Von der Illusion, ein dauerhaft vernünftiges Erbschaftsteuerrecht zu schaffen
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass das Erbschaftsteuergesetz in seiner bisherigen Form verfassungswidrig ist, scheint die Konsequenz für den Gesetzgeber klar: Jetzt muss er halt ein verfassungsmäßiges Erbschaftsteuerrecht schaffen. Aber das wird man womöglich nicht erwarten können. Ja, mehr noch: vielleicht sollte man das gar nicht erwarten können. Mit diesem staunenswerten Befund hat mich gestern eine Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung konfrontiert, bei der der Heidelberger Steuerrechts-Chefeschatologe Paul Kirchhof und seine Bayreuther Nemesis Oliver Lepsius mal wieder auf das Lebhafteste aufeinanderprallten.
Kirchhofs “große Lösung”
Kirchhofs Position lag ganz auf der Linie des Erwartbaren bei einem Mann, der in seiner eigenen aktiven Verfassungsrichterzeit den Steuergesetzgeber öfter und radikaler zurück ans Zeichenbrett geschickt hatte als jede_r andere vor und nach ihm. Das Erbschaftsteuer-Urteil vom 17. Dezember 2014 pries er als rundum toll, mit der einzigen Einschränkung, dass es nicht radikal genug ausgefallen sei. Die “große Lösung” hätte er sich gewünscht, “Backen aufblasen” in Karlsruhe und das ganze Gezerre und Geflicke des bestehenden Erbschaftsteuerrechts umpusten, auf dass der Gesetzgeber gezwungen sei, endlich für saubere und klare und dauerhafte Verhältnisse zu sorgen.
Wie die aussehen könnten, schilderte Kirchhof auch gleich: Jeder muss einen bestimmten Prozentsatz Erbschaftsteuer bezahlen, und wenn es sich um unternehmerisch gebundenes Vermögen handelt, bekommt man die Steuer über mehrere Jahre zinslos gestundet. “Daran geht kein Betrieb zugrunde.”
Eine punktuelle Reparaturlösung dagegen, da war sich Kirchhof sicher, würde umgehend wieder in Karlsruhe landen. “Dann dankt das Parlament ab.”
Besonders gut gefiel Kirchhof an der Entscheidung ihr innovativer Umgang mit dem Gleichheitssatz: Das “Kernproblem der Steuergleichheit” sei heutzutage die Steuergestaltung, die hoch leistungsfähige “Ausweichindustrie”, die jeder gesetzlichen Normierung sofort die aller raffiniertesten Umgehungsmöglichkeiten hinzugesellt und damit die majestätische Gleichheit des Gesetzes in individuelle Ungleichheit verwandelt. Ein Gesetz, das es möglich macht, dass die Ausnahme zur Regel umschlägt, verstößt schon deshalb gegen Art. 3 GG – wenn dies bei der Erbschaftsteuer so sei, dann ließe sich das womöglich auch auf die Einkommensteuer mit ihren über 400 Ausweich- und Gestaltungsmöglichkeiten übertragen.
Ein sauberes, einfaches und von allem Ausnahmen- und Gestaltungsdickicht befreites Einkommensteuerrecht – mit diesem Projekt war Kirchhof bekanntlich einst als Schattenfinanzminister der CDU/CSU in den Bundestagswahlkampf gezogen und hatte sich dafür von Gerhard Schröder als “Professor aus Heidelberg” verunglimpfen lassen müssen. Von Entmutigung jedoch keine Spur: auch die Kodifizierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs habe 25 Jahre gedauert! Und als das BGB am 1. Januar 1900 endlich in Kraft trat, sei es auch erst als Professorenkonstrukt abgetan worden, das keine fünf Jahre halten werde, und siehe: noch heute sei das BGB “die Grundlage unserer Freiheit”.
Darauf Oliver Lepsius: “Und zum Glück ist keine familienrechtliche Bestimmung aus dieser Zeit mehr in Kraft!”
Verfassungsgericht als “Dienstleister” für politische Gerechtigkeits-Updates
Ich hatte einen Riesenspaß an Lepsius’ Auftritt. Die Veranstaltung der Adenauer-Stiftung, in diesem Jahr zum dritten Mal stattgefunden, ist bei aller Sympathie doch entschieden ein Refugium des alten, deutschen, männlichen, von crusty old Staatsrechtslehrern dominierten Verfassungsrechtsmilieus. Jemandem wie Lepsius zuzuhören, der sich vom Habitus her in dieses Milieu so nahtlos einfügt wie kaum ein zweiter und dabei in größter Heiterkeit permanent dessen Denkkonventionen punktiert, bis der halbe Saal in Schnappatmung verfällt, hat etwas sehr Erfrischendes.
Auch Lepsius ist mit dem Erbschaftsteuer-Urteil, zumal mit dem Ergebnis, sehr einverstanden. Die verschachtelte Regel-Ausnahme-Systematik, mit der das Gericht hier die Spielräume des Gesetzgebers und seine eigenen Kontrollmaßstäbe miteinander verschraubt habe, finde er “ganz charmant” – eine “diskursive Verarbeitung des politischen Prozesses” mit grundrechtsdogmatischen Mitteln. Von der strengen Kontrolle, die sich Karlsruhe einst gegenüber Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers zugetraut hatte, finde sich nichts mehr. Dabei sei gerade hier womöglich Zweifel am Platze gewesen: Schließlich sei empirisch ziemlich klar, dass die Erbschaftsteuer mitnichten Familienunternehmen en masse in den Ruin treibe; es gehe in Wahrheit um Schutz für den Mittelstand in der globalisierten Welt, was ein durchaus ehrenwertes Ziel sei, nur halt nicht das, woran sich die Prognose knüpfe.
Man müsse diese Entscheidung aber im Kontext ihrer Vorgänger sehen. Seit 1987, so erinnerte Lepsius zum nicht geringen Erstaunen der Zuhörer_innen, sei das deutsche Erbschaftsteuerrecht permanent an der einen oder anderen Stelle verfassungswidrig gewesen – festgestellt vom Bundesverfassungsgericht erst 1995, dann 2006, dann 2010 und schließlich 2014. “Das kann doch gar nicht stimmen!”, rief Lepsius mit grimmigem Vergnügen. Ein fast 30 Jahre überspannender Zustand permanenter Verfassungswidrigkeit – “was ist denn das für eine Rechtsordnung!”
In Wahrheit, so seine Diagnose, sei das gar nicht so sehr Rechtskontrolle, was das Bundesverfassungsgericht da betreibe. Vielmehr stelle es sich dem Gesetzgeber als “Diskurspartner für die Fortentwicklung des Steuerrechts” zur Verfügung, der in einem etwa acht Jahre umfassenden Zyklus nachschaut, ob die vom Gesetzgeber einmal gefundenen Ergebnisse noch gerecht genug sind – als “Dienstleistung” gewissermaßen. “Rechtsfolgenbewertung, nicht Verfassungskontrolle”.
Und daran gebe es auch überhaupt nichts auszusetzen. Das Gericht müsse alle paar Jahre das Gesetz aufheben, damit der Gesetzgeber wieder tätig werden kann, gestärkt durch ein paar Gerechtigkeitsvorgaben, die ihm helfen, bei seiner Arbeit dem Druck der Lobbyisten besser standzuhalten. Die Vorstellung, dass es ein Erbschaftsteuerrecht geben könne, das in “dezennienübergreifender Gerechtigkeit” einfach immer weiter fortbesteht für 100 Jahre – “wer hat denn die?”
(“Ich!”, rief Paul Kirchhof dazwischen.)
Und deshalb sei es überhaupt nichts Schlimmes, sondern im Gegenteil für den politischen Prozess höchst Heilsames, gelegentlich in Karlsruhe aufgehoben zu werden – vorausgesetzt, das BVerfG urteilt punktuell und probiert nicht mit dem ganz großen Eisen die flächendeckende, fundamentale Ein-für-Allemal-Reform herbeizuurteilen.
Empörung und Heiterkeit
Oh, das kam überhaupt nicht gut an. Unter den anwesenden Richter- und Mitarbeiter_innen des Bundesverfassungsgerichts war manch zischende Empörung und viel kopfschüttelnde Heiterkeit zu beobachten. So könne nur ein Hochschullehrer reden, der nie in der Kammer oder im Senat über eine konkrete Entscheidung beraten und für seine Methoden, Argumente und Ergebnisse rechtlich Verantwortung übernehmen müsse, sagte mir hinterher einer. Mit der Art, wie in Karlsruhe gearbeitet wird, habe das schier überhaupt nichts zu tun, sagte ein anderer, deswegen habe er Lepsius’ Vortrag sehr “lustig” gefunden.
In der Tat, würde Karlsruhe sich hinstellen und die Aufhebung des Erbschaftsteuergesetzes damit begründen, das sei für den politischen Prozess mal wieder nötig gewesen, dann fände ich das schon auch sehr erstaunlich. Aber erstens sind Motive und Funktion einer Institution zwei nicht notwendig deckungsgleiche Dinge. Man kann lautersten Herzens Grundrechten zur Geltung verhelfen wollen und gerade dadurch eine die Gesetzgebung befruchtende Rolle spielen, da besteht überhaupt kein Widerspruch.
Vor allem aber stimme ich Lepsius zu, wenn er dem geradezu chiliastischen Glauben vieler Juristen an die große, gerechte, einfache und jedes politische Interessengerangel auf Jahrzehnte überflüssig machende Vernunftlösung die Luft ablässt.
Steuerrecht entsteht wie jedes Recht, indem vielfältige Interessenpositionen miteinander ringen und in einem verfassungsrechtlich vorgegebenen Verfahren festlegen, was am Ende für alle gleichermaßen gelten soll – durch Politik also, staatsorganisationsrechtlich gebundene Politik, aber Politik nichtsdestoweniger. Wenn dann jemand kommt und sagt, hier hat man sich auf meine Kosten geeinigt, hier wurde ich mit meinen Anliegen einfach in den Staub getreten, dann kann er sich beschweren. In beiden Fällen kommt Karlsruhe ins Spiel: wenn die Politik ihre staatsorganisationsrechtlichen Bindungen und wenn sie die Grundrechte einzelner missachtet hat.
Wenn man die Situation aber so rekonstruiert, wie Kirchhof das tut, kommt etwas ganz anderes dabei heraus: Steuerrecht ist aus dieser Perspektive von Anfang an schon ein Freiheitsgrundrechts-Thema, nämlich ein Eingriff in das Eigentum. Und zwar von gar niemand speziellem, sondern von allen Steuerzahlern. Ihr Eigentum an ihrem Geld wird geschmälert dadurch, dass der Staat ein Stück davon für sich beansprucht. Auf dieser Basis ist schon der Ausgleich zwischen den Myriaden von unterschiedlichen Interessen, der auf politischer Ebene stattfindet, ein Grundrechtsproblem – etwas, das gerechtfertigt, zwecklegitim und verhältnismäßig sein muss. Und darüber entscheidet dann Karlsruhe. Die Politik macht also Politik, und hinterher beugt sich Karlsruhe drüber und runzelt die Stirn und sagt, was habt ihr denn da wieder für einen Unfug angestellt.
Das Grundrecht auf Eigentum – ganz ähnlich wie das Wahl-Grundrecht, wenn es um Europarecht und Ultra Vires geht – wird damit von einem Schutzversprechen für diskriminierte, übergangene und überstimmte Minderheiten zu einem universellen Gerechtigkeits- und Angemessenheitsvorbehalt, der acht weise Männer und Frauen in Karlsruhe in die Lage versetzt, korrigierend in den politischen Prozess einzugreifen, wann immer sie das für richtig halten.
Was, wie Lepsius betont, politisch gar keine schlechte Sache ist. Karlsruhe zimmert sich, um besserer politischer Ergebnisse willen, eine mächtige politische Playerposition – fine! Wenn das Erbschaftsteuerrecht zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht dauernd hin und hergekickt wird wie eine Tischfußballkugel, warum nicht. Das hält den politischen Prozess in Bewegung und offen für Interessenverlagerungen und Gerechtigkeitsverschiebungen in einer sich ständig dramatisch verändernden Welt.
Nur sollte man nicht für bare Münze nehmen, wenn Karlsruhe behauptet, das sei rechtlich das einzig Wahre. Wer wieviel Steuern zahlen muss, das steht nun mal nicht im Grundgesetz. Das ist uns allen zum politischen Aushandeln aufgegeben. Das Grundgesetz stellt uns sozusagen den Kickertisch hin, und die Spielregeln, und von mir aus auch den Schiedsrichter. Aber spielen müssen wir selber.
M.S.: “Wenn dann jemand kommt und sagt, hier hat man sich auf meine Kosten geeinigt, hier wurde ich mit meinen Anliegen einfach in den Staub getreten, dann kann er sich beschweren.”
Ja, sicher kann er sich beschweren. Aber in Hinblick auf die pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG in Steuersachen wird regelmäßig nur die Verfassungswidrigkeit festgestellt, ohne dass sich die Steuerfestsetzung des Beschwerdeführers ändert. Dafür darf sich der vom gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss betroffene Grundrechtsadressat immerhin als weiterer “Diskurspartner für die Fortentwicklung des Steuerrechts” fühlen.
Deswegen haben wir Ösis ja die Bestimmung, dass die Aufhebung einer Gesetzesstelle immer auf den Anlassfall zurückwirkt – und unser Verfassungsgerichtshof ist sehr großzügig mit der Qualifikation einer Beschwerde oder eines Gerichtsantrags als Anlassfall.
“Die Veranstaltung der Adenauer-Stiftung … ist bei aller Sympathie doch entschieden ein Refugium des alten, deutschen, männlichen, von crusty old Staatsrechtslehrern dominierten Verfassungsrechtsmilieus” —
Lieber Herr Steinbeis, haben Sie Vorurteile? Der von Ihnen gelobte Herr Lepsius, auch nicht mehr ein Vertreter der crispy new Staatsrechtslehre, ist nicht zufällig mit der Drehtür ins Haus gefallen. Er war eingeladen.
@Hallstein: Alter ist doch egal. Sofern man kein Käse ist.
Ein einklagbar Anspruch aus dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 GG auf eigene steuerliche Besserstellung scheint kaum möglich, solange Gleichheit ebenso zumindest durch steuerliche Schlechterstellung eines anderen möglich scheint.
Interessante an dem letzten Erbschaftssteuer-BverfG-Urteil schiene allerdings, dass diesem zu Grunde zu liegen scheint, dass aus dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 GG zur Herstellung von Gleichheit zumindest ein klagbarer Anspruch auf steuerliche Schlechterstellung von anderen bestehen können soll.
Das sollte vielleicht mal stärker im Bewusstsein der Bevölkerung publik zu machen sein, zur Freude aller in der Finanzgerichtsbarkeit.
P.C.: „Ein einklagbarer Anspruch aus dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 GG auf eigene steuerliche Besserstellung scheint kaum möglich, solange Gleichheit ebenso zumindest durch steuerliche Schlechterstellung eines anderen möglich scheint.“
Bei den privilegierten Steuerpflichtigen dürfte ein Teil der Steuerfestsetzungen bereits bestandskräftig sein. Nur dort, wo die Bescheide mit einem Vorläufigkeits- oder Vorbehaltsvermerk versehen wurden, könnte eine Schlechterstellung ex tunc überhaupt möglich sein. Eine rückwirkende steuerliche Schlechterstellung zur Verwirklichung des Gleichheitssatzes dürfte daher bei der Umsetzung daher auf Schwierigkeiten stoßen.
Pro futuro hat der Gesetzgeber im Steuerrecht einen weitreichenden Entscheidungsspielraum: statt einer Privilegierung für alle, keine Privilegierung für niemanden. Oder es auf die nächste Verfassungsbeschwerde ankommen lassen.