicht demokratisch gewählten) Staatsoberhaupts angewiesen, die nicht immer vorhanden ist. Ob dieser Situation nicht abgeholfen werden kann, wäre in Spanien eine Überlegung wert.
[1] Joan Vintró Castells, Anm. 5, S. 1659. Herr Rajoy ist der Kandidat mit dem besten Wahlergebnis. Ob Kandidaten anderer Parteien bessere Chancen als er haben, kann nicht ohne weiteres bejaht werden.
[2] Für Manuel Aragón Reyes, der allerdings ein gewisses Ermessen zuzulassen scheint, handelt es sich hierbei um eine echte “Reservebefugnis”. Siehe Manuel Aragón Reyes, Estudios de Derecho Constitucional, Madrid 2009, S. 710.
[3] Vgl. Art. 62 SV. Dazu Manuel Aragón Reyes, Anm. 2, S. 710.