Warum Europa nicht auf Ministerin Varga hereinfallen sollte
„Die Welt” berichtete am 12. April von einem Gespräch mit der ungarischen Justizministerin dr. Judit Varga über die am 11. März in Kraft getretenen Notstands- und Ermächtigungsgesetze. Die Ministerin halte die Kritik daran (so auch hier) für „Falschnachrichten” und „Ausdruck einer liberalen Meinungsdiktatur in Europa”.
Da es sich hier um ein Notstandsgesetz handelt, will ich vorsichtig vorgehen. Bei der Beurteilung des Gesetzes ist allein der Text die maßgebende Tatsache. Die Stellungnahme der Ministerin gleicht aber eher einer politischen Propaganda als einer sorgfältigen Analyse der Regelung. Als Rechtswissenschaftler – der Deutschland und den Deutschen als ehemaliger Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung viel zu verdanken hat – fühle ich mich verpflichtet kurz die rechtliche Regelung und ihre rechtspolitischen Hintergründe zu erläutern.
Rechtliche Grundlage des Notstandsgesetzes sind die Art. 53-54 des ungarischen Grundgesetzes, die alleine die Regierung dazu ermächtigen, den sogenannten Gefahrenzustand zu verhängen und aufzuheben. Die Mitwirkung eines anderen Staatsorgans ist insoweit nicht notwendig. Aufgrund des verhängten Gefahrenzustandes kann die Regierung Verordnungen erlassen, die jedoch gemäß Art. 53 des Grundgesetzes nur 15 Tage lang in Kraft bleiben. Soll die Rechtskraft der Verordnungen darüber hinaus bestehen bleiben, muss das Parlament ein Ermächtigungsgesetz verabschieden. Bezüglich dem Ende dieser parlamentarischen Ermächtigung bestimmt das nun im März beschlossene Notstandsgesetz in seinem § 8: „Über die Außerkraftsetzung dieses Gesetzes entscheidet das Parlament nach der Aufhebung des Gefahrenzustandes.” Wie dargelegt bestimmt über das Ende des Gefahrenzustandes jedoch allein die Regierung – mit anderen Worten: das Parlament kann das Ermächtigungsgesetz nur mit Erlaubnis und nach der entsprechenden aufhebenden Entscheidung der Regierung außer Kraft setzen. In welcher pParlamentarischen Demokratie kann das Parlament ein selber geschaffenes: noch dazu ein Ermächtigungsgesetz nur durch vorherige Einholung der Zustimmung des Ermächtigten außer Kraft setzen? „Der Ausnahmezustand wird aufhören, wenn die Gefahr nicht mehr besteht“, so die Ministerin. Dieses von der Ministerin vorgebrachte „objektive(s)” Kriterium steht formalrechtlich zweifelsfrei im Einklang mit § 8 des Notstandsgesetzes und mit den allgemein formulierten Art. 53-54 des Grundgesetzes. Objektiv ist es aber keineswegs. Die Regierung wird den Gefahrenzustand aufheben, wenn sie es für richtig hält. Das Ende des tatsächlichen Notstands obliegt vielmehr subjektiver Diskretion und damit der Willkür der Regierenden.
Frau Varga lässt also die positive verfassungsrechtliche Lage und ihre Sinnzusammenhänge in Unklarheit. Sie verschweigt, dass das Parlament sein Recht auf Außerkraftsetzung des Ermächtigungsgesetzes der Regierung abgetreten hat. Und der Vernebelung nicht genug: in Wahrheit solle das Parlament nämlich die Ermächtigung jederzeit zurücknehmen und aufheben können. § 3 des Notstandsgesetzes regelt tatsächlich die parlamentarische Möglichkeit, betreffend einzelnen erlassenen Verordnungen die Ermächtigung aufzuheben. Um eine allgemeine Rücknahmemöglichkeit für das ganze Gesetz – wie Ministerin Varga es darstellt – handelt es sich aber gerade nicht. Da das Ermächtigungsgesetz nämlich weiterhin in Kraft bleibt, kann die Regierung die vom Parlament bereits annullierte Verordnung inhaltsgleich – mit neuer Nummer – erlassen. Die Rücknahmemöglichkeit ist also nicht mehr als ein Schönheitspflaster im Dienste irreführender Propaganda. Dementsprechend verblüffend ist ihre Feststellung, dass die Regelung in § 3 – eine für Einzelfälle ausgerichtete und rechtlich irrelevante „Aufhebungsmöglichkeit” des Parlaments – eine „viel stärkere Garantie“ sein soll als eine Zeitgrenze. Es zeigt sich: Die in Art. C) Abs. 1. des Grundgesetzes verankerte Gewaltenteilung als fundamentale rechtsstaatliche Garantie zum Schutz der Freiheit des Einzelnen ist in Ungar nicht mehr gewährleistet. Die Unterordnung des Parlaments hinsichtlich der Außerkraftsetzung des Ermächtigungsgesetzes verstößt vielmehr gegen Grundprinzipien des ungarischen Grundgesetzes.
Zweitens: Die Ministerin – aus ihrer Rolle als vermeintliche „verantwortungsvolle Hüterin des Justizwesens“ fallend“ – weist darauf hin, nach der Aufhebung des Gefahrenzustandes manche der jetzt erlassenen Notstandsverordnungen mit demselben Inhalt vom Parlament als „reguläre” Gesetze kodifizieren zu lassen. Dies öffnet weiteren Raum für Bedenken. Wird dadurch Ungarns Rechtsordnung in einen Zustand des dauerhaften Notstands versetzt? Wie lange schauen die EU und seine Mitgliedstaaten noch tatenlos zu, ohne die Werte der europäischen Verträge zu verteidigen? Guten Morgen, Europa, aufwachen bitte!
Univ.-Prof. Vörös ist ein Jurist, der unstrittig Meriten auf dem Gebiet des Verfassungs- und Unionsrechts hat. Daher ist der Stil, mit dem er schreibt, umso bedauerlicher. Er erweckt vielmehr den Eindruck, dass er das Thema nicht emotional distanziert und unabhängig beleuchtet hätte oder überhaupt beleuchten wollen würde. Ich sehe das als vertane Gelegenheit.
Der Kern seiner Kritik (bezügl § 3 Abs (2) sowie § 8 Gefahrengesetz) ist, dass die Regierung das Ende der Gefahrensituation feststellen müsse, ehe das Parlament das Gesetz bzw die gesetzesbedingt getroffenen Maßnahmen aufheben könne, bzw dass es eine Art Vorlagepflicht/Vorschlagspflicht der Regierung gebe, ohne die das Parlament nicht handeln können. Ich halte diese Rechtsauffassung schlichtweg für krass praeter legem: Derartiges findet sich nirgends.
Davon abgesehen wären die beiden Bestimmungen (§ 3 Abs (2) sowie § 8 Gefahrengesetz) im Grunde genommen gar nicht nötig, weil 1) der Stufenbau der Rechtsordnung vorsieht, dass das Parlament Gesetze frei erlassen, abändern oder aufheben kann und 2) abgesehen von ein paar vernachlässigbaren, verfassungsrechtlichen Eingriffen in das Wahlrecht (Zwischenwahlen dürfen während der Gefahrenlage nicht stattfinden; in Ö und D sind Zwischenwahlen bei Vakanz eines Mandats gar nicht erst vorgesehen) das Gefahrengesetz ein einfaches Gesetz ist – etwaige legistische Kompetenzen wurden der Regierung nur bis auf Widerruf „geborgt“. (vgl dazu meinen Artikel, der als Gastkommentar in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ erschienen ist: https://www.diepresse.com/5794615/wie-ungarn-gegen-das-virus-kampft)
Während ich meinen Artikel geschrieben habe, habe ich zwei Freunde kontaktiert, die im Verfassungsgericht Ungarns arbeiten. Ohne ihnen vom entstehenden Artikel zu erzählen, habe ich sie gefragt, ob ich es richtig sehe, dass sich dritte Personen auch auf die Rechtswidrigkeit einer Notverordnung wegen Wegfalls der Gefahrenlage berufen können. Beide haben einstimmig geantwortet, dass dies auch ihrer Rechtsauffassung nach so ist. Also dass das Verfassungsgericht im Bedarfsfall prüft, ob eine erlassene, in Grundrechte eingreifende Maßnahme auf Grundlage einer Notverordnung (die sich aus dem Gefahrengesetz ableitet) tatsächlich 1) geeignet ist, ein mit der Maßnahme verbundenes Ziel zu erreichen (Schutz der Volksgesundheit), ob dies tatsächlich notwendig ist und ob dieser Eingriff das gelindeste Mittel ist.
Ergänzend dazu: Selbst wenn das Verfassungsgericht sehenden Auges nach objektivierbarem Wegfall der Gefahrenlage nicht beginnt, die Notverordnungsmaßnahmen „zurückszustutzen“, würde danach der EGMR (bzw in vielen Fällen der EuGH) dem entsprechend aktiv werden.
Ich möchte aber auch zu bedenken geben, dass es nichts gibt, dass die Regierungspartei Fidesz-KDNP nicht bereits ohne Gefahrenlage beschließen könnte. Von dem her braucht die Regierung die Gefahrenlage nicht. Dieser Sonderstatus ist nur dazu geeignet, im Bedarfsfall rechtlich schneller auf Entwicklungen reagieren zu können.
Die Kritik von Univ.-Prof. Vörös, dass das Parlament im Verordnungsweg erlassene Notmaßnahmen in Gesetzesform „gieße“, ist inkonsistent: Zunächst spricht es dagegen, dass die Regierung die Gefahrenlage aufrecht halten will oder glaubt, aufrecht halten zu können. Weiters sind gesetzlich positivierte Maßnahmen, die für die Zeit außerhalb der Gefahrenlage gelten, umso mehr vom Verfassungsgericht überprüfbar und sind die oben beschriebenen Testkriterien strenger (weil ja keine Gefahrenlage mehr vorliegt). Drittens ist Ungarn damit – so kritikwürdig ich das persönlich halte – nicht allein, wenn man an die Kurz’schen Maßnahmen zur Oktroyierung einer „neuen Normalität“ denkt.
Schließlich übersieht Univ.-Prof. Vörös, dass die EU unlängst ja selbst festgestellt hat, dass das gegenständliche Gefahrengesetz unionsrechtlich (davon mitumfasst sind ja auch die Grundwerte sowie die EU-Grundrechtecharta) nicht zu beanstanden ist.