Ein Verbrechen sucht ein Gericht
Wie der Europarat mit einem Sondertribunal den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine strafrechtlich verfolgen will
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verletzt das Gewaltverbot aus Artikel 2 (4) der UN-Charta in aller Deutlichkeit – doch strafrechtliche Konsequenzen blieben bislang aus. Zwar ist der Internationale Strafgerichtshof grundsätzlich dazu berufen, das Verbrechen der Aggression zu verfolgen, in diesem konkreten Fall fehlt ihm jedoch die rechtliche Zuständigkeit (näher hier und hier).
Um diese Lücke zu schließen, hat der Europarat am 25. Juni 2025 einen bemerkenswerten und zugleich ungewöhnlichen Schritt unternommen: Generalsekretär Alain Berset und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichneten ein Abkommen zur Errichtung eines Sondertribunals für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine. Damit reagiert der Europarat auf eine Bedrohung, die seine Kernaufgaben – den Schutz der Menschenrechte, des gerechten Friedens und der “Herrschaft des Rechts” (näher hier, hier und hier) – unmittelbar betrifft.
Ziel des Tribunals ist es, trotz der fehlenden Zuständigkeit des IStGH zu verhindern, dass der russische Angriffskrieg straflos bleibt. Es soll den Weg ebnen, politische und militärische Verantwortliche für die Aggression zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig bleibt offen, wie sich dieser außergewöhnliche Schritt des Europarats in die bestehende Struktur des Völkerstrafrechts einfügt und ob er tatsächlich Verfahren gegen die Hauptverantwortlichen ermöglicht. Kann der Europarat damit einen neuen Weg zur Gerechtigkeit bahnen?
Drei Säulen für ein Tribunal
Das neue Sondertribunal ruht auf drei Säulen. Im Mittelpunkt steht das Abkommen zwischen dem Europarat und der Ukraine. Es schafft die rechtliche Grundlage, legt das Ziel des Tribunals fest und regelt zentrale Aspekte seines operativen Rahmens wie den rechtlichen Status (Artikel 3), das Verfahren zur Bestimmung des Sitzes (Artikel 2) sowie die Finanzierung (Artikel 6).
Zu Beginn des diplomatischen Prozesses stand noch im Raum, das Sondertribunal direkt in das ukrainische Justizsystem einzugliedern. Das Abkommen verleiht ihm nun aber eine eigenständige völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit und damit rechtliche Unabhängigkeit. So kann es im Rahmen seines Mandats selbstständig Vereinbarungen mit Staaten und internationalen Organisationen treffen. Dieses Abkommen als erste Säule wird durch eine noch zu verabschiedende Vereinbarung zur Einrichtung eines Verwaltungskomitees als zweite Säule sowie durch das Statut des Sondertribunals als dritte Säule ergänzt.
Das Verwaltungskomitee wird das Tribunal administrativ und politisch flankieren (vgl. Entwurf): Es wählt Richter und Ankläger, stellt die Finanzierung sicher und wirbt zugleich um überregionale Unterstützung für dessen Arbeit. Zwar ist es im institutionellen Rahmen des Europarats verankert, doch der Kreis potenzieller Partnerstaaten reicht über dessen Mitgliedstaaten hinaus. Eingeladen sind alle 141 Staaten, die am 23. Februar 2023 in der UN-Generalversammlung für eine Resolution gestimmt haben, die Russland zum Rückzug seiner Truppen aus der Ukraine aufforderte. Mit jedem weiteren Staat, der sich beteiligt, wächst die internationale Rückendeckung des Tribunals – eine Rückendeckung, die es dringend braucht. Denn ein rein europäisches Tribunal, so hatten Kritiker früh moniert, wirke zu selektiv und besitze keine ausreichende rechtliche Legitimation. Auch wenn das Sondertribunal nicht die gleiche Autorität beanspruchen kann wie vom UN-Sicherheitsrat eingesetzte Tribunale, verleiht ihm gerade eine breite außereuropäische Beteiligung zusätzliches Gewicht und ermöglicht es, dieser Kritik unerschrocken zu begegnen. Kanada, Japan und Australien haben als außereuropäische Staaten bereits ihre Unterstützung zugesagt.
Das Statut des Sondertribunals als dritte Säule regelt die materiell-rechtliche Grundlage und das Verfahren. Die Definition des Verbrechens der Aggression in Artikel 2 lehnt sich eng an die diplomatisch mühsam ausgehandelte und weitgehend anerkannte Definition in Artikel 8bis des IStGH-Statuts an. Es will auf diese Weise vermeiden, den etablierten Rechtsrahmen durch widersprüchliche Regelungen zu verwässern und dadurch die Effektivität und Glaubwürdigkeit des IStGH zu untergraben.
Anders als der IStGH leitet sich die Zuständigkeit des Tribunals für das Verbrechen der Aggression jedoch nicht unmittelbar aus dem Völkerrecht ab, sondern aus der territorialen Zuständigkeit der Ukraine. Auch bei der Rolle des Anklägers gibt es Unterschiede: Er wählt seine Fälle nicht selbst aus, sondern bekommt sie vom ukrainischen Generalstaatsanwalt überwiesen. Daraus können Spannungen entstehen, weil der Generalstaatsanwalt die Fälle einerseits nach dem vergleichsweise weniger strengen ukrainischen Recht (Artikel 437, näher hier) beurteilen, andererseits aber auch auf ihre Übereinstimmung mit der strengeren Definition im Statut achten muss.
Diese von der Ukraine abgeleitete Zuständigkeit führt zur verbreiteten, völkerrechtlich relevanten Einordnung, dass es sich jedenfalls nicht um ein genuin internationales Gericht handelt. Einige sprechen daher lediglich von einem nationalen ukrainischen Straftribunal mit internationalen Elementen (auch „internationalisiertes“ oder „hybrides“ Tribunal genannt, näher hier und hier). Andere sehen darin angesichts der Kooperation mit dem Europarat ein regional europäisches Gericht.
Wen das Tribunal verfolgen kann
Eine der wichtigsten Fragen, die sich im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Einordnung ergibt, betrifft die Immunität potenzieller Angeklagter. Da das Verbrechen der Aggression ein sogenanntes leadership crime darstellt, richtet sich die Strafverfolgung typischerweise gegen die Staatsspitze und weitere Entscheidungsträger. Soldaten ohne Führungsrolle kommen nicht als Beschuldigte in Betracht. Diese hochrangigen Vertreter können sich in aller Regel zumindest auf die funktionelle Immunität berufen, weil sie die strafbaren Handlungen in Ausübung ihres Amtes vorgenommen haben. Amtierende Staatsoberhäupter, Ministerpräsidenten und Außenminister genießen darüber hinaus persönliche Immunität.
Das Statut des Sondertribunals stellt ausdrücklich klar, dass jedenfalls funktionelle Immunitäten einem Verfahren nicht entgegenstehen (näher hier). Es folgt damit dem Vorschlag der Völkerrechtskommission, funktionelle Immunität in nationalen Völkerstrafverfahren nicht anzuerkennen.
Anders liegt der Fall bei persönlicher Immunität: Nur vollständig internationale Gerichte wie der IStGH können sie überwinden (näher hier und hier, gegenteilig hier). Für das Sondertribunal bedeutet dies, dass der Ankläger zwar etwa Präsident Putin anklagen könnte, das Verfahren jedoch ruhen müsste, solange er im Amt ist (vgl. Art. 23 (5) des Statuts).
Neben Putin könnten auch oberste Generäle der russischen Armee und Mitglieder der Regierung in den Blick geraten, ebenso wie Teile der belarussischen Staatsführung.
Abwesenheitsverfahren als Türöffner
Mit dem Sondertribunal rückt die strafrechtliche Verfolgung des Verbrechens der Aggression so nahe wie seit den Nürnberger Prozessen nicht mehr. Die Aggression gilt als „Ursünde“, die viele weitere Gräueltaten überhaupt erst ermöglicht. Ein Angriffskrieg ist nicht nur eine Verletzung des Gewaltverbots der UN-Charta, sondern auch ein Angriff auf einen Grundpfeiler der internationalen Rechtsordnung. Umso bemerkenswerter ist es, dass Angriffskriege in der Praxis lange nicht justiziabel waren.
Dass Strafverfahren jetzt tatsächlich möglich erscheinen, liegt auch daran, dass das Statut des Tribunals Prozesse in Abwesenheit des Angeklagten zulässt. Völkerrechtlich ist das keine Selbstverständlichkeit: Andere internationale Strafgerichte wie der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien oder der IStGH schließen solche Abwesenheitsverfahren aus.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch Leitlinien anhand einer Reihe von Fällen entwickelt, unter welchen Bedingungen dieses prozessuale Vorgehen zulässig ist: Die Beschuldigten müssen ausdrücklich über das Verfahren informiert werden, müssen sich auch in Abwesenheit verteidigen können und haben im Fall einer Verurteilung Anspruch auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Artikel 28 des Statuts des Sondertribunals stellt diese Rechte sicher.
Urteile in Abwesenheit sind zwar nicht unmittelbar vollstreckbar, können aber die Bewegungsfreiheit der Verurteilten einschränken und ein klares Zeichen setzen, dass das Verbrechen der Aggression verfolgt wird. Außerdem können so andere Staaten motiviert werden, das IStGH-Statut zu reformieren und zu ratifizieren, um so das Gewaltverbot im Völkerrecht zu stärken.
Offene Verfassungsfrage in der Ukraine
Bevor das Abkommen zwischen Europarat und Ukraine in Kraft treten kann, muss die Ukraine bestätigen, dass alle „internal legal procedures for establishing its consent to be bound have been completed“ (vgl. Art. 9 b. des Abkommens). Was genau damit gemeint ist und wie schnell dieser Schritt erfolgen wird, ist derzeit ungewiss. Möglich ist auch, dass das Sondertribunal zunächst auf Eis bleibt.
Immer wieder gab es Warnungen, dass ein Tribunal mit internationalen Elementen, das aber in die ukrainische Strafjustiz eingebunden bleibt, eine Änderung der ukrainischen Verfassung erfordern könnte – was im Kriegszustand allerdings nicht möglich wäre (näher hier und hier). Die Gretchenfrage ist, ob das Tribunal nach ukrainischem Verfassungsrecht als hinreichend „internationalisiert“ gilt, um keine Verfassungsänderung auszulösen, oder ob es rechtlich als Teil des ukrainischen Systems anzusehen ist. Die Abgrenzung ist schwierig und hängt letztlich wohl davon ab, wie ukrainische Gerichte und Verfassungsorgane den Status des Tribunals bewerten werden. Die eigene völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit des Tribunals und seine Gründung durch einen völkerrechtlichen Vertrag sprechen gegen eine Einordnung als Teil des ukrainischen Systems, die Überweisung von Fällen durch den ukrainischen Generalstaatsanwalt und der Bezug auf die territoriale Zuständigkeit der Ukraine sprechen eher dafür.
Dass Präsident Selenskyj das Abkommen bereits unterzeichnet hat, macht jedoch Hoffnung: Es deutet darauf hin, dass die ukrainische Regierung selbst derzeit keine unüberwindbaren verfassungsrechtlichen Hürden sieht und das Tribunal bald formell errichtet werden kann.
Ausblick: Ein Sommer für das Völkerrecht?
Das Sondertribunal ist ein wichtiger Schritt gegen die Straflosigkeit von Angriffskriegen – eine Lücke, die der IStGH und seine Mitgliedsstaaten bislang nicht zu schließen vermochten. Dennoch bleibt es eine Notlösung: Sondertribunale wirken stets selektiv, während der ständige IStGH die legitimere Institution zur Ahndung von Aggression bleibt.
Zukünftig sollte der Rückgriff auf Sondertribunale daher vermieden werden können. Die ehemalige Außenministerin Annalena Baerbock hatte gemeinsam mit vorangegangenen Stimmen aus der Wissenschaft gefordert, neben einem Sondertribunal auch die Zuständigkeit des IStGH für das Verbrechen der Aggression auszuweiten. Inzwischen liegt ein Reformentwurf auf dem Tisch, über den die Mitgliedstaaten derzeit in New York beraten.
Sollte es gelingen, das Sondertribunal zu finalisieren und zugleich die Zuständigkeit des IStGH zu stärken, könnte der Sommer 2025 tatsächlich als Sternstunde des Völkerrechts in die Geschichte eingehen – als Moment, in dem das Recht dem Unrecht des Angriffskriegs entschlossener denn je die Stirn geboten hat.