Straßburg schützt anwaltliches Recht auf Justizkritik
Wenn ein Anwalt sich mit einem Justizskandal konfrontiert sieht, dann darf er das öffentlich anprangern. Solange er nicht lügt, beleidigt oder irreführende, ins Blaue hinein geäußerte oder nicht zur Sache gehörende Bemerkungen dabei macht, ist er vor Strafverfolgung sicher. In diesem Sinne hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs in Straßburg den verheerenden Eindruck, den das Gericht in der Sache Morice v. Frankreich vor knapp zwei Jahren hatte entstehen lassen, heute wieder korrigiert: Whistleblowing durch Anwälte ist erlaubt und geschützt.
Was denn auch sonst, sollte man meinen. Aber der Sachverhalt dieses Urteils zeigt, dass das keineswegs selbstverständlich ist, schon gar nicht im erzetatistischen Frankreich.
Der Kläger, ein Anwalt namens Olivier Morice, vertrat die Witwe des französischen Richters Bernard Borrel, der von der französischen Regierung nach Djibouti entsandt worden war, um dort bei der Reform des Justizsystems zu helfen. Borrels halb verbrannte Leiche wurde 1995 in einem Graben gefunden. Selbstmord, so die offizielle Erklärung, an der die um die franco-afrikanischen Beziehungen fürchtende französische Regierung zunächst ebenso wenig auszusetzen fand wie die französische Justiz, obwohl später Verdachtsmomente auftauchten, dass die Regierung von Djibouti etwas mit dem Tod zu tun hatte. Was man glauben soll, kann ich nicht beurteilen; jedenfalls wimmelte es in dem Verfahren von sonderbaren Vorfällen. So stellte sich etwa heraus, dass die ursprünglich mit dem Fall betraute französische Untersuchungsrichterin eine Videokassette besaß, auf der ihr Lokaltermin am Ort des Geschehens in Djibouti dokumentiert war. Nicht nur hatte sie versäumt, diese Videokassette in die Ermittlungsakten aufzunehmen und sie nach Abgabe des Falls dem neuen Untersuchungsrichter auszuhändigen. Obendrein fand sich in dem Umschlag, der die Kassette enthielt, ein handschriftlicher Brief des Staatsanwalts in Djibouti, der mit “Salut Marie-Paule” begann und mit “Je t’embrasse” endete, Borrels Witwe und ihre Anwälte der “Manipulation” bezichtigte und sich liest, als seien die beiden zwei ganz dicke Kumpels.
Maître Morice fand diesen Vorgang sehr eigentümlich, und als ihn die Zeitung Le Monde dazu befragte, sparte er nicht mit deutlichen Worten: Das Verhalten der Untersuchungsrichterin sei “völlig unvereinbar mit den Prinzipien der Unparteilichkeit und Fairness”, sie habe die Kassette nicht herausgerückt, und der Brief offenbare ein “empörendes” Maß an Nähe zwischen den französischen Richtern und den Ermittlern in Djibouti.
Woraufhin ihn die französische Strafjustiz wegen Beihilfe zur Diffamierung öffentlicher Amtsträger zu einer saftigen Geldstrafe verurteilte.
Der Anwalt zog nach Straßburg und bekam dort 2013 zunächst zu hören, dass seine Verurteilung mitnichten gegen Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) verstoße. Als Rechtsanwalt sei er gehalten, zum “guten Funktionieren der Justiz” beizutragen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in dasselbe nicht zu erschüttern. Wenn er Grund sehe, sich zu beklagen, solle er das im Rahmen der justizförmigen Verfahren tun und Beschwerde einlegen.
Das zieht die Große Kammer jetzt wieder glatt. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Funktionieren der Justiz sei zwar durchaus ein legitimer Grund, die Meinungsfreiheit von Kritikern einzuschränken. Aber das könne nicht heißen, dass Richter und Staatsanwälte vor jeder – auch persönlicher – Kritik bewahrt werden müssten. Wenn der Anwalt nur darauf aus ist, den Richter unter Druck zu setzen oder mit ihm eine Rechnung zu begleichen, dann ist das etwas anderes, ebenso wenn er lügt oder Behauptungen ins Blaue hinein abgibt. Aber wenn er sich im Rahmen der Standesrichtlinien bewegt und die Öffentlichkeit über Missstände informiert, dann darf er das – auch in scharfer und beißender Form. Ihn dafür zu verurteilen, dass er die Wahrheit seiner Behauptung nicht beweisen kann, leuchtet dem EGMR nicht ein: Er habe Werturteile abgegeben, nicht faktische Behauptungen, und die kann man nie beweisen. Außerdem hätte die französische Strafjustiz berücksichtigen müssen, dass das ganze Verfahren politisch ein äußerst heißes Eisen war. Kurz:
(…) a lawyer should be able to draw the public’s attention to potential shortcomings in the justice system; the judiciary may benefit from constructive criticism.
Dabei sieht die Große Kammer durchaus, dass es nicht sein kann, dass Anwälte ihre Verfahren durch Medienkampagnen zu gewinnen suchen anstatt durch Verfahrensanträge und Rechtsmittel. Aber davon sei hier nichts erkennbar.
Hier scheint mir ein Punkt zu liegen, über den man in der Tat streiten kann. Der EGMR weist den Anwälten eine “zentrale Position in der Justizadministration zu”, eine “Schlüsselrolle” als “Intermediäre zwischen Öffentlichkeit und Justiz” für die Herstellung von Vertrauen in das Funktionieren der Justiz. Der litauische Richter Egidijus Kūris weist in seinem Sondervotum darauf hin, dass man das auch ganz anders sehen kann: Ein Anwalt sei nicht der Öffentlichkeit und nicht der Justiz, sondern einzig und allein seinem Mandanten verpflichtet, der ihn bezahlt.
A lawyer has to heed the represented party’s interests even when they are in opposition to those of “the public”, i.e. society and the State. This is not meant to deny or diminish the importance of the function of lawyers. It is true that they can and do contribute to seeking justice and help courts to exercise their mission, but lawyers may also aim at obstructing the pursuit of justice in the interests of their clients – and occasionally do so.
Das macht dann Sinn, wenn man (Straf-)Justiz amerikanisch sieht: als Kampf, in dem der Polizei und Staatsanwalt mit allen Kräften versucht, eine Verurteilung zu erreichen, wogegen man sich dann aber auch mit Unterstützung seiner Anwälte mit allen Kräften zur Wehr setzen darf und muss. Uns ist eine andere Sicht vertraut – der Strafprozess ist kein Kampf, sondern ein Verfahren zur Wahrheitsfindung.
Was mir lieber ist, fällt mir nicht schwer zu sagen. Wer sich als Angeklagter in den USA keinen guten und entsprechend teuren Anwalt leisten kann, dem gnade Gott. Wenn man nun aber mit Richter Kūris findet, die Anwaltschaft soll im Interesse des Mandanten alles dürfen, Wahrheitsfindung und Vertrauen in die Justiz be damned – dann wird dies auch auf der anderen Seite nicht ohne Folgen bleiben. Dann werden auch die Ermittler ihre Handschuhe ausziehen.
Anwalts-Recht auf Justizkritik an der BSG-Krankengeld-Falle
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Durch die Entscheidung aus Straßburg – EGMR vom 23.04.2015, 29369/10 – zum Anwalts-Recht auf Justizkritik wiegt die anwaltliche Meinungs- / Kritikfreiheit vs. Würde / Ehre von Gerichten nun schwerer:
Damit dürfen Rechtsanwälte jetzt auch die BSG-Krankengeld-Falle kritisieren. Ob sie dies dann auch tun? Im Interesse ihrer Mandanten wäre es längst überfällig:
http://up.picr.de/21651118jz.pdf
Schönen Gruß!
Anton Butz
Ich hoffe schwer, Anwälte halten sich zurück. Soll der Bürger noch mehr Schi§ kriegen vor der dritten Gewalt? Reichten die vielen Medienattacken auf unser Rechtssystem nicht aus? Die haben doch schon zu vielen um Hosenschei§ern den letzten Mut genommen, sich als Einzelne gegen die übermächtige Justiz zu stellen! Weil Medien nie wirklich gründlich aufgeklärt haben über die Ma§nahmen, die jeder Einzelne sehr erfolgreich nutzen könnte, um so viel Recht zu bekommen, wie allen zusteht …!!
Zurückhaltende Rechtsanwälte auch VdK- und SoVD-Vertreter …
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… gibt es im Sozialrecht offenbar mehr als genug; das sieht gerade zur BSG-Krankengeld-Falle schlimm nach Unterwürfigkeit zum Nachteil der Mandanten aus.
Aber was will der unbefangene Bürger schon erwarten wenn sich die Akteure des Sozialrechts im Deutschen Sozialrechtsverband e. V. zusammenschließen, deren beiden “Spitzenleute” zufällig der Präsident und der Vizepräsident des Bundessozialgerichtes sind?
Ähnliche Doppelrollen gibt es auch anderswo, z. B. beim Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht im Deutschen Anwalt Verein und Mitglied des Vorstandes des Deutschen Sozialgerichtstages e. V.
Da ent-wundert eine BSG-Krankengeld-Falle über 7 Jahre – nicht aber, dass der Gesetzgeber so lange untätig blieb.
@ German JaCobi
Ist es nicht vielmehr so, dass allzu deutliche Zurückhaltung von Anwälten unter dem Strich zu noch mehr „Schiss vor der dritten Gewalt“ führt?
Hier ist die Würde / Ehre / Ethik von Juristen allgemein berührt, direkt an der Schnittstelle zwischen der Verlockung, nichts zu sehen, nichts zu hören und der Pflicht, als Organ der Rechtspflege hinschauen, hinhören, vielleicht handeln zu müssen: einen Beitrag zur Klärung „Justizskandal ja oder nein – und die Folgen?“ zu leisten.
Jedenfalls ist es nicht damit getan, über entblößte Konstruktions-“Recht”sprechung des 1. BSG-Senates möglichst stillschweigend hinwegzugehen, indem „ungewollten Härten“ auf jahrelangen öffentlichen Druck nun durch eine Gesetzesänderung “begegnet” (?) wird und die traditionelle Zuständigkeit des BSG-Präsidenten-Senates für Krankengeld zum 01.01.2015 in den 3. BSG-Senat verlagert wurde.
Gerade deutsche Rechtsanwälte sind im Interesse ihrer Mandanten veranlasst, sich mit dem Beispiel aus Frankreich zu befassen. Offenbar bedürfen sie – jedenfalls im Sozialrecht – der Hilfe der Fachwelt um den Unterschied zur früheren „Rechtsprechung“
https://verfassungsblog.de/kein-recht-auf-whistleblowing-fur-anwalte/#.VT8tRSHtmkp
zu erkennen, die ebenfalls nicht „die Rechtslage“ bildete.
Mit erweiterten Erkenntnissen wird sicher deutlicher, ob im Interesse des Rechtsstaates Handlungsbedarf zur BSG-Krankengeld-Falle besteht – und ggf. welcher?