Vollmilch für alle – zumindest auf Bundesebene
Als ich letzten Samstag nach zehn intensiven Tagen Berlin in New York aus dem Flugzeug stieg, hatte sich das Land verändert. Eine 83jährige New Yorkerin hat ein Bundesgesetz zu Fall gebracht, das es den Bundesbehörden verbot, nach bundesstaatlichem Recht geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen als Ehen zu behandeln: den Defense of Marriage Act (DOMA, 1996). Damit ist es vorbei mit der „skim milk marriage“, die Richterin Ginsburg bemängelt hatte, zumindest auf Bundesebene. Wer weiß, vielleicht standen in der Einreiseschlange mit mir ausländische Ehepartner von US-Amerikanern, die nun endlich eine Aufenthaltserlaubnis bekommen können? Das Urteil ist in prozeduraler Hinsicht ebenso interessant wie in materieller Hinsicht, denn es geht, wie so oft in den USA, nicht allein um Grundrechte, sondern wesentlich auch um Gewaltenteilung und Föderalismus.
Über die Umstände des Falls habe ich schon berichtet: Edith Windsor und Thea Spyer lernten sich vor 50 Jahren in New York kennen; 1967 verlobten sie sich, ein Versprechen das sie erst 40 Jahre später einlösen konnten – in Kanada, da New York die Ehe erst 2013 öffnete. Als Spyer 2009 starb, wurde Windsor wegen § 3 DOMA nicht als „surviving spouse“ behandelt, sondern musste $363.053 an den Bund abgeben. Sie klagte, doch noch während die Sache beim District Court anhängig war, und bevor irgendein Gericht je das Gesetz für verfassungswidrig erklärt hätte, verkündete das Justizministerium in einem „§530D letter“, dass es DOMA nicht weiter verteidigen werde: „[T]he President has concluded that given a number of factors, including a documented history of discrimination, classifications based on sexual orientation should be subject to a heightened standard of scrutiny.“ Sowohl der Disctrict Court als auch der Court of Appeal – der gar den verschärften Prüfungsmaßstab anwandte – erklärten § 3 DOMA für verfassungswidrig.
Keine „second-tier marriage“
Das befand auch der Supreme Court, angeführt von Anthony Kennedy, demselben von Präsident Reagan benannten Richter, der schon die Urteile in Sachen Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (Romer v. Evans) und Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Sexualität (Lawrence v. Texas) schrieb. Auch hier findet Kennedy wieder starke Worte, die nur ein ganz klein bisschen in seine oft belächelte pathetische Schwurbeligkeit abrutschen:
DOMA undermines both the public and the private significance of state-sanctioned same-sex marriages; for it tells those couples, and all the world, that their otherwise valid marriages are unworthy of federal recognition. This places same-sex couples in an unstable position of being in a second-tier marriage. The differentiation demeans the couple, whose moral and sexual choices the Constitution protects, see Lawrence, 539 U. S. 558, and whose relationship the State has sought to dignify. And it humiliates tens of throusands of children now being raised by same-sex couples. The law in question makes if even more difficult for the children to understand the integrity and closeness of their own family and its concord with other families in their community and in their daily lives.
DOMAs wesentlicher Zweck sei die Herabwürdigung gleichgeschechtlicher Paare und der Entzug der Freiheit, die der Fünfte Zusatzartikel der Bundesverfassung schützt, sowie eine Verletzung der daraus abgeleiteten Gleichheitsgarantie.
The federal statute is invalid, for no legitimate purpose overcomes the purpose and effect to disparage and to injure those whom the State, by its marriage laws, sought to protect in personhood and dignity.
Diese Zitate finden sich auf den letzten Seiten des Urteils – davor geht es emphatisch und ausdauernd um das Recht der Bundesstaaten, die Ehe zu definieren, und darum, dass sich der Bund da herauszuhalten habe. 12 Staaten und Washington D.C. haben es innerhalb der letzten zehn Jahre gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglicht, „to affirm their commitment to one another before their children, their family, their friends, and their community.“ Der Bund könne zwar hier und da einmal hineinregieren, z.B. Scheinehen nicht für Einreisezwecke anerkennen oder die Anerkennung von Common-law-Ehen erfordern, aber ohne Bindung an einen Regelungsgegenstand eine spezifische Gruppe von allen Rechten auszuschließen, könne keinen Bestand haben: „DOMA writes inequality into the entire United States Code.“ Über 1000 Gesetze und Verordnungen sind betroffen.
„Moral disapproval“ ist keine Rechtfertigung
Der Gesetzgeber selbst hat es Kennedy einfach gemacht; der Bericht des House of Representatives ist voller abfälliger Seitenhiebe gegen gleichgeschlechtliche Ehen (DOMA zeigt „both moral disapproval of homosexuality, and a moral conviction that heterosexuality better comports with traditional (especially Judeo-Christian) morality“), und selbst der Name des Gesetzes („Gesetz zur Verteidigung der Ehe“) spricht für sich. Der Hauptzweck des Gesetzes sei es, Ungleichheit zu verhängen. Kennedys Argument basiert auf Romer v. Evans, wo der Supreme Court – kurz bevor DOMA verabschiedet wurde – ein verfassungsänderndes Referendum gegen Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Orientierung mit diesen Worten für verfassungswidrig erklärte: „Its sheer breadth is so discontinuous with the reasons offered for it that the amendment seems inexplicable by anything but animus toward the class that it affects; it lacks a rational relationship to legitimate state interests“ (meine Hervorhebung).
Richter Scalia will dies nicht gelten lassen. Hier gehe es doch nicht um die bösen Südstaaten. Dem Bundesgesetzgeber solche Vorwürfe zu machen, sei ungeheuerlich und erfordere weit mehr Beweise. Die Mehrheit habe die guten Gründe für das Gesetz bewusst verschwiegen, „because it is harder to maintain the illusion of the Act’s supporters as unhinged members of a wild-eyed lynch mob when one first described their views as they see them.“ Zum Beispiel stelle sich das Problem des Umzugs in einen Bundesstaat, der die Ehe nicht anerkennt (was nach wie vor möglich bleibt) – wie stehe es dann mit der Steuererklärung? Solche Fragen vermeide DOMA durch einen einheitlichen Status. Zudem stabilisiere es bestehende Anwendungsbereiche gegen „Experimente“ auf Staatenebene. Die Verteidigung der traditionellen Ehe sei nicht automatisch eine Herabsetzung anderer Modelle. Das Gericht verteufle seine Gegner: „It is one thing for a society to elect change; it is another for a court of law to impose change by adjudging those who oppose it hostes humani generis, enemies of the human race.“
Scalia und seinem Kollegen sind aber auch die dogmatischen Argumente zu dünn. Nach sieben Seiten zur Kompetenz der Bundesstaaten – „initially fooling many readers, I am sure, into thinking that this is a federalism opinion“ – wabere das Urteil irgendwo zwischen Substantive Due Process und Equal Protection Clause, also zwischen Freiheits- und Gleichheitsrecht. Für den bei den Konservativen verhassten Substantive Due Process aber – ein materiell aufgeladener Freiheitsschutz, der z.B. den Abtreibungsentscheidungen zugrunde liegt – fehle es an den Voraussetzungen, denn offensichtlich sei die gleichgeschlechtliche Ehe nicht „deeply rooted in this Nation’s history and tradition,“ noch sei sie „‘implicit in the concept of ordered libery,’ such that ‘neither liberty nor justice would exist if they were sacrificed’“ (so Washington v. Glucksberg). Und für die Gleichheit kläre das Urteil den Rechtsfertigungsstandard nicht – muss es aber aus meiner Sicht auch nicht, wenn es auf Romer beruht. Solche richterliche Zurückhaltung sollte Scalia und Alito doch eigentlich gefallen.
Kontroverse Einigkeit: Standing und Gewaltenteilung
Wie schon Hollingsworth v. Perry hat dieser Fall aber auch ein dickes Zulässigkeitsproblem. Hier ist es zugunsten der Klägerin ausgegangen. Zwei miteinander verbundene Fragen waren zu entscheiden: War der Bund klagebefugt? Und lag der Klage wirklich eine Kontroverse im Sinne des Artikels III §2 der Bundesverfassung zugrunde? Denn Kläger und Beklagte waren miteinander einig und mit den Urteilen der Untergerichte sehr zufrieden. Warum aber dürfen sie dann weiter durch die Instanzen gehen, wenn sie doch schon bekommen haben, was sie wollten?
Ganz einfach, sagt die Mehrheit, auch wenn der Bund das Gesetz ebenfalls für verfassungswidrig hält, schuldet er dennoch Windsor die zu Unrecht eingezogenen Steuern. Das sei ein ausreichender Nachteil. Und die Weigerung, diese zurückzuzahlen, genüge für einen justiziablen Disput. Damit musste die Mehrheit nicht entscheiden, ob die Vertreter und Vertreterinnen des House of Representatives (BLAG) stattdessen standing haben.
Die Mehrheit erwägt im Anschluss dennoch, ob sie aus prudential reasons (ich würde das frei übersetzen mit Zurückhaltung) den Fall trotz Zuständigkeit nicht entscheiden sollte. Dies empfehle sich dann, wenn es um abstrakte Fragen von großer öffentlicher Bedeutung gehe, für die andere staatliche Institutionen besser geeignet seien, und eine richterliche Intervention zum Schutz individueller Rechte nicht erforderlich sei. Hier sei, wie in Ashwander, insbesondere zu befürchten, dass eine Partei, die bei der Gesetzgebung unterlegen sei, versuche die Verfassungsfragen an die Gerichte weiterzugeben. Doch es gebe auch gute Gründe für eine Entscheidung: So verteidigten die amici curiae das Gesetz mit großer Verve, und es drohten umfangreiche Prozesse ohne Leitentscheidung, mit großen Kosten sowohl finanzieller Art als auch für die Rechte der Betroffenen, bis endlich ein Fall entstehe, der keine „prudential concerns“ aufwerfe. Da entscheide sie lieber jetzt.
Außerdem stehe die Gewaltenteilung in Frage, wenn der Präsident durch seine Meinungsänderung dem höchsten Gericht seine Zuständigkeit entziehen könne: „then the Supreme Court’s primary role in determining the constitutionality of a law […] would become only secondary to the President’s.“ Wenn ein Gesetz des Kongresses im möglichen Konflikt mit der Verfassung stehe, sei es „emphatically the province and duty of the Judicial Department to say what the law is“ (so schon Marbury v. Madison, allerdings selbst ein Fall zweifelhafter Zuständigkeit).
Solche Ausführungen machen einen Richter Scalia natürlich rasend. Seine abweichene Meinung ist voller wütender Kursivierungen wie dieser:
The court is eager—hungry—to tell everyone its view of the legal question at the heart of this case. Standing in the way is an obstacle, a technicality of little interest to anyone but the people of We the People, who created a barrier against judges’ intrusion into their lives.
„Say what the law is“? Das gelte vielleicht in Deutschland, aber in den USA sei der Supreme Court immer noch nur für streitige Fälle zuständig. Deswegen habe John Jay bereits 1793 eine Gutachtenanfrage George Washingtons „höflich zurückgewiesen“. Die Mehrheit vermische zudem auch noch Kontroverse und Klagebefugnis und richte absolutes „Chaos“ an. In seinem Zorn ist Scalia allerdings leider mit der Mehrheit nicht gerade gerecht, sondern verzerrt ihre Argumente so sehr, dass er sie dann mit Anlauf abwatschen kann; Chief Justice Roberts und Richter Alito liefern da etwas gemäßigtere Versionen.
What if he still doesn’t answer?
Das Problem aber ist wirklich nicht ganz ohne. Die Exekutive soll ein Gesetz ausführen, das sie für verfassungswidrig hält. Wenn sie das nicht tut, gibt es keine Klage. Wenn sie es tut (immerhin hat der Präsident die Aufgabe „to take Care that the Laws be faithfully executed“) und zugibt, dass sie das für falsch hält, soll es auch keine Klage geben. In einem Wahlsystem wie dem der USA hat die Exekutive aber leider oft keine ausreichende Mehrheit in der Legislative, so dass sie das Gesetz auch nicht ändern kann. Andersherum kann aber der Kongress die Exekutive zwingen zu parieren, indem er etwa Benennungen nicht bestätigt oder Budgetentscheidungen verweigert. Was passiert mit den Leuten, die währenddessen verfassungswidrig behandelt werden? Hierfür hat die Minderheit keine überzeugende Lösung.
Scalia sieht es so:
Where the Executive is enforcing an unconstitutional law, suit will of course lie; but if, in that suit, the Executive admits the unconstitutionality of the law, the litigation should end in an order or a consent decree enjoining enforcement. This suit saw the light of day only because the President enforced the Act (and thus gave Windsor standing to sue) even though he believed it unconstitutional.
Richtigerweise hätte er das lassen sollen, dann hätte es ein Tauziehen zwischen Parlament und Präsident gegeben, das über unzählige Mittel verfüge, ihn gefügig zu machen: „Our system is designed for confrontation. […] (Nothing says ‘enforce the Act’ quite like ‘… or you will have money for little else.’)“ Wenn es der Exekutive erlaubt sei, in solchen Fällen einfach vor Gericht zu ziehen, wachse der Judikative eine ungeheure Macht zu.
Scalias Vorschlag aber geht in die falsche Richtung, denn hier geht es ja nicht darum, dass der Präsident endlich DOMA umsetzt, sondern darum dass DOMA verfassungswidrig ist. Einen Punkt muss ich ihm dennoch zugestehen, um es mit Patrick Swayze zu sagen: „What if he still doesn’t answer?“ Was, wenn der Präsident sogar im Supreme Court verliert und trotzdem immer noch nicht folgt? Da hat Scalia dann tatsächlich die richtige Antwort: „Only Congress can bring him to heel by … what do you think? Yes: a direct confrontation with the President.“
Alito löst das eleganter. Er hätte dem Bund Klagebefugnis verweigert, aber BLAG als Partei zugelassen, da dieser Ausschuss des House of Representatives den Kongress vertreten kann. Damit gibt es dann auch wieder eine ganz normale Kontroverse, die das Gericht entscheiden kann.
Warten auf den zweiten Schuh
Am interessantesten lesen sich aber Scalias Ausführungen zu dem disclaimer, den die Mehrheit in ihren vorletzten Satz schreibt:
This opinion and its holding are confined to those lawful [state-sanctioned] marriages.
Das Urteil habe keinerlei Implikationen für die Entscheidung der einzelnen Bundesstaaten, die gleichgeschlechtliche Ehe zulassen oder nicht. Das, so Scalia, kennen wir schon aus Lawrence:
When the Court declared a constitutional right to homosexual sodomy, we were assured that the case had nothing, nothing at all to do with “whether the government must give formal recognition to any relationship that homosexual persons seek to enter.” […] Now, we are told that DOMA is invalid because it “demeans the couple, whose moral and sexual choices the Constitution protects,” […]—with an accompanying citation of Lawrence.
Auch diesmal müssten wir nur auf das Fallen des anderen Schuhs warten, ein hübscher Ausdruck, der darauf anspielt wie der Nachbar von oben nach Hause kommt; klong, der erste Schuh – wann kommt der unvermeidbare zweite, nach dem man endlich wieder Ruhe hat? Genauso unvermeidbar sei es, die Begründung der Mehrheit auf die Gesetze der Bundesstaaten anzuwenden, wie Scalia mit Zitaten wie diesem verdeutlicht:
[DOMA] This state law tells those couples, and all the world, that their otherwise valid marriages relationships are unworthy of federal state recognition. This places same-sex couples in an unstable position of being in a second-tier marriage relationship. The differentiation demeans the couple, whose moral and sexual choices the Constitution protects, see Lawrence […].
And it humiliates tens of thousands of children now being raised by same-sex couples. The law in question makes if even more difficult for the children to understand the integrity and closeness of their own family and its concord with other families in their community and in their daily lives.
Schwere Zeiten für Richter Scalia.
Kollege Conor O’Mahoney machte mich dankenswerter Weise auf eine interessante Neuerscheinung aufmerksam, die ich nicht verarbeiten konnte aber auch nicht verschweigen möchte: Michael Klarman, From the Closet to the Altar: Courts, Backlash and the Struggle for Same-Sex Marriage (New York: Oxford University Press, 2013) argumentiert, die gleichgeschlechtliche Ehe in den USA sei unaufhaltsam. Jüngere Generationen stünden ihr selbst in den konservativsten Bundesstaaten zunehmend aufgeschlossen gegenüber: “[Nate] Silver finds that by 2012 or 2013, a majority of people in a majority of states will support gay marriage. By 2016, only the states of the Deep South will still resist it. By 2024, even the last holdout, Mississippi, will have a majority in favor of gay marriage. Studies by other statisticians have yielded broadly similar findings.” (S. 202)
Allerdings würde der Widerstand deswegen kaum einknicken. Klarman setzt daher auf gerichtlich angeleiteten Wandel auf der Basis sich wandelnder gesellschaftlicher Anschauungen: “Whatever the Court may do in the short term – possibly including a refusal to grant review in a gay marriage case – eventually it is almost certain to rule in favor of gay marriage. Once public opinion has shifted overwhelmingly in favor and many states have enacted gay marriage, the Court will constitutionalize the emerging consensus and suppress resisting outliers. That is simply how constitutional law works in the United States.” (S. 207) Wir werden sehen; so far so good.
Hier noch der Link zum eigentlichen Urteil: http://www.supremecourt.gov/opinions/12pdf/12-307_6j37.pdf – im eigentlichen Beitrag konnte ich ihn nicht finden.
Vielen Dank, AX, stimmt das habe ich vergessen zu verlinken.