So fern und doch so nah: Drohneneinsätze im Jemen im Visier der Grundrechte
Deutschland muss Grundrechte außerhalb seiner Gebietsgrenzen schützen, auch wenn Personen gefährdet sind, die nicht unter seiner „stabilisierten“ Hoheitsgewalt stehen. Es ist zudem auch dann verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, wenn eine fremde Hoheitsgewalt Grundrechte zu beeinträchtigen droht, sofern ein Konnex zum Bundesgebiet besteht. Das hat das Verwaltungsgericht Köln am 27.05.2015 in der Sache Jaber entschieden und den Grundrechten „extraterritoriale Schärfe“ beigegeben. Allerdings hat es diese gleich wieder relativiert, indem es den staatlichen Beurteilungsspielraum in Sachen Völkerrechtskonformität weit auslegt und Deutschland ein umfassendes Ermessens bei der Erfüllung von Schutzpflichten zubilligt. Trotz des ambivalenten Eindrucks, den das Urteil hinterlässt, sind insbesondere die impliziten Aussagen zum Verhältnis von humanitärem Völkerrecht zu Grundrechten eines zweiten Blickes würdig.
Geklagt hatten drei Jemeniten, die vor dem VG Köln mit Unterstützung des ECCHR von der Bundesrepublik forderten, die Nutzung der Air Base Ramstein durch die USA als Satellitenrelaisstation im Rahmen von Drohneneinsätzen zu unterbinden. Die Kläger hatten 2012 zwei Angehörige durch Drohneneinsätze verloren – nach ihren Angaben unbeteiligte Zivilisten – und befürchteten, alsbald selbst Opfer einer vergleichbaren Operation zu werden. Da auf der Militärbasis Überwachungsbilder in Echtzeit ausgewertet sowie Schlüsseldaten verarbeitet und zwischen Drohnen und ihren Piloten weitergeleitet würden, die diese vom US-amerikanischen Gebiet aus steuerten, verletze die Passivität der Bundesrepublik sie in ihren Rechten. Die Kläger machten „nur“ eine Schutzpflichtverletzung, nicht jedoch einen unmittelbaren Grundrechtseingriff der BRD durch Beteiligung an einem fremden Hoheitsakt geltend. So steht die BRD auch bei der Mitwirkung an ausländischen Hoheitsakten in grundrechtlicher Verantwortung – ob dies eine Beherrschbarkeit des fremden Hoheitsaktes voraussetzt, ist allerdings umstritten. Auf dieses Terrain wollten sich die Kläger wohl nicht begeben.
Das Urteil
Im Ergebnis hat das VG die Klage – kaum überraschend – als unbegründet abgewiesen. Das Untermaßverbot sei in concreto nicht verletzt, da die Bundesregierung regelmäßig auf die Einhaltung des deutschen Rechts und Völkerrechts bei der Nutzung der Air Base gedrungen und diesbezüglich Zusagen der USA erhalten habe. Die Verträge über die Stationierung von befreundeten Streitkräften räumten deutschen Behörden sehr eingeschränkte Eingriffsbefugnisse im Hinblick auf die Nutzung überlassener Liegenschaften ein. Ein Anspruch auf Kündigung der Stationierungsverträge rühre an hochsensible außenpolitische Erwägungen und sei ausgeschlossen.
Immerhin hatte das Gericht keinerlei Schwierigkeiten, die Kläger als Schutzpflichtberechtigte des Art. 2 II 1 GG einzuordnen. Grundrechte verpflichten die deutsche Hoheitsgewalt im Grundsatz umfassend – unabhängig davon, ob sich grundrechtsverletzendes Verhaltens der deutschen Staatsgewalt (hier das Nichteinschreiten gegen das grundrechtverletzende Verhalten einer fremden Staates) im In- oder im Ausland auswirkt. Dies gilt – anders als es z. B. der EGMR für die Anwendbarkeit von Konventionsrechten verlangen würde – auch jenseits der Ausübung effektiver deutscher Hoheitsgewalt im Ausland. Grundrechtliche Schutzpflichten sind somit kein Quid-pro-Quo oder gar eine „Kompensation“ für das staatliche Gewaltmonopol, sondern Ausfluss einer objektiven Werteordnung. Das VG erteilt erfreulicherweise implizit auch der von manchen vertretenen Ansicht eine Absage, eine strukturierte Hoheitsausübung sei, wenn nicht Voraussetzung für das Bestehen von Schutzpflichten, so doch Bedingung für subjektive Klagepositionen. Allerdings will es auch verhindern, dass die BRD verfassungsrechtlich zur Trägerin einer weltumspannenden Garantiepflicht wird. Es fordert daher – insofern rechtsprechungskonsequent – einen konkreten „Inlandsbezug“ der Grundrechtsgefährdung (siehe BVerfG zur Telekommunikationsüberwachung) und verweist auf einen abgestuften Schutzgewähranspruch von Ausländern. Dabei unterstellt es zugunsten der Kläger, Ramstein komme eine Schlüsselfunktion bei Drohnenoperationen zu. So überwindet es die beweisrechtliche Crux des Falls, die auf doppeldeutigen Beteuerungen der USA, von deutschem Boden würden keine Drohnenoperationen durchgeführt, und dem steten Verweis der Bundesregierung auf fehlende „gesicherte Kenntnisse“ über eine derartige Nutzung beruhte.
Eingeschränkte Kontrolldichte
Das VG nimmt dem Schwert der extraterritorialen Schutzpflichten jedoch einen Teil seiner Schärfe, indem es seine Kontrollbefugnis weit zurücknimmt. Das gilt sowohl für die Völkerrechtskonformität der Drohnenangriffe als auch für die seitens der BRD ergriffenen Schutzmaßnahmen.
Die Annahme der Bundesregierung, die Drohneneinsätze seien völkerrechtskonform, hält das Gericht für vertretbar. Dieser Willkürmaßstab ist angesichts der Tatsache, dass eine Rechtsfrage im Raum steht, zweifelhaft. Unabhängig von der Frage, ob es auf völkerrechtlicher Ebene eine internationale Instanz gibt, die Völkerrecht verbindlich feststellen kann – was das VG negiert –, existiert die Kategorie „völkerrechtlicher Illegalität“. Aus der staatlichen Binnenperspektive sind es die nationalen Gerichte, die letztendlich dem Völkerrecht zur Durchsetzung verhelfen und Völkerrecht für ihre Rechtsordnung rechtsverbindlich feststellen können. Dass dem BVerfG hierbei potentiell eine Rolle zukommt, beweist Art. 100 II GG. Der Verweis des Gerichts auf die Hess-Entscheidung des BVerfG von 1980 ist ebenso wenig wie diese selbst überzeugend: Es ist es üblich, dass das BVerfG Völkerrecht im Wege der Rechtserkenntnis feststellt und sich zu seiner Anwendung auf den Einzelfall äußert. Natürlich operieren völkerrechtliche Normen – so auch im humanitären Völkerrecht – mit unbestimmten Rechtsbegriffen und können nicht überprüfbare Beurteilungsspielräume eröffnen. Diese müssen dann aber genau identifiziert werden. Das ganze Völkerrecht zu einem großen „Beurteilungsspielraum“ der Exekutive werden zu lassen, kann nicht überzeugen.
Unabhängig hiervon kann man bezweifeln, ob „targeted killings“ mitsamt ihren Kollateralschäden im Jemen wirklich völkerrechtskonform sind. Abgesehen von der „legalisierenden“ Wirkung der Art. 3 der Genfer Übereinkommen, Art. 13 ZP II und dem inhärenten Grundsatz, dass unabsichtliche Tötungen von Zivilisten im Einzelfall gerechtfertigt sein könnten, wäre zu erwägen, ob die zahlreichen Einzelkonflikte auf jemenitischen Gebiet als umfassender Bürgerkrieg zu qualifizieren sind. Dies drängte dann zur Frage, inwiefern Eingriffe fremder Hoheitsgewalten – auch auf Einladung des noch regierenden Regimes – ohne besondere rechtfertigende Umstände vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts als völkerrechtlich zulässig betrachtet werden könnten.
Untermaßverbot
Die Tatsache, dass Drohneneinsätze in fundamentalste Grundrechte wie das Recht auf Leben und die Menschenwürde eingreifen, wäre Grund genug, strikt zu prüfen, ob das Untermaßverbot gewahrt wurde. Dies gilt auch, wenn man von einem abgestuften Schutzgewähranspruch bei Sachverhalten mit Auslandsbezug ausgeht. Sollte die Satellitenrelaisstation entgegen bereits gemachter Zusicherungen der USA im bisherigen Umfang genutzt werden – hier gebietet der Untersuchungsgrundsatz zumindest den Versuch weiterer Nachforschungen seitens des VG –, ist der Verweis darauf, Zusicherungen seien jedenfalls nicht gänzlich „untauglich“, fraglich. Es geht fehl, wenn Deutschland als „ohnmächtig“ im Hinblick auf Ramstein wahrgenommen wird. Grundrechtliche Verantwortlichkeit besteht zwar nur im Rahmen des Möglichen. Allerdings verpflichten Art. II und XVI NATO-Truppenstatut, Art. 53 I 1, 2 ZA-NTS die US-Streitkräfte, das Recht der BRD zu achten. Das NATO-Truppenstatut sowie das Zusatzabkommen sind völkerrechtliche Verträge. Wird ein Partner vertragsbrüchig, so eröffnen sowohl Art. 60 WVK (Suspendierung des Vertrages) als das Recht der Staatenverantwortlichkeit durchaus Handlungsmöglichkeiten (Gegenmaßnahmen, Art. 50 ff. ILC Draft Articles on State Responsibility). Dass die Bundesregierung bei dem Ergreifen solcher Maßnahmen natürlich auch Erwägungen politischer Opportunität anstellen darf, die gerichtlich nicht überprüfbar sind, liegt auf der Hand. Dennoch ist es verkürzt, wenn der Eindruck erweckt wird, „freundliches“ Nachfragen sei das einzige der Bundesregierung zur Verfügung stehende Rechtsinstrument.
Grundrechte und humanitäres Völkerrecht
Unabhängig von diesen Bedenken ist das Urteil jedoch dort besonders interessant, wo es sich mit ausdrücklichen Aussagen zurückhält. Dass VG nimmt die Einschätzung der Bundesregierung, Drohnenangriffe seien aufgrund des humanitären Völkerrechts gerechtfertigt, hin. Dennoch gesteht es den Klägern einen Schutzgewähranspruch zu. Da der Staat aber dogmatisch nur vor einer rechtswidrigen Gefährdung von grundrechtlich erfassten Rechtsgütern schützen muss, scheint das VG hier anzudeuten, dass Völkerrechtskonformität nicht mit verfassungsrechtlicher Unbedenklichkeit gleichgesetzt werden darf.
Dies verdient Zustimmung: Zwar ist hier für die unmittelbare Rechtsgutsverletzung ein fremder Staat – ergo die USA – verantwortlich. Aber: Es geht um Schutzpflichten der BRD. Insofern ist es konsequent, wenn für die Frage der Rechtswidrigkeit der Rechtsgutsgefährdung, vor der Deutschland zu schützen hat, Verfassungsrecht maßgeblich ist. Im Klartext müsste man somit fragen, wie es wäre – das Problem der parlamentarischen Partizipation ausgeblendet –, wenn Deutschland vergleichbare Drohnenangriffe flöge. Wäre ein Eingriff in das Recht auf Leben gerechtfertigt?
Das humanitäre Völkerrecht ist als Völkergewohnheitsrecht über Art. 25 S. 1 GG Teil der deutschen Rechtsordnung. Handlungen, die auf humanitärem Völkerrecht fußen, könnten aus dem Schutzbereich der Grundrechte herausfallen. In der Tat deutete das BVerfG in seiner Chemiewaffen-Entscheidung an, eine völkerrechtskonforme Landesvereidigung könnte den Schutzbereich von Grundrechten (insbesondere des Art. 2 II 1 GG) verengen.
Dies ist jedoch nicht unproblematisch: Das ius in bello steht in der Normenhierarchie unter dem Grundgesetz. Einerseits ist das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich auszulegen, andererseits kann Völkerrechtsfreundlichkeit nicht bedeuten, dass verfassungsrechtliche Grundwertungen außer Kraft gesetzt werden. Dies gilt auch, wenn man das humanitäre Völkerrecht als grundrechtliche Schranke heranzieht: Will man Tötungshandlungen im Wege humanitären Völkerrechts rechtfertigen, stellt bereits die Wesentlichkeitslehre eine erste Hürde auf: Völkerrechtliche Normen sind unbestimmt, die in Frage stehenden Eingriffe jedoch sehr erheblich.
Das zweite Problem bringt Art. 1 I GG mit sich: Können Kollateralschäden – also die Tötung unbeteiligter Zivilisten als Nebenfolge einer Kampfhandlung – im Einklang mit der Menschenwürde stehen? Erinnert sei an das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz: Die Tötung unschuldiger Zivilpersonen auch zur Rettung anderer ist mit dem Wesensgehalt des Rechts auf Leben nicht unvereinbar. Das BVerfG beschränkte seine Aussage zwar auf nichtkriegerische Konflikte, ganz so einfach ist es jedoch nicht, verfassungsrechtlich zu begründen, warum im bewaffneten Konflikt Art. 1 I GG nur in „modifizierter“ Form gelten soll.
Drittens kennt das Grundgesetz angesichts von Art. 87a GG und Art. 24 GG eigentlich nur zwei Konstellationen, in denen militärische Gewalt nach außen überhaupt angewandt werden darf: Dies sind zum einen Fälle der Landesverteidigung, die auch die Bündnispartner umfasst (siehe NATO), zum anderen Maßnahmen innerhalb von Systemen kollektiver Sicherheit wie der UN. Weder ist Jemen Bündnispartner Deutschlands noch sind die Drohnenoperationen durch eine Resolution des Sicherheitsrates legitimiert. Wenn es der BRD verfassungsrechtlich selbst nicht gestattet ist, sich an Drohnenoperationen wie den hier in Frage stehenden zu beteiligen, so erscheint es geboten, dass sie gegen die Nutzung ihres Territoriums für deren Durchführung durch einen fremden Staat vorzugehen hat. Auch wenn das Völkerrecht derartigen Drohneneinsätzen seinen Segen erteilen sollte.
Was nun?
Die Tatsache, dass das VG die Klage über die Zulässigkeitsschwelle gehievt hat, ist trotz eines verbleibenden faden Beigeschmacks nicht zu unterschätzen. Gleiches gilt für die impliziten Äußerungen des Gerichts zum Verhältnis von humanitärem Recht und verfassungsrechtlichen Schutzpflichten. Das Gericht hat die grundsätzliche Bedeutung der Entscheidung erkannt und eine Berufung zugelassen, die auch eingelegt wurde.
To be continued …