Theorie, Interpretation und Dogmatik der Grundrechte bei Ernst-Wolfgang Böckenförde
A. Vier Aufsätze von 1974 bis 2003
Böckenförde entwickelte seine wesentlichen Positionen zu Grundrechtstheorie, Grundrechtsinterpretation und Grundrechtsdogmatik in vier Aufsätzen, die er über 30 Jahren veröffentlichte. Diese vier Aufsätze behandeln letztlich alle dasselbe Grundthema, dem er sich jedoch in jedem der Aufsätze aus einer anderen Perspektive nähert und so immer weitere Facetten dieses Themas aufdeckt.
Böckenförde geht es darum, das Grundgesetz und die Grundrechte als rechtlichen Rahmen zu entwickeln. Dieser Rahmen soll den Gesetzgeber lediglich in bestimmten, vorab festgelegten Punkten binden. In materieller Hinsicht gilt dies insbesondere für die Grundrechte, die als Abwehrrechte individuelle Freiheit gegen den Staat absichern sollen. Jenseits dieser punktuellen Bindungen soll sich der politische Gestaltungswille des demokratischen Gesetzgebers hingegen möglichst frei entfalten können. Notwendige spiegelbildliche Voraussetzung ist dabei, dass das Verfassungsgericht durch die Grundrechte seinerseits einer Bindung unterliegt, die das Gericht nicht durch Freiheiten bei der Rechtsanwendung unterlaufen kann und die es somit effektiv daran hindert, in die für den Gesetzgeber reservierte politische Sphäre einzugreifen.
Kennzeichnend für die Beiträge Böckenfördes ist, dass er die Darstellung seiner eigenen Positionen eher knapp hält und stattdessen von der seinen abweichende Positionen, die von seiner Auffassung abweichen, einer ausführlichen Untersuchung unterzieht. Zu diesen Positionen gehören regelmäßig sowohl die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch die herrschenden Auffassungen in der verfassungsrechtlichen Literatur. Selbst wenn man der Position Böckenfördes im Ergebnis nicht folgen mag, so bieten die Beiträge doch höchst scharfsinnige Analysen der Bedeutung der Grundrechte unter dem Grundgesetz.
I. „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“ (NJW 1974, 1529)
Ausgangspunkt des ersten der vier hier behandelten Beiträge, der unter dem Titel „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“ erstmals 1974 in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) erschien, ist die Feststellung, dass die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes „ihrer Wortfassung und Sprachgestalt nach Lapidarformeln“ seien, „die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit weithin entbehren“. Die herkömmlichen juristischen Interpretationsmethoden, die für den Umgang mit einfachem Gesetzesrecht entwickelt wurden, führten bei der Auslegung der Grundrechte deshalb nicht zu hinreichend abgesicherten Ergebnissen. Da die Grundrechte gleichwohl – vor allem in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts – als unmittelbar geltendes Recht wirken und effektiv werden sollen, „bedürfen sie in anderer Weise als normale Gesetzesbestimmungen einer […] ausfüllenden Interpretation“.
Um die Interpretation aufgrund ihres „ausfüllenden“ Moments aber nicht in Beliebigkeit abgleiten zu lassen, verweist Böckenförde auf eine Ebene, die von ihm als Grundrechtstheorie bezeichnet wird: „Grundrechtstheorie bedeutet dabei eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte. Sie hat ihren Bezugspunkt […] in aller Regel in einer bestimmten Staatsauffassung und/oder Verfassungstheorie.“ Die Funktion der Grundrechtstheorie liege demnach gerade darin, die Interpretation der einzelnen Grundrechtsbestimmungen in den Gesamtzusammenhang einer Staatsauffassung/Verfassungstheorie einzubinden.
Böckenförde nimmt anschließend eine Klassifizierung der seinerzeit vertretenen Grundrechtstheorien vor, von denen die „liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie“ sowie die „Werttheorie der Grundrechte“ besonders hervorzuheben sind. Während sich in ersterer im Wesentlichen die – eingangs dargestellten – von Böckenförde selbst vertretenen Positionen wiederfinden, entspricht die Werttheorie der damals – und mit gewissen Modifikationen bis heute – herrschenden Auffassung.
Die Anziehungskraft einer Deutung der Grundrechte als Werte beruhe insbesondere darauf, so Böckenförde, dass sie einen praktikablen Lösungsweg für das Problem der Grundrechtskollisionen zu bieten scheine. In Wirklichkeit seien allerdings bisher weder eine rationale Begründung für eine Wertordnung noch „ein rational erkenn- und diskutierbares Vorzugssystem“ zur Bestimmung einer Rangfolge der Werte und der darauf aufbauenden Abwägung ersichtlich. Die Logik des Wertedenkens gehe vielmehr dahin, dass sich der jeweils höhere Wert gegenüber allen niederen Werten bedingungslos durchsetze. Die Werttheorie führe somit nur scheinbar zu einer Rationalisierung der getroffenen Abwägungsentscheidungen, tatsächlich jedoch zu richterlichem „Dezisionismus“.
Nach Böckenfördes Ansicht können die verschiedenen Grundrechtstheorien denn auch keineswegs gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Es müsse vielmehr darum gehen, die verfassungsgemäße Grundrechtstheorie zu identifizieren.
Dieser von Böckenförde identifizierte Antagonismus zwischen liberaler und wertorientierter Grundrechtstheorie bleibt auch – mindestens im Hintergrund – für alle folgenden Überlegungen maßgeblich.
II. „Die Methoden der Verfassungsinterpretation“ (NJW 1976, 2089)
In dem zweiten Beitrag, der nur kurz darauf unter dem Titel „Die Methoden der Verfassungsinterpretation. Bestandsaufnahme und Kritik“ – unter der Mitarbeit Bernhard Schlinks – und ebenfalls in der NJW erschien, spielt die Grundrechtstheorie auf den ersten Blick nur eine untergeordnete Rolle. Dies liegt jedoch lediglich daran, dass Böckenförde seine Überlegungen zu Grundrechten und Grundrechtstheorie nunmehr auf die Verfassung insgesamt überträgt, wobei er sich allerdings in dem Beitrag nicht – wie vielleicht zu erwarten wäre – mit unterschiedlichen Verfassungstheorien beschäftigt, sondern mit verschiedenen methodischen Ansätzen zur Verfassungsinterpretation.
Er kommt dabei zu dem Schluss, das bislang weder die klassische (hermeneutische) Auslegung noch die in der Literatur entwickelten Alternativen in der Lage seien, die von ihm für notwendig erachtete methodische Bindung an die Verfassung zu garantieren.
Den Hintergrund bildet die – eingangs dargestellte – Problematik der Gewaltgliederung: Wenn das Verfassungsgericht die Ergebnisse der Verfassungsauslegung mittels der von ihm verwendeten Methode frei bestimmen könne, sei zu befürchten, dass es mehr und mehr dazu übergehen werde, die politischen Freiräume des Gesetzgebers zu besetzen.
Erneut schließt Böckenförde seine Untersuchung deshalb mit der Forderung, eine verfassungsgemäße Verfassungstheorie zu bestimmen, an der sich die Interpretation zu orientieren habe.
III. „Grundrechte als Grundsatznormen“ (Der Staat 29 [1990], 1)
Der dritte Beitrag erschien nach langer Pause im Jahr 1990 unter dem Titel „Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik“. Den Hintergrund des Beitrags bildet erneut die Problematik des Verhältnisses zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, diesmal behandelt aus der Perspektive der Grundrechtsdogmatik.
Der in den früheren Beiträgen noch durch weitere Ansätze aufgelockerte Gegensatz zwischen liberaler und wertorientierter Grundrechtstheorie tritt nun deutlich als dualistische „Entweder-oder“-Entscheidung hervor: Böckenförde konzentriert sich nunmehr gänzlich auf die Frage, ob die Grundrechte nur als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat (liberal) oder auch als objektive Grundsatznormen (wertorientiert) zu verstehen seien.
In der herrschenden Annahme einer „Doppelgestalt“ der Grundrechte, sowohl als subjektive Abwehrrechte als auch als objektive Grundsatznormen, liege die Ursache für eine „Hypertrophie der Grundrechte“ – es lasse sich nun nahezu jedes beliebige Problem als Frage der Grundrechtsanwendung darstellen. Diese Hypertrophie habe zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zu Gunsten des Verfassungsgerichts geführt.
Die Doppelgestalt der Grundrechte sei freilich keineswegs im Grundgesetz angelegt, sondern ein Resultat der Suche nach Orientierung, welche die Bundesrepublik zu Beginn der fünfziger Jahre gekennzeichnet habe. Erst die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts habe für eine Deutung der Grundrechte als objektiver Wertordnung – der notwendigen Grundlage für die Annahme einer Doppelgestalt – den Durchbruch gebracht. Die Grundrechte hätten so eine neue Qualität gewonnen. Sie seien aus dem abwehrrechtlichen Staat-Bürger-Verhältnis herausgelöst und zu elementaren Ordnungsprinzipien der Gemeinschaft geworden. Dogmatischen Ausdruck finde dies etwa in den Figuren der Ausstrahlungswirkung, der Drittwirkung und den Schutzpflichten. Aufgrund der Unbestimmtheit dieser Figuren seien die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts für ihre Anwendung jedoch „selbst gesetzt“.
Im Verhältnis des objektiven zum subjektiven Gehalt der Grundrechte habe ersterer letzteren nicht aufgehoben, sondern sei zu ihm hinzugetreten. Es stelle sich aber die Frage, ob diese Position durchgehalten werden könne, wenn der objektive Gehalt der Grundrechte einmal anerkannt sei: Denn letztlich könne sich im horizontalen Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger untereinander die objektive Gewährleistung der Grundrechte für die einen nur auf Kosten der ebenso grundrechtlich fundierten subjektiven Freiheitspositionen der jeweils anderen realisieren. Um die grundrechtlichen Freiheits- und Schutzrechte der Bürger untereinander kompatibel zu halten, werde das Verhältnismäßigkeitsprinzips als Abwägungsgrundlage herangezogen.
Diese Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit unterscheide sich aber von der klassischen Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Es gehe nunmehr darum, einen Ausgleich mehrerer, auch gegenläufiger normativer Prinzipien zu erreichen. Ein solcher Ausgleich sei „freilich eher Aufgabe der Gestaltung als der interpretativen Anwendung einer Rechtsordnung.“ Es zeige sich, „welcher Spielraum einer Rechtsprechung eröffnet ist, die den Maßstab dieser Verhältnismäßigkeit, der ohne weitere Ausformung letztlich mit Gerechtigkeit synonym ist, als vorgeblich justitiablen, weil für richterliche Rechtsanwendung hinreichend inhaltsgewissen Maßstab handhabt.“
In rechtsdogmatischer Hinsicht betreibe das Verfassungsgericht hier Rechtsschöpfung, „mehr Sinngebung als Sinndeutung“. Es entwickele fallbezogene Verfassungsgesetzgebung und erzeuge ein sich zunehmend ausweitendes Verfassungsgesetzesrecht.
In staatstheoretischer Hinsicht wandelten sich die Grundrechte durch ihren objektiv-rechtlichen Gehalt zu Aufgabennormen des Staates, die zudem subjektiv-rechtlich einforderbar würden.
In verfassungstheoretischer Hinsicht veränderten die Grundrechte das Verhältnis von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Erstere werde von originärer Rechtssetzung zur Grundrechts-Konkretisierung herab, letztere von interpretativer Rechtsanwendung zur rechtsschöpferischen Konkretisierung heraufgestuft. Es vollziehe sich ein gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat.
Wer an der maßgeblichen Funktion des vom Volk gewählten Parlaments für die Rechtsbildung festhalten und den Umbau zu einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat verhindern wolle, müsse auch daran festhalten, dass die Grundrechte „nur“ subjektive Freiheitsrechte gegenüber der staatlichen Gewalt und nicht zugleich (verbindliche) objektive Grundsatznormen für alle Bereiche des Rechts seien.
IV. „Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken – zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik“ (Der Staat 42 [2003], 165)
Im vierten und letzten der hier behandelten Beiträge, „Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken – zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik“, der nach erneut langer Pause 2003 im „Staat“ erschien, geht Böckenförde insoweit neue Wege, als zum ersten Mal nicht so sehr die Kritik an der herrschenden Auffassung, sondern die Formulierung eines eigenen Ansatzes im Vordergrund steht.
Böckenförde setzt die praktische Umsetzbarkeit der liberalen Grundrechtstheorie nicht mehr einfach voraus, sondern möchte dieser einen eigenen, tragfähigen dogmatischen Unterbau verschaffen. Erneut steht dabei das Ziel im Vordergrund, dem Zufälligen und Subjektiven, die das vorherrschende Abwägungsdenken kennzeichneten, eine Vorgehensweise entgegenzusetzen, die Verlässlichkeit und Objektivität garantiere.
Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels schlägt Böckenförde eine Aufteilung des bislang einheitlich verstandenen Schutzbereichs in einen Sach- bzw. Lebensbereich einerseits und einen sogenannten Gewährleistungsgehalt andererseits vor. Während der Sach-/Lebensbereich lediglich den gegenständlichen Einzugsbereich des Grundrechts bezeichne – z.B. Ehe und Familie, Vereinsbildung, Beruf –, bestimme der Gewährleistungsbereich, in welchem Umfang bezogen auf diesen Bereich Schutz, Freiheit, Teilhabe usw. gewährleistet seien. Dieser Gewährleistungsbereich sei für jedes Grundrecht eigenständig zu ermitteln und könne nicht einfach abstrakt unter Rückgriff auf eine möglichst umfassende Freiheitsvorstellung bestimmt werden. Denn die einzelnen Grundrechte seien historisch aus konkreter Unrechtsabwehr und der Erkämpfung bestimmter Rechte entstanden, woraus sie ihre je eigene Zielrichtung erhalten hätten.
Dieser neue dogmatische Ansatz stärke das rechtsstaatliche Verfassungsgefüge und könne dazu führen, „asymmetrische Strukturen, die sich eingefahren haben, wieder ins Gleichgewicht“ zu bringen.
B. Anmerkungen und Einordnung
Böckenfördes Beiträge waren nicht nur selbst für die bundesdeutsche Grundrechtsdebatte prägend, sondern waren natürlich auch ihrerseits durch die jeweiligen Zeitumstände geprägt.
I. „Grundrechtstheorie“ und „Verfassungsinterpretation“
Die beiden, Mitte der siebziger Jahre entstandenen Beiträge führen deutlich vor Augen, wie lange um ein konsentiertes Verständnis der Grundrechte unter dem Grundgesetz gerungen wurde. Sie stehen im Zeichen des damals noch andauernden Streits zwischen Schmitt- und Smend-Schule. So erneuert Böckenförde etwa eine bereits von Ernst Forsthoff geäußerte Kritik, wenn er der von Smend inspirierten Werttheorie vorwirft, sie sei „in erster Linie eine Sache rein geisteswissenschaftlicher Bearbeitung“, die sich „von der herkömmlichen juristischen Methode emanzipiert“ habe. Bemerkenswert ist insofern allerdings, dass er die von Forsthoff für die Verfassungsinterpretation vertretene „klassisch-hermeneutische Methode“ ebenfalls als unzulänglich zurückweist.
Die Einbettung in die damaligen Debatten mag aus heutiger Sicht dazu führen, dass einige der behandelten Punkte überholt erscheinen. So werden heute etwa institutionelle oder demokratisch-funktionale Ansätze kaum noch als eigenständige Theorien diskutiert. Auch die im zweiten Beitrag viel Raum einnehmende Kritik der „Topik“ erscheint mangels noch aktiver Vertreter aus heutiger Sicht nur schwer verständlich. Dabei sollten heutige Leserinnen und Leser aber nicht übersehen, dass die Beiträge gerade Teil eines Ringens waren, in welche Richtung die Weichen für die Zukunft gestellt werden sollten. Was heute als selbstverständlich oder gar alternativlos erscheinen mag, ist das Resultat der damaligen, zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs entschiedenen Debatten.
II. „Grundrechte als Grundsatznormen“
Die im dritten Beitrag erfolgte Hinwendung zur Grundrechtsdogmatik, mag auch damit zusammenhängen, dass Böckenförde – der kein Referendariat und kein Zweites Staatsexamen durchlaufen hatte – zum Zeitpunkt des Erscheinens des Beitrags bereits eine halbe Amtszeit als Richter des Bundesverfassungsgerichtes absolviert und so verstärkt eine praktische Perspektive auf die Grundrechte gewonnen hatte. Dabei hatte er als Mitglied des in erster Linie für das Staatsorganisationsrecht zuständigen Zweiten Senats zwar nur selten Gelegenheit, sich zu den Grundrechten zu äußern. Dennoch war er, bedingt durch die jeweiligen prozessualen Einkleidungen, auch an einigen Entscheidungen zu den Grundrechten beteiligt, von denen hier zwei hervorgehoben werden sollen:
Die erst betrifft die zweite Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung von 1985 (BVerfGE 69, 1). Das von Böckenförde zusammen mit Gottfried Mahrenholz verfasste Sondervotum und die darin enthaltene Kritik an der Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte unter Heranziehung der föderalen Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes als kollidierende Verfassungsgüter hat bis heute nichts an Überzeugungskraft und (leider) auch an Aktualität verloren. Zugleich nimmt dieses Sondervotum viele Punkte vorweg, die in dem rund fünf Jahre später veröffentlichten Aufsatz von 1990 eine Rolle spielen.
Genau gegenteilig verhält es sich mit der 1993 durch den Zweiten Senat getroffenen zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88, 203): Hier schließt sich Böckenförde nicht etwa dem Sondervotum der Richter Mahrenholz und Sommer an, sondern spricht sich mit der Senatsmehrheit sowohl für die Begründung einer Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben aus als auch für die Annahme, „dass nicht indizierte Schwangerschaftsabbrüche, die in den ersten zwölf Wochen nach Beratung von einem Arzt vorgenommenen werden, nicht als ‚nicht rechtswidrig‘, mithin erlaubt angesehen werden dürfen.“ Böckenförde wurde daraufhin vielfach vorgeworfen, hier dogmatisch mitzutragen, was er nur wenige Jahre zuvor in seinem wissenschaftlichen Beitrag – unter explizit positiver Bezugnahme auf das kritische Sondervotum der Ersten Schwangerschaftsentscheidung – noch ausdrücklich abgelehnt hatte. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass der Senat gegenüber der Vorgängerentscheidung nunmehr zur Ableitung einer Schutzpflicht sehr viel stärker auf die explizite Verpflichtung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG als auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abstellte. Insofern hatten sich die Überzeugungen des Katholiken Böckenförde offenbar gegen die des Staatsrechtslehrers durchgesetzt. Dass er sich in einem eigenen Sondervotum immerhin für die Möglichkeit von Sozialversicherungsleistungen bei beratenen Abbrüchen einsetzte, blieb vor diesem Hintergrund nur eine Randnotiz.
III. „Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik“
Auch für den Aufsatz von 2003 spielt eine Entscheidung, an der Böckenfördes als Verfassungsrichter beteiligt war, eine zentrale Rolle: Die Entscheidung zum sogenannten Sprayer von Zürich aus dem Jahr 1984 (BVerfG NJW 1984, 1293). Das Gericht begründete in der Entscheidung die Ablehnung einer Verletzung der Kunstfreiheit damit, die Reichweite der Gewährleistung des Art. 5 Abs. 3 GG erstrecke sich „von vorneherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung“. Dies ist genau jener Gedanke, den Böckenförde mit seiner Unterscheidung zwischen Sach- und Gewährleistungsbereich Grundrechtsdogmatik zu verallgemeinern versucht.
Dieses Ansinnen entfachte eine hitzige Debatte, was freilich auch daran gelegen haben wird, dass nur kurze Zeit später mit Wolfgang Hoffmann-Riem ein anderer prominenter Autor eine scheinbar (tatsächlich unterscheiden sich die beiden Ansätze in ihrem Ausgangspunkten und Konsequenzen erheblich) ganz ähnliche Forderung nach Präzisierung des Schutzbereichs erhob (Der Staat 43 (2004), 233).
Doch blieb auch diese Debatte ohne nachhaltige Auswirkungen auf die Praxis. Gegenwärtig erscheint es zudem unwahrscheinlich, dass die allgemeinen Grundrechtslehren des Grundgesetzes in absehbarer Zeit noch einmal eine derartige Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden.
C. Ein Ausblick
Was bleibt von der Grundrechtstheorie und -dogmatik Böckenfördes? Unbestritten ist, dass es Böckenförde nicht gelungen ist, die Praxis des Bundesverfassungsgerichts oder die herrschende Meinung nachhaltig zu beeinflussen. Mittlerweile hat sich das Gericht sogar von der Herangehensweise in der Sprayer-von-Zürich-Entscheidung ausdrücklich distanziert (BVerfG, Urt. v. 31.5.2016 – 1585/13, Rn. 90). Ein grundlegender Umschwung dürfte also für die absehbare Zukunft nicht zu erwarten sein.
Dies macht die Arbeiten Böckenfördes jedoch in keiner Weise bedeutungslos: Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive bleibt festzuhalten, dass er die Debatte um die Grundrechte unter dem Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht auf ein neues Niveau gehoben hat, indem er den auf einer als erfolgreich angesehenen Praxis beruhenden Konsens nachhaltig durchbrochen und herausgefordert hat. Er hat nachdrücklich ins Bewusstsein geführt, dass diese Praxis keineswegs alternativlos und deswegen der Kritik enthoben wäre. Bei der Formulierung seiner jeweiligen Kritik hat er zudem eine Analyse dieser Praxis auf einem Niveau geliefert, das auch von ihren Befürwortern nur selten erreicht wird. Im Gegenteil dürfte die Beharrungskraft des status quo nicht zuletzt darauf beruhen, dass sich sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch große Teile der Literatur bequem in einem Zustand der Theorielosigkeit eingerichtet haben, der – ganz wie von Böckenförde beschrieben – ein größtmögliches Maß an Flexibilität in der Entscheidung des Einzelfalls gewährt.
Die Bedeutung seiner Beiträge wird schließlich auch daran deutlich, dass viele von Böckenfördes Schülerinnen und Schülern seine Argumentation aufgriffen und weiterentwickelten. So sind Generationen von Studierenden mittels des „Pieroth/Schlink“ nicht nur an die herrschende Meinung herangeführt worden, sondern wurden zugleich auch mit der Kritik an ihr vertraut gemacht. Soweit sich nicht nur hinsichtlich der Personen, sondern auch der Inhalte überhaupt von einer Böckenförde-Schule sprechen lässt, gilt dies wohl am ehesten im Bereich der Grundrechts- und Verfassungstheorie und dem damit verbundenen Versuch, die Freiheit des Einzelnen ebenso zu schützen wie die politischen Gestaltungsmacht des Gesetzgebers.