Aber wer bewacht die Wächter?
Zu unabhängigen Ermittlungen gegen Polizist:innen
Als Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols und Behörde mit Befugnissen zu weitreichenden Grundrechtseingriffen sowie einer starken Definitionsmacht ist die Polizei eine Institution, deren Kontrolle im demokratischen Rechtsstaat besondere Bedeutung zukommt. Während sie unter anderem die Aufgabe hat, Straftaten zu verfolgen und die bestehende Ordnung durchzusetzen, stellt sich umgekehrt die Frage, wie mit Fehlverhalten in ihren eigenen Reihen umzugehen ist – quis custodiet ipsos custodes. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die bestehenden Mechanismen unzulänglich sind, um von Polizist:innen begangene Straftaten zu verfolgen und anderen Fehlverhalten nachzugehen. In der daran anschließenden Reformdebatte lassen sich zwei Stränge differenzieren: Unabhängige externe Stellen, insbesondere Polizeibeauftragte, die neben der Kontrolle auch Kommunikation und Mediation zur Aufgabe haben, können Beschwerden, nicht-strafbare Vorfälle und teilweise auch strukturelle behördliche Defizite in den Blick nehmen. Sie agieren jedoch außerhalb des Strafjustizsystems. Für eine stärkere Unabhängigkeit in einschlägigen strafrechtlichen Ermittlungen würde eine gesonderte Ermittlungsbehörde sorgen – Vorbilder gibt es schon in anderen europäischen Ländern. Beide Stränge sollten differenziert werden, denn das Strafverfahren bedarf zwar mit Blick auf die Verfolgung staatlicher Gewalt erheblicher Anpassung, eignet sich aber regelmäßig nicht, um grundlegende und strukturelle Fragen rechtswidrigen Polizeihandelns zu adressieren und die Geschädigten angemessen einzubinden.
Gesellschaftliche Erwartungen an die Aufarbeitung polizeilichen Fehlverhaltens
Im Fokus der öffentlichen Debatte um polizeiliches Fehlverhalten und den Umgang damit steht in erster Linie die strafrechtliche Aufarbeitung, insbesondere in Form von Strafverfahren gegen Polizist:innen wegen Körperverletzung im Amt. Indes ist die strafrechtliche Aufarbeitung problematisierter polizeilicher Gewaltanwendungen einerseits nur einer von vielen denkbaren Mechanismen im Umgang mit Fehlverhalten in der polizeilichen Praxis. Andererseits betrifft sie auch nur einen spezifischen Phänomenbereich. Auflösungen von Demonstrationen, Identitätsfeststellungen nach rassifizierten Merkmalen an Bahnhöfen, die nächtliche bewaffnete Erstürmung einer Unterkunft für minderjährige Geflüchtete auf der Suche nach einem gestohlenen Handy, Aufenthaltsverbote für auswärtige Fußballfans, die medienwirksame Razzia in der Shisha-Bar, das Schießtraining auf einem bei Neonazis beliebten Übungsplatz, rechte Sprüche auf der Dienststelle oder die Frage nach der „wirklichen“ Herkunft des Gegenübers – in vielen Fällen ist das gesellschaftliche Interesse in erster Linie nicht auf die Erörterung individueller Strafbarkeit gerichtet.
Zudem kann auch rechtmäßige polizeiliche Gewalt im demokratischen Rechtsstaat unerträglich sein: Ein tödlicher Schusswaffeneinsatz gegen einen die Beamtin mit einem Messer angreifenden, akut psychotischen Menschen könnte im Einzelfall ggf. eine Notwehrlage darstellen, bei angemessener Einsatzplanung wäre es aber womöglich nicht zu der lebensgefährlichen Situation gekommen.
Neben dem auf individuelle Schuld und Sanktionierung fokussierten Strafrecht stellen beispielsweise auch das auf interne Aufarbeitung und die Funktionsfähigkeit der Behörde gerichtete Disziplinarrecht, das öffentliche Antidiskriminierungsrecht, das weitere Verwaltungsrecht (etwa bei der Feststellung der überindividuellen Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Maßnahme), das Zivilrecht (beim Ausgleich materieller Schäden) oder parlamentarische Untersuchungsausschüsse (bzgl. übergeordneter Abläufe) denkbare gesellschaftliche Reaktionsansätze auf entsprechende Vorfälle dar. Insofern wäre es für die Debatte hilfreich, zu differenzieren, welche Erwartungen an einen neuartigen Ermittlungsmechanismus bestehen.
Ziele und Grenzen strafrechtlicher Aufarbeitung
Das Strafrecht befasst sich mit der Feststellung individueller Schuld und der daraus folgenden Bestrafung Einzelner. Es ist als solcher ein intensiv auf die Angeklagten fokussierter Mechanismus, der zu Recht mit weitreichenden Beschuldigtenrechten und rechtsstaatswahrenden Strukturen ausgestattet ist. In seiner notwendigerweise engen Ausrichtung ist dieser Mechanismus nur begrenzt geeignet, Sachverhalte breit zu beleuchten oder zu kontextualisieren. Ebenso wenig ist er geeignet, strukturelle Missstände, überindividuell-behördliches Fehlverhalten zu thematisieren und Geschädigte angemessen einzubeziehen – für letztere ist grundsätzlich die Rolle eines Beweismittels vorgesehen, sie empfinden das Strafverfahren häufig als belastend und enttäuschend.
Das bedeutet nicht, dass der strafrechtlichen Bearbeitung polizeilichen Fehlverhaltens keine Bedeutung zukommt. Allerdings sollte der Strafprozess nicht mit verfahrensfremden Erwartungen überfrachtet werden, die in der Praxis enttäuscht zu werden drohen. In vielen Fällen dürften die Forderungen nach besserer Kontrolle polizeilichen Handelns Ziele verfolgen, die sich besser außerhalb des Strafrechts erreichen lassen: Das öffentliche Interesse an der Überprüfung der behördlichen Maßnahme als Ganzes oder möglichen Missständen innerhalb der Polizei zielt in eine andere Richtung als der staatliche Strafanspruch gegen das beschuldigte Individuum. Die Fragen „Wie konnte es dazu kommen?“, „Wie können wir verhindern, dass es wieder geschieht?“ oder „Was geht in der Polizei vor?“ sind wesentlich anders gelagert als die Frage „Wer soll hierfür wie bestraft werden?“. Ein effektiver Zugang zu einer umfassenden Kontrolle staatlichen Fehlverhaltens eröffnet sich erst dann, wenn diese Stränge nicht verwischt, sondern als unterschiedliche Perspektiven und Wege erkannt werden.
Daraus ergibt sich als nächster Schritt zu einer stärkeren Kontrolle der Polizei eine zweigliedrige Herangehensweise entsprechend eines 2-Säulen-Modells: Die strafjustizielle Bearbeitung kann individuelles Fehlverhalten im Einzelfall aufklären und sanktionieren. Den spezifischen Defiziten dieses Mechanismus ist innerhalb des Strafjustizsystems durch die grundlegende Reformierung der diesbezüglichen Ermittlungsstrukturen zu begegnen. Weitergehende Ziele und Aufgaben polizeilicher Kontrolle bedürfen hingegen anderer Mechanismen der Police Accountability, etwa in Form von unabhängigen Stellen außerhalb der Strafjustiz. Hierfür ließe sich zum Beispiel an die Polizeibeauftragten anknüpfen, die an den Parlamenten angesiedelt sind, und die dann – wie vielfach für erforderlich gehalten – entsprechend weiterzuentwickeln wären (zum rechtlichen Rahmen siehe Sammet, DÖV 2023, 534 und Botta).
Defizite der strafjustiziellen Aufarbeitung
Auch im Hinblick auf eine derart enggeführte Zielvorstellung für Strafverfahren gegen Polizist:innen, etwa wegen Körperverletzung im Amt, zeigen sich in der Praxis erhebliche Defizite. Diese Verfahren sind empirisch besehen durch eine außergewöhnliche Erledigungsstruktur gekennzeichnet: Sie enden im Vergleich zu anderen Strafverfahren auffallend häufig mit einer Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts gem. § 170 Abs. 2 StPO und gelangen nur äußerst selten zur Anklage. So endeten im Jahr 2022 von den wegen vorsätzlichen Körperverletzungsdelikten insgesamt geführten Ermittlungsverfahren 16 % mit einer Anklageerhebung oder einem Strafbefehlsantrag und 46,2 % mit einer Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO; bei den gegen Polizeibeamt:innen wegen Gewaltausübung und Aussetzung geführten Verfahren kam es im selben Zeitraum hingegen nur in knapp 1,8 % der Fälle zu Anklagen oder Strafbefehlsanträgen, während 86,4 % der erledigten Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden.1)
Zwar wird diese besondere Erledigungspraxis seitens Polizei und Politik teilweise auf eine hohe Anzahl ungerechtfertigter Anzeigen zurückgeführt. Die Forschung zeigt allerdings, dass dies nicht zuletzt auf die Besonderheiten dieser Verfahren zurückzuführen ist, etwa weil sich die Beweislage oft als schwierig darstellt und die potenziellen Täter:innen häufig nicht identifiziert werden können. Zum anderen ist auch die Art und Weise der justiziellen Bearbeitung auffällig – unter anderem, weil dabei „Polizei gegen Polizei“ ermittelt, Polizeibeamt:innen sich schwer damit tun, gegen Kolleg:innen auszusagen und institutionalisierte, teils unbewusste Handlungsnormen bei Staatsanwaltschaften und Gerichten dazu führen, dass Polizist:innen tendenziell eher Glauben geschenkt wird. Dies zeigt sich etwa auch in der empirisch nicht bestätigten, aber in der Rechtsprechung etablierten Annahme, Aussagen von Polizist:innen seien aufgrund ihrer Eigenschaft als „Berufszeug:innen“ grundsätzlich besonders zuverlässig.
Außerdem bringen die meisten Menschen, die als übermäßig bzw. rechtswidrig wahrgenommene polizeiliche Gewalt erleben, dies schon nicht zur Anzeige – meist aus Angst vor „Gegenanzeigen“ und anderen negativen Folgen oder weil sie davon ausgehen, dass sie in einem solchen Verfahren gegen Polizist:innen keine Chance haben würden. Dies deutet auf ein erhebliches Dunkelfeld hin. Es dürfte also sogar weitaus mehr problematische Sachverhalte geben, als in den Statistiken erfasst sind. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte Deutschland 2017 wegen der unzureichenden individuellen Kennzeichnung von Polizist:innen und den davon ausgehenden Hürden bei der Aufklärung staatlicher Gewalt gerügt.
Angesichts all dessen sind in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend Forderungen nach einer Reform der strafjustiziellen Aufarbeitung bzw. nach einer unabhängigen Kontrolle polizeilichen Fehlverhaltens laut geworden. Betont wird insofern in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR, diese müsse unabhängiger, effizienter und für die Öffentlichkeit transparent werden sowie die Betroffenen miteinbeziehen. Allerdings sollten diese Reformen – dies gilt es hier noch einmal zu unterstreichen – nicht mit verfahrensfremden Erwartungen überfrachtet werden, die besser bei anderen Mechanismen der Kontrolle verortet sind.
Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen neuer strafrechtlicher Ermittlungsstellen
Die Probleme der derzeitigen strafrechtlichen Bearbeitung einschlägiger Fälle gehen in vielfacher Hinsicht auf die hierfür bestehenden Strukturen zurück. Nach der gegenwärtigen Konzeption ist die Polizei weitgehend für die Aufklärung ihres eigenen Fehlverhaltens zuständig, ergänzt durch eine im Alltag eng mit ihr verbundene und auf sie und ihre Arbeit angewiesene Staatsanwaltschaft. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten sind mittlerweile gut untersucht, vielfach gerügt und von so grundsätzlicher Natur, dass sie sich innerhalb des klassischen Aufbaus des deutschen Strafverfolgungssystems nicht effektiv adressieren lassen.
Vor diesem Hintergrund werden grundlegendere Reformen vorgeschlagen, um den beschriebenen Problemen zu begegnen. Konkret wird diskutiert, dass an die Stelle von Polizei und Staatsanwaltschaft als ermittelnden Strafverfolgungsbehörden eine Verfolgungsbehörde neuer Art treten sollte, die in einschlägigen Verfahren Ermittlungen und Verfahrensführung übernimmt. Eine solche Behörde für Verfahren gegen Polizeibedienstete im Hinblick auf ihre Dienstausübung müsste in der Lage sein, die Ermittlungsarbeit weitgehend selbst zu übernehmen bzw. sich hierzu nur hilfsweise der Polizei zu bedienen. Sie wäre daher mit denselben strafprozessualen Ermittlungsbefugnissen auszustatten wie die Staatsanwaltschaft. Stellen mit solch weitreichenden Befugnissen finden sich beispielsweise bereits in Dänemark (Unabhängige Polizeibeschwerdebehörde) oder Nordirland (Polizeiombudsmann).
Auf den ersten Blick scheint ein solches Konzept zwar im Widerspruch zu stehen zum klassischen System der strafprozessualen Gewaltenteilung in Deutschland mit dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass es auch in Deutschland bereits begründete Abweichungen von diesem System gibt, die sich gut in das deutsche Strafprozessrecht eingefügt haben. So können etwa die Finanzbehörden gem. §§ 386, 399, 400 AO in Steuerstrafsachen oder die Zollbehörden gem. §§ 14a ff. SchwarzArbG bei Vorwürfen wegen § 266a StGB das Ermittlungsverfahren selbständig durchführen, dafür per Gesetzesverweis die der Staatsanwaltschaft zustehenden Rechte und Pflichten wahrnehmen und unter Umständen sogar selbst den Erlass eines Strafbefehls beantragen. Eine solche Rollenumverteilung lässt sich demnach bei entsprechender Regelung durchaus mit verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Vorgaben in Einklang bringen.
Für eine detaillierte Ausgestaltung einer derartigen Ermittlungsbehörde für Verfahren gegen Polizeibedienstete im Hinblick auf deren Dienstausübung müsste insbesondere über deren Zuständigkeit, institutionelle Anbindung, die Weisungsgebundenheit und etwaige Kontrollmöglichkeiten nachgedacht werden. Zudem wäre das Verhältnis zu Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafjustiz zu klären. Große Bedeutung kommt darüber hinaus Fragen von Finanzierung, Ausstattung und Personal zu. Eine entscheidende Weichenstellung wird in der Antwort auf die Frage liegen, welche Reichweite die von dieser Ermittlungsstelle zu treffenden Abschlussentscheidungen haben. Kann die Behörde ihre Ermittlungsergebnisse lediglich der Staatsanwaltschaft übergeben, kann sie damit eine konkrete Empfehlung verbinden, stehen ihr Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft zu oder kann sie sogar eigenständig die Abschlussentscheidung treffen und ggf. dem Strafgericht übermitteln? Eine derartige teilweise Durchbrechung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich möglich, wie der Blick auf die Strafbefehlsanträge der Finanzbehörden oder auch das Rechtsinstitut der Privatklage zeigt. Zu beachten bzw. zu normieren wäre dann, welche Auswirkungen die gewählte Variante auf die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft hat, die gegenüber den Finanzbehörden im Steuerstrafverfahren etwa dadurch gewahrt ist, dass sie das Verfahren jederzeit an sich ziehen kann (und somit zumindest das negative Anklagemonopol behält).
Effektivere Kontrollmechanismen auf zwei Ebenen nötig
Die Defizite der derzeitigen Bearbeitung polizeilichen Fehlverhaltens lassen sich innerhalb des bestehenden Regelungsrahmens nicht adäquat angehen. Vielmehr bedarf es neuer, effektiverer Kontrollmechanismen. Angesichts divergierender Ziele können und sollten solche Mechanismen auf zwei getrennten Ebenen parallel entwickelt werden: Einerseits können unabhängige Stellen außerhalb des Strafjustizsystems organisatorisches Fehlverhalten, strukturelle Missstände innerhalb der Polizei, behördliche Fehlerkultur und nicht-strafbare Sachverhalte in den Blick nehmen, dabei die Betroffenen und die Gesellschaft einbeziehen und Transparenz herstellen. Andererseits bedarf es grundlegenderer Reformen innerhalb des Strafjustizsystems im Hinblick auf Aufklärung und Verfolgung einschlägiger Verdachtssituationen. Dies könnte durch die Einrichtung einer eigenständigen Ermittlungsbehörde für Verfahren gegen Polizeibedienstete im Hinblick auf ihre Dienstausübung geschehen, die mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsbefugnissen ausgestattet, aber außerhalb von Polizei und Staatsanwaltschaft angesiedelt ist. Eine solche Konzeption hat Vorbilder nicht nur im europäischen Umland, sondern auch im deutschen Strafverfahren.
References
↑1 | Staatsanwaltschaftsstatistik 2022, Sachgebiet 53, Erledigungsart der Verfahren (nicht öffentlich). |
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