Ungarn – was tun?
Am Montag hat das ungarische Parlament ein Paket von Verfassungsänderungen verabschiedet, das das Verfassungsgericht als konstitutionelles Korrektiv zu Viktor Orbáns Zweidrittelmehrheitsregierung faktisch neutralisiert. An Protestnoten aus Straßburg und Brüssel hat es nicht gefehlt, aber ausgerichtet haben sie offenbar nichts. Die EU scheint ebenso wenig wie der Europarat institutionell in der Lage zu sein, auf Vorgänge mitgliedsstaatlicher Verfassungserosion wie in Ungarn oder in Rumänien eine angemessene Antwort zu geben.
Wenn in einem EU-Mitgliedsstaat die Verfassungsstaatlichkeit erodiert, dann ist das nicht nur dessen eigenes Problem, sondern eines der gesamten EU und all ihrer Mitgliedsstaaten. Was können diese tun? Im letzten Jahr haben wir auf dem Verfassungsblog ein Online-Symposium zu dem Vorschlag der Heidelberger Forschergruppe um Armin von Bogdandy veranstaltet, der die Lösung beim Europäischen Gerichtshof sucht. Jetzt fordert der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller aus Princeton, eine “Kopenhagen-Kommission” zu installieren, die die Einhaltung der politischen Kopenhagen-Kritierien durch die EU-Mitgliedsstaaten überwachen soll.
Diesen Vorschlag wollen wir zum Ausgangspunkt eines erneuten Online-Symposiums machen. Wir haben eine Reihe von Juristen und Politikwissenschaftlern eingeladen, zu folgenden Fragen Position zu beziehen:
1. Wenn ein EU-Mitgliedsstaat sich politisch auf einen Weg begibt, der zu einem mit den Kopenhagen-Kriterien von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten unvereinbaren Verfassungszustand führt, was kann und soll die EU tun, um ihn zu stoppen?
2. Welche unter folgenden Möglichkeiten gefällt Ihnen am besten:
a) Die europäischen Parteienfamilien könnten den betroffenen Staat politisch isolieren (z.B. Ausschluss aus EP-Fraktion)
b) Die anderen Mitgliedsstaaten könnten dem betroffenen Staat seine Stimmrechte in der EU entziehen (Art. 7 EUV),
c) die Kommission könnte punktuell konkrete Vertragsverletzungen identifizieren und vor Gericht bringen,
d) der EuGH könnte seine Zuständigkeit auf innerstaatliche Grundrechtseingriffe ausdehnen (Unionsbürgerschaft, Grundrechtecharta).
3. Welche am wenigsten?
4. Sehen Sie weitere Möglichkeiten?
5. In welchem Umfang kann/sollte die EU präventiv tätig werden können, um Verfassungsänderungen vor ihrem Inkrafttreten zu stoppen?
6. Wie kann man vermeiden, dass die verantwortliche nationale Führung die Sanktionen dazu nutzt, die eigene Bevölkerung gegen die EU und für die eigenen Ziele zu mobilisieren? Wie kann man sich “Smart Sanctions” vorstellen, die vor allem die Regierung treffen, nicht die Bevölkerung?7. Wie kann man vermeiden, dass hier eine EU-Zuständigkeit zum konstitutionellen Mikromanagement der Mitgliedsstaaten entsteht?
8. Wie kann man den Eindruck vermeiden, dass nur kleinere Mitgliedsstaaten sanktioniert bleiben und größere bei gleichem Verhalten ungeschoren blieben?
9. Gibt es Konstellationen, die die EU dem Europarat bzw. dem EGMR überlassen sollte?
10. Wäre eine „Kopenhagen-Kommission“ analog zur Venedig-Kommission des Europarats wünschenswert, die die Einhaltung der politischen Kopenhagen-Kriterien auch nach dem EU-Beitritt überwacht?
Die Antworten werden wir in den nächsten Wochen auf dem Verfassungsblog veröffentlichen. Wir freuen uns auf eine spannende, lebhafte und ertragreiche Diskussion!