Verbundenheit als Grundlage der Verbindlichkeit demokratischer Politik
Die Einladung, aus Anlass des 80. Geburtstages von Ulrich K. Preuß die Frage zu diskutieren, ob das Volk ein „Problem“ der Demokratie sei, bedeutet für mich Freude, Ehre und Ansporn. Freude, weil aus den Diskussionen mit Ulrich K. Preuß über Fragen der Verfassungspolitik eine Freundschaft entstanden ist. Ehre, weil Ulrich K. Preuß mit seinen Ideen und Analysen immer wieder der Zeit voraus ist. Ansporn, weil eine Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten theoretische Reflexionen erfordert.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Text, mit dem Claudio Franzius, Isabelle Ley und Tine Stein das Thema dieses Online-Symposions „Das Volk – ein „Problem“ der Demokratie?“ erläutern. Danach ist für „den Grad der Freiheitlichkeit der Demokratie …das spezifische Verhältnis von Pluralität und Einheit“ entscheidend. „Nur wenn die Pluralität alternativer politischer Artikulationen offen gehalten wird, ist der Anspruch allgemeinverbindlicher und einheitlicher Rechtssetzung und –anwendung weder autoritär noch paternalistisch.“ Es ist die Prämisse dieser Aussage, dass nach einer verbindlichen Rechtssetzung alternative politische Ideen, Interessen oder Problemlösungen weiterhin die Chance der Verwirklichung besitzen müssen, wenn es sich um eine demokratische Entscheidung handeln soll. Inwieweit trifft diese Prämisse in der Realität zu?
Mögliche Zukünfte der Gesellschaften wurden in vielen westlichen Demokratien etwa in den USA, in Großbritannien und auch in Deutschland durch die Reaktionen der Regierungen auf die Globalisierung in einem qualitativ neuen Maß gerade nicht offen gehalten. Wir erleben vielmehr irreversible Folgen kollektiv verbindlicher Entscheidungen demokratisch gewählter Regierungen. Und zwar nicht nur in dem Sinn, dass die in Gang gesetzten Prozesse in der Natur ab einem gewissen Punkt nicht oder nur schwer rückgängig zu machen sind, sondern auch in dem Sinn, dass die Entscheidungen Strukturen schaffen, die zukünftiges Handeln langfristig steuern. Die repräsentative Demokratie ist durch Entscheidungen, die sie systematisch in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken und zu einer Entfremdung eines Teiles der Bürger führen, in eine tiefe Krise geraten. Am Beispiel der Entwicklung der Demokratie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werde ich diese Problematik skizzieren und anschließend zeigen, welche Hinweise wir aus den zukunftsweisenden Arbeiten von Ulrich K. Preuß für eine Perspektive zur Überwindung der Krise der repräsentativen Demokratie gewinnen können.
Die Nationalstaaten haben auf den rasanten sozio-ökonomischen Wandel seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts häufig mit einer Politik der Anpassung an den Markt reagiert. Deregulierung und Liberalisierung, Senkung der Kapitalertrags- und der Körperschaftssteuer seien als Stichworte genannt. Auch internationale Institutionen wie der IWF und die Weltbank haben sich diesem Konzept verschrieben und „den Aspekten Gerechtigkeit, Beschäftigung und Wettbewerb, der Geschwindigkeit und Reihenfolge von Reformen oder auch der Frage, wie Privatisierungen umgesetzt werden sollten, zu wenig Beachtung geschenkt“ (Joseph Stiglitz, Die Chancen der Globalisierung, 2006, S.37). Die Folgen der Globalisierung erhielten durch diese politischen Entscheidungen demokratischer Regierungen eine bestimmte Richtung. Sie sind mit einer ungleichen Verteilung von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften verbunden. Thomas Piketty hat gezeigt, dass die Kapitalrendite schneller wächst als die Gesamtwirtschaft. Dieser Mechanismus müsse im Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung der Vermögen gesehen werden (Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, 2014, S. 583-584).
Wie soll die Richtung dieser Entwicklung noch geändert werden? Ein möglicher Weg zur Rückgewinnung von politischer Handlungsfähigkeit ist die Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Es gehört zu den Versprechen der europäischen Integration, man könne gemeinsam den negativen Folgen der Globalisierung Paroli bieten und mit europäischer Politik die Macht global wirkender privater Akteure im Interesse des Gemeinwohls regeln. Freilich ist die Frage von Gertrude Lübbe-Wolff sehr berechtigt, ob die EU wirklich vor transnationalen Akteuren schütze oder nicht vielmehr den Spekulationen transnationaler Finanzmarktakteure „ein besonders lukratives Betätigungsfeld“ biete (Gertrude Lübbe-Wolff, Die Zukunft der europäischen Verfassung, 2018, S. 150). Eine gemeinwohlverträgliche Regulierung des globalen Finanzkapitalismus ist auch durch die europäische Politik bisher nicht gelungen. Die Gesellschaften in repräsentativen Demokratien entfernen sich immer mehr von einer erfolgreichen Selbststeuerung und sind durch festgelegte Strukturen in ihrer Lern- und Handlungsfähigkeit eingeschränkt.
Die Rolle, die das Recht bei der Entwicklung zu immer größerer Ungleichheit spielt, analysiert Katharina Pistor in ihrem neuen Buch „The Code of Capital.“ Nach ihrer Analyse sind es nicht die Güter selbst, sondern erst ihre rechtliche Codierung, die die Inhaber bestimmter Güter vor Nachteilen bei wirtschaftlichen Schwankungen schütze, ihren Reichtum auf Dauer stelle und die Basis für nachhaltige Ungleichheit schaffe (Katharina Pistor, The Code of Capital, 2019, S. 6). Die Codierung finde in privaten Anwaltskanzleien statt, deren Freiheit in der rechtlichen Gestaltung der Eigentumsrechte vom Staat unterstützt werde. „The common depictions of law as stable, almost sacrosanct, immunize from the public eye the work that is done more and more in private law firms, and less and less in parliaments or even courtrooms” (Ebd., S. 20). Die Bausteine der Codierung sind das Vertrags-, Eigentums-, Sicherheiten-, Körperschafts-, Trust- und Insolvenzrecht. Sie verleihen den Vermögen bestimmte Eigenschaften, die den Inhabern dieser Vermögen Vorteile wie Priorität bei konkurrierenden Ansprüchen, Dauerhaftigkeit, Universalität und Konvertibilität des Kapitals gewähren (Ebd., S. 3ff.). Das auf diese Weise entstehende Recht verfügt zwar weltweit über einheitliche Merkmale. Es ist aber kein Recht im Interesse der Allgemeinheit.
Entscheidend für die Freiheitlichkeit der Demokratie ist daher nicht so sehr ein spezifisches Verhältnis von Pluralität und Einheit, sondern ein spezifisches Verhältnis von Pluralität und Allgemeinheit. Mit dem Begriff der Allgemeinheit lässt sich besser als mit dem Begriff der Einheit zum Ausdruck bringen, dass demokratische Repräsentation ein Prozess sein sollte, in dem die gewählten politischen Eliten im Austausch mit den Bürgern und in demokratischen Verfahren das allgemeine Interesse in verbindliche Beschlüsse fassen. In einer repräsentativen Demokratie müssen die Bürgerinnen und Bürger die Chance haben, ihre unterschiedlichen Ideen und Interessen in der Öffentlichkeit wirkungsvoll zu diskutieren und auch Konflikte zur Sprache zu bringen. Die politisch verantwortlichen Eliten wiederum sollten diese Ideen, Interessen und Konflikte kennen und bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen.
Die Aufgabe der gewählten Repräsentanten ist es jedoch nicht, die Vielfalt von Interessen, Ideen und Bedürfnissen der Bürger unverändert in politische Entscheidungen umzusetzen. „Repräsentationsfähigkeit“, so Ulrich K. Preuß 1996 in einem Vortrag beim Alternativen Juristinnen- und Juristentag, „bedeutet vielmehr das ganze Gegenteil, nämlich die Erzeugung von Allgemeinheit. Dies ist ein Prozess der Überführung der lebensweltlichen Erfahrungen und Konflikte der Bürger in die Handlungs- und Organisationsstrukturen des Staates“ (Ulrich K. Preuß, Wo bleibt das Volk? Erwartungen an demokratische Repräsentation, 1996, S. 96). Diese Allgemeinheit gilt es, in der öffentlichen Auseinandersetzung immer wieder neu zu erarbeiten. „Die Gewähr für ‚richtige‘ und ‚gute‘ Politik finden wir in keiner außerhalb der Politik sich anbietenden Wahrheit oder Objektivität, sondern allein in der diskursiven und rationalisierenden Qualität des politischen Prozesses selbst. Er erzeugt repräsentative Herrschaft, soweit er Verbundenheit als Bedingung der Legitimität von Verbindlichkeit herstellt“ (Ulrich K. Preuß, Wo bleibt das Volk? 1996, S. 98, Hervorhebungen im Text).
Diesen Gedanken machen Claudio Franzius und Ulrich K. Preuß auch für die europäische Integration fruchtbar. Für die Bildung einer europäischen Identität, so das Argument, müsse man die Unterschiede zwischen den nationalen Identitäten anerkennen und „gleichzeitig im Verhältnis untereinander ein Wir schaffen“ (Claudio Franzius, Ulrich K. Preuß, Die Zukunft der europäischen Demokratie, 2012, S. 71). Die europäische Identität entstehe in einem „Interaktionsprozess“ zwischen individuellen und kollektiven Akteuren in gemeinsamen Projekten oder in Kommunikationen und Konflikten über unterschiedliche Ziele der europäischen Integration. Hier haben wir sie also wieder: die Verbundenheit zwischen den Bürgern, die sich in öffentlichen Debatten und Projekten entwickelt, und erst die Legitimität für die Verbindlichkeit des europäischen Regierens erzeugt.
Mit seinen wichtigen Beiträgen zum Zusammenhang von Verbundenheit und Verbindlichkeit hat Ulrich K. Preuß sehr früh den kontinuierlichen öffentlichen Austausch zwischen Eliten und Bürgern in den Mittelpunkt der repräsentativen Demokratie gestellt. Repräsentation gründet in der Verbundenheit – nicht in der Einheit – zwischen Repräsentanten und Repräsentierten als Grundlage eines allgemeinen Interesses. Verbundenheit entsteht in der gleichen Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger mit all ihren Unterschieden an der öffentlichen Willensbildung. Diese Erkenntnis von Ulrich K. Preuß hat die Praxis nicht angeleitet. Die auf demokratische Repräsentation zielende Frage „Wo bleibt das Volk?“ wurde verdrängt. Zu spät erkennen wir nun, dass ein Teil der Bürger sich nicht mehr repräsentiert fühlt und auch nicht mehr repräsentiert ist (Martin Gillens, Affluence & Influence. Economic Inequality and Political Power in America, 2012. Für Deutschland wurde ebenfalls eine Schieflage politischer Repräsentation nachgewiesen: Lea Elsässer, Svenja Hense, Armin Schäfer, „Dem deutschen Volke“? Die ungleiche Responsivität des Bundestags, 2017). Populisten nutzen dies aus und behaupten, sie allein repräsentierten die Einheit des Volkes.
Nicht um die Einheit des Volkes, sondern um die Vielheit und die Verschiedenheit der einzelnen Individuen ging es nach der Interpretation von Ulrich K. Preuß auch in den friedlichen Revolutionen des Jahres 1989. „Wir sind das Volk“ – dieser Ruf der tatsächlich versammelten und körperlich anwesenden Menge war daher auch der Aufstand „der Leute“ gegen „das Volk“, der Widerstand einer Vielzahl von einzelnen und verschiedenen Menschen gegen ihre Zwangsvereinigung im Namen einer kollektiven Vernunft“ (Ulrich K. Preuß, Fortschritt und Volk im Kampf um Souveränität, 1990, S. 47). Hier zeigt sich nicht nur ein neues Verständnis des Volkes in seiner Heterogenität, sondern auch ein Konzept von Öffentlichkeit, das den von Hannah Arendt betonten und immer wichtiger werdenden Zusammenhang von persönlicher Anwesenheit und politischer Wirksamkeit öffentlicher Debatten in den Mittelpunkt stellt (The Human Condition, 1998, S. 57).
Die Revolutionen von 1989 beinhalteten nach den Analysen von Ulrich K. Preuß auch ein neues Verständnis von Fortschritt und Verfassung. Nach diesem Verständnis sei die Vernunft als Motor des Fortschritts nicht mehr an ein historisches Subjekt gebunden. Sie erweise sich vielmehr in der Reflexion einer Gesellschaft über ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung. Verfassungen institutionalisierten diesen Prozess der Reflexion. In den friedlichen Revolutionen sei die Idee des Fortschritts wieder stärker ins Bewusstsein gerückt. Die Revolutionen „können uns daran erinnern, dass der Fortschritt zuallererst eine moralische Idee ist, die uns wieder bewusst macht, dass das „Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren“ heute vor allem in der Reflexion dieses Vermögens liegt“ (Ulrich K. Preuß, Zu einem neuen Verfassungsverständnis, 1990, S. 87-89).
Nimmt man die drei Gedankenstränge zusammen: die demokratische Repräsentation als kontinuierlichen Interaktionsprozess zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, das Volk als eine Vielheit individueller Menschen mit unterschiedlichen Ideen und Interessen und schließlich den Fortschritt als Reflexion unseres Vermögens, zerstörerischen Entwicklungen politisch entgegenzuwirken, dann stellt sich die Frage, wie wir im Prozess der Globalisierung und im Rahmen langfristig festgelegter Strukturen noch zu einer Verbundenheit zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten finden können. Anders formuliert: Wie lässt sich Verbundenheit als Voraussetzung der Legitimität von Verbindlichkeit unter den Bedingungen von zunehmender Differenz und eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Politik erzeugen?
Diese Frage ist letztlich eine Frage nach den kulturellen Voraussetzungen der repräsentativen Demokratie (Christine Landfried, Robert Post, Schluss mit den Schönfärbereien, 2017, S.11).
Die Arbeiten von Ulrich K. Preuß mit ihrer Fokussierung auf den Zusammenhang von Verbundenheit und Verbindlichkeit lassen sich als Begründung für die Bedeutung der kulturellen Voraussetzungen von Demokratien lesen. Denn ohne Vertrauen, Empathie und die Fähigkeit zur Kooperation bildet sich keine Verbundenheit zwischen den Repräsentierten und den Repräsentanten. Die kulturellen Grundlagen wiederum hängen mit der sozio-ökonomischen Situation zusammen. Wer in den politischen Entscheidungen über einen langen Zeitraum mit seinen Interessen nicht repräsentiert ist, wendet sich vom politischen Geschehen ab oder wählt Protestparteien. Diese ökonomische Basis der kulturellen Voraussetzungen demokratischen Regierens wird noch immer unterschätzt.
Um die Krise der repräsentativen Demokratie zu überwinden, sind also zwei Aspekte wichtig. Zum einen muss der Finanzkapitalismus politisch wirksam reguliert werden, um langfristig die ökonomische Ungleichheit mit ihrer zerstörerischen Kraft für den Zusammenhalt von Gesellschaften zu bekämpfen. Diese schwierige Aufgabe ließe sich nur im Zusammenspiel von nationaler, europäischer und internationaler Politik in Angriff nehmen. Zum anderen sollten die Bürgerinnen und Bürger neue Möglichkeiten der politischen Beteiligung bekommen, um die entstandene Kluft zwischen Eliten und einem Teil der Bürger zu verringern.
Ulrich K. Preuß steht Verfahren der direkten Demokratie skeptisch gegenüber. Aber vielleicht leuchtet ihm eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch neue Räume zur Reflexion der Bürger über die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik ein. Zu denken wäre hier an Bürgerräte, in denen durch das Zufallsprinzip ausgewählte Bürger zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen Lösungsvorschläge erarbeiten und mit ihrer Expertise an der politischen Willensbildung teilnehmen (Patrizia Nanz, Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, 2018, S. 84). Warum nicht mit den theoretischen Argumenten von Ulrich K. Preuß über die institutionellen Arrangements der repräsentativen Demokratie hinausgehen?