Stabilität als Fluchtpunkt der italienischen Verfassungsreform – auf welchem Weg und um welchem Preis?
Die Wahlkarten sind versandt, die Fernsehanstalten haben Für und Wider in Dutzenden Debatten abgewogen, die staatliche Fluggesellschaft offeriert vergünstigte Tickets für die Anreise – alles scheint gerichtet für das Verfassungsreferendum in Italien am 4. Dezember dieses Jahres. Gut 50 Millionen Italienerinnen und Italiener sind zur Abstimmung aufgerufen, ob die „Costituzione della Republica Italiana“ der größten Revision ihrer seit 1948 währenden Geschichte unterzogen wird: 47 von 139 Artikeln sollen geändert werden. Ministerratspräsident Matteo Renzi verspricht nicht weniger als den Wandel zum „stabilsten Land Europas.“ Angesichts von 63 Regierungen mit 27 Ministerratspräsidenten in den letzten 70 Jahren erscheint dies zweifelsohne ambitioniert. Nachdem im Folgenden zunächst der bisherige Verlauf des Verfahrens noch einmal skizziert wird, soll der Stabilitätsthese anhand von vier Ansatzpunkten der Verfassungsreform nachgespürt werden. Abschließend stellt sich die Frage, um welchen Preis diese Stabilisierung erreicht werden soll.
Die Entwicklung der Verfassungsreform bis zum Referendum
Der maßgeblich unter der Ministerin Maria Elena Boschi ausgearbeitete Verfassungsgesetzentwurf passierte am 20. Januar 2016 zunächst den italienischen Senat. Mit 361 Stimmen bei sieben Gegenstimmen und zwei Enthaltungen billigte am 12. April 2016 auch das Abgeordnetenhaus das Gesetz – nachdem sämtliche Oppositionsabgeordneten den Plenarsaal verlassen hatten. Da nicht in beiden Kammern eine Zweidrittel-Mehrheit erreicht wurde, eröffnete Art. 138 der Verfassung die Möglichkeit, dass durch die Unterschrift einer halben Million Wahlberechtigter – befördert von der Regierung Renzi – ein Referendum über die Verfassungsrevision eingeleitet wurde. Nachdem gleich mehrere gerichtliche Verfahren erfolglos blieben, findet das Referendum nunmehr am 4. Dezember 2016 statt. Für ein Inkrafttreten der Verfassungsänderung ist ein Beteiligungsquorum nicht vorgesehen, notwendig ist daher allein die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
Vier Ansatzpunkte zur Stabilisierung
Erstens: Entflechtetes Institutionengefüge
Stabilität sucht der Entwurf zunächst durch ein schlankeres und in seinen Aufgaben eindeutiger abgegrenztes Institutionengefüge zu erreichen. Augenfällig wird dies in der Abschaffung des staatlichen Beirats für Wirtschaft und Arbeit (CNEL), der sich aus 64 Sachverständigen und Wirtschaftsvertretern zusammensetzt und neben seiner beratenden Funktion insbesondere über ein Gesetzesinitiativrecht verfügt (Art. 99), freilich aber nie eine wichtige Rolle in der politischen Wirklichkeit spielte.
Bedeutsamer ist die vorgesehene Neuausrichtung der Parlamentskammern: Während Größe, Zusammensetzung und Legislaturperiode des Abgeordnetenhauses unberührt bleiben, kommen auf den Senat nach dem Verfassungsentwurf erhebliche strukturelle Veränderungen zu. Seine Größe wird von 315 auf 100 Senatoren reduziert. Die Volkswahl der Senatoren wird abgeschafft. Stattdessen werden gem. Art. 57 Abs. 2 Verf-E von den Parlamenten der 19 Regionen sowie der beiden autonomen Provinzen Trient und Bozen 21 Bürgermeister als Vertreter der Kommunen sowie insgesamt 74 Abgeordnete aus den eigenen Reihen zu Senatoren bestimmt. Deren Amtszeit als Senator richtet sich nach ihrem Mandat in der Kommune oder der Region. Die verbleibenden fünf Mandate werden vom Staatspräsidenten für eine Amtszeit von sieben Jahren besetzt (Art. 57 Abs. 1 Verf-E). Der Verfassungsreformgesetzgeber entscheidet sich damit nicht – wie in Schweden (1970) oder Kroatien (2001) – zu einer Abschaffung des Bikameralismus. Die Ausrichtung des italienischen Senats bewegt sich aber von einer politisch agierenden Kammer hin zu einer Vertretung regionaler und kommunaler Interessen auf Ebene des Zentralstaats (vgl. Art. 55 Abs. 5 Verf-E). Erstmals entstünde damit eine eindeutige Unterscheidung zwischen den beiden italienischen Kammern – vergleichbar der in Deutschland vorzufindenden Konzeption.
Zweitens: Zentralisierte Kompetenzverteilung
Bis in die siebziger Jahre existierten die italienischen Regionen im Verfassungstext, nicht aber in der Verfassungswirklichkeit. Dies änderte sich kontinuierlich, seit 2001 gilt – vergleichbar Art. 70 Abs. 1 GG – die Grundregel einer Zuständigkeit der Regionen. Auf den ersten Blick scheint durch die regionale Neuausrichtung des Senats nunmehr ein weiterer Schritt auf dem Weg Italiens von einem Einheitsstaat zu einem stärker föderal organisierten Staat getan. Genauer betrachtet macht die zur Abstimmung stehende Verfassungsreform die Entwicklungen der letzten beiden Dekaden aber ein Stück weit rückgängig, denn durch eine Neuordnung und -verteilung der Gesetzgebungskompetenzen gehen mit ihr erneute Zentralisierungstendenzen einher. Die Kategorie der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen wird abgeschafft. Die „freiwerdenden“ Regelungsbereiche werden im Zuge der Neufassung gem. Art. 117 Verf-E weit überwiegend dem Katalog der ausschließlichen Kompetenzen der Zentralgewalt zugeordnet. Insbesondere in den Bereichen Steuern, Umweltschutz, Energie, Sozialpolitik und Hochschulen erhält Rom neue Regelungsbefugnisse. Besondere Vorbehalte der Regionen weckt überdies die sog. Suprematie-Klausel des Art. 117 Abs. 4 Verf-E: Die Zentralgewalt kann danach auch im Bereich den Regionen zugewiesener Kompetenzen italienweite Regelungen erlassen, sofern und soweit dies zum Schutz der rechtlichen oder wirtschaftlichen Einheit der Republik oder zum Schutz des nationalen Interesses geboten erscheint. Die grundgesetzliche Erforderlichkeitsklausel gem. Art. 72 Abs. 2 GG wird gewissermaßen umgekehrt.
Drittens: Effizientes Gesetzgebungsverfahren
Bislang steht die italienische Verfassungsordnung paradigmatisch für einen vollkommenen Bikameralismus (bicameralismo perfetto): Abgeordnetenhaus und Senat verfügen im Gesetzgebungsverfahren über identische Befugnisse. Wie in den USA kommt ein Gesetz nur zustande, wenn beide Kammern zustimmen, im Zweifel wandert der Entwurf vorher – wie ein Schiffchen im Webstuhl (navetta) – mehrfach von einer Kammer zur anderen. Die Verfassungsänderung sieht im Gesetzgebungsverfahren nunmehr eine deutliche Kräfteverschiebung zugunsten des Abgeordnetenhauses vor: Der Senat ist nicht länger gleichberechtigt, sondern „wirkt“ – ganz wie der deutsche Bundesrat – „an der Gesetzgebung mit“ (Art. 55 Abs. 5 S. 2 Verf-E). Gesetze sollen in Zukunft im Regelfall allein mit einfacher Mehrheit des Abgeordnetenhauses beschlossen werden. Der Senat befasst sich nur dann mit dem Gesetz – eine Trennung zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen nach Art des Grundgesetzes ist nicht vorgesehen –, wenn mindestens ein Drittel der Senatoren innerhalb von zehn Tagen verlangt, dass der Senat dieses prüfen möge (Art. 70 Abs. 3 Verf-E). Dann hat der Senat 30 Tage lang die Möglichkeit, Änderungsanträge zu stellen, über die die Abgeordnetenkammer erneut und abschließend zu befinden hat. Weder ist dabei ein Vermittlungsverfahren vorgesehen noch kommt dem Senat eine Blockademöglichkeit zu. Das letzte Wort verbleibt, wie es auch Art. 77 Abs. 4 S. 1 GG für Einspruchsgesetze vorsieht, beim Abgeordnetenhaus.
Die positive Zustimmung des Senats bleibt demgegenüber nur in wenigen enumerierten Fällen notwendig. Dies gilt etwa für Verfassungsänderungen, die Ratifikation von Verträgen der Europäischen Union sowie Gesetze, die Verfassungsbestimmungen zu Familie und Eltern, sprachlichen Minderheiten, Volksentscheiden, Kommunalordnungen sowie regionalen und kommunalen Wahlsystemen näher ausführen.
Viertens: Verminderte Regierungskontrolle
Dass der Begriff „Regierungsstabilität“ in Italien zum Oxymoron geworden ist, war – nicht zuvörderst, aber auch – durch die doppelte Abhängigkeit der Regierung bedingt: Nach geltendem Verfassungsrecht bedarf die Regierung des Vertrauens sowohl des Senats als auch des Abgeordnetenhauses (Art. 94 Abs. 1). In Zukunft soll nunmehr allein das Abgeordnetenhaus die Arbeit der Regierung kontrollieren. Es ist damit grundsätzlich nur noch diese Kammer zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Art. 82 Verf-E) und zum Misstrauensvotum (Art. 94 Abs. 2 Verf-E) berechtigt. Vor dem Hintergrund des Stabilitätsziels ist bemerkenswert, dass der Verfassungsentwurf es bei der Möglichkeit eines destruktiven Misstrauensvotums belässt.
Der stabilisierende Effekt der Maßnahmen
Die Analyse legt offen, dass Matteo Renzi mit seiner eingangs zitierten Aussage in erster Linie die Stabilität der Regierung als Fluchtpunkt der initiierten Verfassungsreform vor Augen stand. Dies wird deutlich in der Loslösung der Regierung vom Vertrauen des Senats. Darüber hinaus soll Regierungsstabilität vor allem durch eine Beseitigung von Abstimmungsnotwendigkeiten und Blockademöglichkeiten erreicht werden. Die erhebliche Machtkonzentration zugunsten der regierungstragenden Mehrheit des Abgeordnetenhauses erfolgt zum einen auf Kosten der Gesetzgebungskompetenzen der Regionen. Zum anderen liegt sie in einer Schwächung des Senats begründet, die sich in einer erheblichen Begrenzung der Zuständigkeiten äußert. Die mangelnde personelle Kontinuität im Zuge der rollierenden Neubesetzung wird die Lautstärke des Senats im Konzert der Institutionen zusätzlich reduzieren.
Durch den Fortfall der Notwendigkeit doppelter Mehrheitsbeschaffung wird das Gesetzgebungsverfahren erheblich flexibler und dynamischer. In der Folge dürfte sich die Handlungsfähigkeit der durch die Mehrheit im Abgeordnetenhaus unterstützten Regierung im Allgemeinen und die Umsetzbarkeit ihrer politischen Vorstellungen in Gesetzesform im Speziellen deutlich steigern. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund eines neuen Wahlgesetzes (Italicum), das einer Partei, die bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus – ggf. in einer Stichwahl – 40 % der Stimmen gewinnt, mindestens 340 Sitze (54 %) zusichert. Ermöglicht wird damit eine reformorientierte und an einer klaren politischen Linie (indirizzo politico) ausgerichteten Gesetzgebung, die Vertrauen und Zufriedenheit der Bürger zu stärken vermag.
Der Preis der Stabilität
Bei alledem bleibt zu bedenken, dass Regierungsstabilität nicht vorschnell mit der Stabilität des politischen Gesamtsystems gleichzusetzen ist. Machtkonzentration birgt stets die Gefahr von Machtmissbrauch, der neue Instabilitäten erzeugt. Durch die „Entmachtung“ des Senats und der Regionen wird die austarierende und verstetigende Gewaltenverschränkung – im Sinne des Montesquieu‘schen „le pouvoir arrête le pouvoir“ – erheblich reduziert. Besondere Bedeutung erlangen diese Änderungen im Zusammenspiel mit der – etwa auch in Griechenland zu findenden – Mehrheitsprämie im neuen Wahlgesetz. Auf Grund dessen wird in Zukunft eine Koalitionsbildung nicht (mehr) notwendig sein. Der Opposition verbleiben aber nach schon bisher geltendem italienischen Verfassungsrecht kaum wirkungsvolle Möglichkeiten: Allein vermag sie weder einen Untersuchungsausschuss einzusetzen (Art. 82) noch – vorbehaltlich eines zu beantragenden Referendums – eine Verfassungsrevision zu verhindern (Art. 138). Damit gehen weitere Korrektive verloren. Einen politisch relevanten Gegenpol zur Machtfülle der Regierungsmehrheit im Abgeordnetenhaus wird es in der neuen Verfassungsarchitektur nicht mehr geben.
Zu bedenken ist überdies, dass nicht zwingend die hürdenlose Durchführung, sondern gerade auch die bewusste Verlangsamung und Reflektion die Qualität von Gesetzen zu erhöhen vermag. Die Zukunftsfähigkeit einer Demokratie gründet auch in ihrer Fähigkeit zum Kompromiss und zum Ausgleich sowie der Ausbalancierung widerstreitender Interessen. Mit anderen Worten: Die langfristige Stabilität des gesamten politischen Systems entscheidet sich nicht zuletzt an seinem (institutionalisierten) Umgang mit Minderheiten und Minderheitsmeinungen.
Fazit
Die Architekten Renzi und Boschi sehen mit ihrem Verfassungsentwurf zwar nicht eine Neukonstruktion vor, initiieren jedoch zweifelsohne den bedeutendsten Umbau des politischen Gefüges in der Geschichte der italienischen Republik. Diesbezüglich die aufgezeigten Punkte abzuwägen, ist am 4. Dezember 2016 Aufgabe des italienischen Volkes. Ob Italiens Regierung in Zukunft fünf Sterne bekommt, wird auch für die Europäische Union von großer Bedeutung sein.
„Entflechtetes Institutionengefüge“, aua … Grammatikhinweis: flechten, flocht, geflochten – oder eben entflochten.
Man kann es auch einfach formulieren: Es lebe der Einparteienstaat!
Damit ist Renzi ja durchaus im Mainstream, nur führt der nicht zur Demokratie.
Grammatikhinweise ohne weiteren inhaltlichen Bezug. Aua. Komplett überflüssig.
Was dennoch zur Sprache kommen sollte: Auch was nach der aktuellen Regelung im italienischen Staat vor sich geht, ist unwürdig. Senat und Parlament wollen stets das letzte Wort haben und blockieren sich durch den bicameralismo perfetto derart dauerhaft mit Änderungsvorschlägen, die dann jeweils in der anderen Kammer abgestimmt werden müssen, dass das Land immer wieder politisch zur Handlungsunfähigkeit verdammt ist. Emblematisch dafür ist das Änderungsgenerationsprogramm, ein Computerprogramm, dass ein Senator entwickelt hat, um automatisch Änderungsvorschläge zu generieren, um so den Prozess durch wortwörtlich Millionen von Änderungsanträgen zum Erliegen zu bringen. Hat man dennoch politischen Gestaltungswillen, wie man ihn Renzi sicherlich nicht absprechen kann, ist man zum immerwährenden Schmieden von Großkoalitionen bestimmt, die Mehrheiten in Senat und Parlament versprechen und weit wegen der dort vorherrschenden verschiedenen Machtverhältnisse nomial ein weit größeres Spektrum abdecken müssen als eine einfache Mehrheit in einer Kammer. Dies entschärft nicht nur jedes Gesetzesvorhaben bis zur Unkenntlichkeit und gibt enorm viel Spielraum für Parteienklüngel im Hinterzimmer – es funktioniert auch nicht dauerhaft mit einer festen Koalition. Somit muss für jedes Projekt eine neue Koalition der Willigen gezimmert werden, die es trägt. Dabei werden jedoch per Definition andere Akteure vor den Kopf gestoßen, die dann für das nächste Projekt weit weniger bereitwillig zur Verfügung stehen, selbst wenn es sie politisch interessiert. Somit ist eine Regierung über weite Teile zur Untätigkeit verdammt, ein Reformstau nicht zu beheben und eine ambitionierte politische Agenda nicht durchführbar.
Hinzu kommt: kaum ein Staat ist so sehr durch Regionalismen geprägt und verfügt über derartig viele starke regionale Identitäten, die sich schnell bevormundet fühlen. Eine Vertretung der Regionen im politischen Geschehen ist daher naheliegend und förderlich.
Letzter Punkt: Das italienische parlamentarische System ist aufgeblasen und teuer wie kaum ein anderes. Nicht nur blockieren sich die Kammern, die generieren enorme Kosten ohne bedeutenden Mehrwert. Selbst als Friseur einer der Kammern bringt man es da nach längerer Dienstzeit auf Löhne jenseits der 100.000€ im Jahr (das ist kein Scherz: http://www.fr-online.de/politik/italien-italiens-goldene-handlanger,1472596,28300386.html). Auch hier ist eine Verschlankung richtig und sinnvoll.