Eingezäunte Freiheit
Zur Verfassungswidrigkeit des faktischen Freiheitsentzugs von Geflüchteten in Aufnahmeeinrichtungen
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) umgesetzt werden soll. Dass es sich hierbei nicht lediglich um eine Umsetzung, sondern vielmehr um eine Verschärfung handelt, wurde bereits hier festgestellt. Der Entwurf sieht eine grundlegende Umstrukturierung der deutschen Flüchtlingsaufnahme vor. So sollen etwa eigene Zentren für Sekundärmigrant*innen geschaffen werden. Darüber hinaus soll die zuständige Behörde in sämtlichen Aufnahmeeinrichtungen zudem die Entscheidung treffen können, dass die Geflüchteten diese für bis zu ein Jahr nicht mehr verlassen dürfen. Die Pläne wecken nicht nur Assoziationen an die amerikanische Migrationspolitik, sie sind auch verfassungsrechtlich nicht haltbar.
Keine Freiheitsbeschränkung, sondern Freiheitsentzug
Die Bundesregierung plant parallel zum (ebenfalls im Entwurf ausgeweiteten) Flughafenverfahren einen Freiheitsentzug während des Asylverfahrens. Für die Zeit der gesetzlichen Wohnverpflichtungen in Aufnahmeeinrichtungen sollen die Behörden entscheiden können, ob Geflüchtete verpflichtet werden, die Aufnahmeeinrichtung nicht zu verlassen, sofern „Fluchtgefahr“ vorliegt oder dies aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich sei. Als Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nennt die Entwurfsbegründung dabei „die Einhaltung von Verteilentscheidungen oder die zügige Durchführung des Asylverfahrens“ (Entwurfsbegründung, S. 138). Diese Aufenthaltsanordnungen können bis zu ein Jahr andauern. Sie sollen zwar durch Einzelfallentscheidungen unter Berücksichtigung besonderer Umstände erfolgen, können aber potentiell alle Geflüchteten im Asylverfahren, also auch Kinder, treffen (Art. 2 Nr. 72 § 68, 68a Entwurf). Für Kinder und deren Familien sowie für nicht vollziehbar Ausreisepflichtige dürfen die Anordnungen nur von 22 bis 6 Uhr getroffen werden (Art. 2 Nr. 72 § 68 Abs. 4 und § 68a Abs. 4 Entwurf), für vollziehbar Ausreisepflichtige ohne zeitliche Beschränkung. Vollziehbar ausreisepflichtig sind dabei auch sämtliche Menschen mit Duldung, das heißt, derzeit etwa 181.500 Personen. Falls die Geflüchteten sich den Anordnungen widersetzen, folgen Kürzungen in der Existenzsicherung, bis die „Leistungsberechtigten ihre Pflichten gemäß der Anordnung […] erfüllen“ (Art. 4 Nr. 2 Entwurf). Außerdem stellt der Verstoß gegen die Anordnungen einen Grund zur Inhaftnahme dar (Art. 2 Nr. 72 § 69 Abs. 1 Nr. 2 Entwurf).
Diese behördliche Entscheidungsmöglichkeit ist mit dem Richtervorbehalt nach Art. 104 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Art. 104 GG schreibt formelle und materielle Anforderungen an Freiheitsbeschränkungen vor und konkretisiert insofern Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Er unterscheidet dabei zwischen Freiheitsbeschränkungen, Art. 104 Abs. 1 GG, und Freiheitentzug, Art. 104 Abs. 2 GG. Während die einfache Freiheitsbeschränkung durch ein verhältnismäßiges Gesetz normiert werden kann, Art. 104 Abs. 1 GG, unterliegt der Freiheitsentzug nach Art. 104 Abs. 2 GG einem Richtervorbehalt: Es muss ein Richter über einen Freiheitsentzug entscheiden. Diese verfahrensrechtliche Garantie steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers (BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 – Rn. 93). Die Bundesregierung meint nun in dem Gesetzesentwurf, dass es sich nicht um einen Freiheitsentzug handele, da „der erfasste Personenkreis nicht mit Zwangsmaßnahmen daran gehindert [wird], den bestimmten Ort zu verlassen“ und ebenfalls kein „psychisch vermittelter Zwang, der einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang gleichkommt“, vorliege (Entwurfsbegründung, S. 135).
Diese Einschätzung greift zu kurz. In der praktischen Umsetzung des Gesetzes ist eine Aufenthaltsbeschränkung ohne Zwangsmaßnahmen nur schwer vorstellbar. Aufnahmeeinrichtungen sind schon jetzt in aller Regel durch Zäune umschlossen, die Eingänge werden von Sicherheitspersonal überwacht. Wie genau nun eine Aufenthaltsbeschränkung ohne Kontrolle der Geflüchteten, etwa zur Überprüfung der im Entwurf genannten Ausnahmen der Beschränkung, stattfinden soll (zum Beispiel Behördengänge oder eine individuelle Erlaubnis, Art. 2 Nr. 72 § 68 Abs. 5, § 68 a Abs. 2), ist nicht ersichtlich. Kann das Sicherheitspersonal noch die Anweisung erhalten, alle Geflüchteten ohne Kontrolle rauszulassen, trifft die Geflüchteten spätestens bei der Rückkehr in die Aufnahmeeinrichtung die Sanktion. Dass hier kein verdichteter psychischer Zwang entsteht (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 – Rn. 246), die Aufnahmeeinrichtung nicht zu verlassen, lässt sich schwer vorstellen (so auch hier bereits argumentiert). Vielmehr gleicht die Situation mindestens einem Hausarrest, der nach der Rechtsprechung des EGMR einen Freiheitsentzug darstellen kann – und damit einem Richtervorbehalt unterliegt (EGMR, Urt. d. Großen Kammer v. 05.07.2016, Buzadji/Moldau, Rn. 103f., 113, hudoc). Dabei kommt es bei der Definition des Freiheitentzugs auf die Art und Schwere der Freiheitsbeschränkung an, etwa auf die Dauer, das Maß der Überwachung oder darauf, wie eng begrenzt der Aufenthaltsbereich ist (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 – Rn. 250; EGMR, Urt. d. Großen Kammer v. 05.07.2016, Buzadji/Moldau, Rn. 113, hudoc). Eine bis zu einem Jahr andauernde Pflicht, die Aufnahmeeinrichtung nicht zu verlassen, unter dauernder Überwachung durch Sicherheitspersonal und damit verbundenen Sanktionen, stellt allein schon zeitlich eine extreme Beschränkung der Freiheit dar. Der Grundrechtseingriff dürfte auch über einen Hausarrest hinausgehen. Die vorgesehene Freiheitsbeschränkung beschränkt sich nicht auf die eigenen vier Wände. Auch wenn Aufnahmeeinrichtungen von Art. 13 GG geschützt sind (BVerwG, Urt. v. 15.06.2023 – 1 C 10.22), bieten sie doch erheblich weniger eigene Gestaltungsmöglichkeiten: In der Regel haben die Geflüchteten dort keine eigenen Zimmer, keine Rückzugsorte, keine Ruhebereiche.
An dieser Bewertung ändert auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über den Freiheitsentzug im Flughafenverfahren nichts, denn sie betrifft eine grundlegend andere Konstellation. Beim Festhalten im Transitbereich von Flughäfen im Rahmen des Flughafenverfahrens, § 18a AsylG, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Schutzbereich des Freiheitsentzugs bzw. der Freiheitsbeschränkung nicht eröffnet ist, da für die Asylantragsstellenden die theoretische Möglichkeit der Ausreise besteht (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93 – Rn. 116, juris). Diese Rechtsprechung ist hier jedoch nicht anwendbar. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Flughafenverfahren basiert auf der sogenannten Fiktion der Nicht-Einreise. Insofern als Geflüchtete im Transitbereich noch nicht die Grenzübergänge überschritten haben, ist die aus dem Festhalten im Transitbereich „folgende Einschränkung der Bewegungsfreiheit […] nicht Folge einer der deutschen Staatsgewalt zurechenbaren Maßnahme“ (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93 – Rn. 116, juris). Diese Argumentation ist weder auf die Situation von Sekundärmigrant*innen noch auf alle sonstigen Asylantragstellenden übertragbar: Sie alle haben deutsches Territorium betreten und einen Asylantrag gestellt.
Unverhältnismäßigkeit: Mangelnde Erforderlichkeit
Selbst wenn man von einer Freiheitsbeschränkung nach Art. 104 Abs. 1 GG und keinem Freiheitsentzug ausgehen würde, wäre das Gesetz in der Entwurfsfassung aber unverhältnismäßig. Über die zutreffenden und bereits genannten Gründe hinaus ist dabei noch zu beachten, dass sich für die Verhältnismäßigkeit in der derzeitigen Entwurfsfassung ein Problem der Erforderlichkeit ergeben dürfte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Freiheitsentzüge bzw. -beschränkungen nur als letztes Mittel gesetzlich vorzusehen und nur, wenn mildere Mittel nicht in Betracht kommen (BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 – Rn. 80). Insbesondere vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots dürfen die Grenzen der Freiheitsbeschränkung nicht lediglich in das Ermessen der Behörden gestellt werden, sondern müssen gesetzlich bestimmt sein (BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 – Rn. 77). Diese Erfordernisse intensivieren sich mit dem Grad der Grundrechtseingriffe (Gusy, in: Huber/Voßkuhle, Grundgesetz, 8. Auflage 2024, Rn. 27). Bei einem Verbot, Aufnahmeeinrichtungen für bis zu ein Jahr nicht zu verlassen, ist der Eingriff besonders gravierend. Gesetzlich müsste die Möglichkeit zur behördlichen Aufenthaltsanordnung daher vorsehen, dass diese nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf und nur, wenn mildere Mittel, wie etwa die ebenfalls vorgesehenen regelmäßigen Meldepflichten bei Behörden (Art. 2 Nr. 72 § 68 Abs. 6 Entwurf), nicht in gleicher Weise geeignet sind, das Asylverfahren durchzusetzen (vgl. hierzu die Regelung zur Abschiebehaft, § 62 Abs. 1 S. 1 AufenthG). Zudem wird schon jetzt die Existenzsicherung im AsylbLG eingeschränkt, sobald Geflüchtete vollziehbar ausreisepflichtig sind, § 1a Abs. 1 AsylbLG, oder, sofern sie ihre Mitwirkungspflichten verletzen, § 1a Abs. 5 AsylbLG. Welchen Mehrwert eine Freiheitsbeschränkung zur Durchsetzung asylverfahrensrechtlicher Pflichten hier bringen soll, bleibt mit Blick auf den eklatanten Grundrechtseingriff durch die Aufenthaltsanordnungen erklärungsbedürftig. Sofern andererseits eine physische Barriere bestünde, die tatsächlich einen gesteigerten Zugriff auf die Geflüchteten erlaubt, würde es sich jedoch entgegen der Aussagen des Gesetzentwurfs eben doch um einen klassischen Freiheitsentzug handeln. Hier beißt sich die Katze also in den Schwanz.
Impraktikabilität
Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Bewertung wäre der Betrieb solcher Einrichtungen impraktikabel. Zunächst geht mit der Verpflichtung zu begründeten Einzelfallentscheidungen über die Aufenthaltsbeschränkung und deren beantragte Ausnahmen erneut ein erhöhter Verwaltungsaufwand für die Unterbringungsbehörden einher, den die Regierung selbst nicht einzuschätzen vermag (Entwurfsbegründung, S. 85). Dazu kommt, dass der Betrieb der Aufnahmeeinrichtungen mit faktischem Freiheitsentzug verfassungsrechtlich nicht durch private Anbieter erfolgen dürfte. Auch wenn dieser Gesetzesentwurf stark an Trump‘sche Zustände erinnert: Anders als in den USA können in Deutschland Haftanstalten nicht einfach von privaten Dienstleistern betrieben werden. Der schnellen Etablierung einer Industrie für Abschiebezentren, wie sie sich unter Trump formiert, stehen in Deutschland die Vorgaben des Grundgesetzes entgegen. Denn Aufnahmeeinrichtungen, die so gravierende Grundrechtseingriffe durchsetzen, müssten nach Art. 33 Abs. 4 GG in der Regel von Angehörigen des öffentlichen Dienstes betrieben werden. Der sogenannte Funktionsvorbehalt schützt vor einer umfassenden Privatisierung der Sicherheit und einem Outsourcing von staatlichen Hoheitsrechten in Deutschland. Deshalb werden Gefängnisse von Justizvollzugsbeamten betreut und grundrechtsintensive Sicherheitsmaßnahmen von Polizeivollzugsbeamten ausgeführt. Sofern die Aufnahmeeinrichtungen insgesamt von der intensiven Freiheitsbeschränkung durch die Aufenthaltsanordnungen geprägt werden, würde der Funktionsvorbehalt für sämtliche Akteure in den Aufnahmeeinrichtungen gelten, die Grundrechtseingriffe vornehmen, das heißt, sowohl für die Sicherheitsdienste als auch für das Leitungspersonal (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.01.2012 – 2 BvR 133/10 – Rn. 153). Ausnahmen sind möglich („in der Regel“), allerdings müssen diese sachlich begründet werden (BVerfG, Urt. v. 18.01.2012 – 2 BvR 133/10 – Rn. 146). Der sachliche Grund kann nicht allein in fiskalischen Erwägungen liegen (BVerfG, Urt. v. 18.01.2012 – 2 BvR 133/10 – Rn. 147). Die Aufnahmeeinrichtungen mit Freiheitsentzug könnten also nicht allein deshalb von privaten Akteuren betrieben werden, weil dies kostengünstiger als der Betrieb mittels Angestellter des öffentlichen Dienstes ist. Zudem müsste eine umfassende gesetzliche Beleihung erfolgen, also eine gesetzliche Übertragung hoheitlicher Befugnisse. Diese müsste hinreichend bestimmt erfolgen (pauschale Bevollmächtigungen reichen nicht aus) und Aufsichtsbefugnisse durch staatliche Behörden normieren, um die demokratische Legitimationskette aufrechtzuerhalten (BVerfG, Urt. v. 18.01.2012 – 2 BvR 133/10 – Rn. 166). Es wäre demnach verfassungsrechtlich nicht möglich, dass die Behörden wie derzeit den Betrieb der Aufnahmeeinrichtungen schlicht an private Dritte outsourcen. Die konkrete Ausgestaltung der Aufnahmeeinrichtungen ist Sache der Länder; diese müssten also entweder den Betrieb der Aufnahmeeinrichtungen durch Beamte vorschreiben oder eine umfassende gesetzliche Beleihung auf den Weg bringen, um die Verfassungsmäßigkeit des Betriebs sicherzustellen. Der Gesetzentwurf selbst geht auf diese Erfordernisse nicht ein.
Verschärfung auf Kosten des Rechtsstaats
Die geplanten Änderungen verschärfen damit nicht nur ein weiteres Mal das Migrationsrecht, sie bilden migrationsfeindliche Debatten sogar semantisch ab: Das AsylG soll nunmehr nicht von „Asylantragstellenden“, sondern nur noch von „Ausländern“ sprechen. Die deutsche Flüchtlingsaufnahme entfernt sich erneut weiter von ihren gewährleistungsrechtlichen Gehalten und folgt stattdessen rein ordnungspolitischen Prämissen. Es bleibt abzuwarten, wie die Bundesregierung die Vereinbarkeit des Entwurfs mit Verfassungsrecht und den massiven Bürokratieaufwand dieser Einrichtungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren begründen will. Ihr ist jedenfalls anzuraten, sich auf die Werte des demokratischen Rechtsstaats, zu denen der Richtervorbehalt gehört, zu besinnen. Der vorgesehene Abbau von Rechtsstaatlichkeit betrifft eines der ältesten Rechte liberaler Gewaltenteilung: Kein Freiheitsentzug ohne richterliche Entscheidung.