Bayern auf dem Sonderweg? Nachwirkungen der Kopftuch-Entscheidung des BVerfG
Wie berichtet wird, will die bayerische Staatsregierung trotz der „Kopftuch“-Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) an der Anwendung der Vorschrift des Art. 59 Abs. 2 S. 3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesens (BayEUG) festhalten. Diese Bestimmung besagt:
Äußere Symbole und Kleidungsstücke, die eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung ausdrücken, dürfen von Lehrkräften im Unterricht nicht getragen werden, sofern die Symbole oder Kleidungsstücke bei den Schülerinnen und Schülern oder den Eltern auch als Ausdruck einer Haltung verstanden werden können, die mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen der Verfassung einschließlich den christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerten nicht vereinbar ist.
Ist diese Regelung – und die gleiche Frage gilt für andere landesrechtliche Bestimmungen – durch die Karlsruher Entscheidung (zum Beschluss schon hier, hier und hier) nun hinfällig geworden? Nicht, wenn es nach der Bayerischen Staatsregierung geht. Der Bayerische Bildungsminister, Ludwig Spaenle, wird dabei in einer Pressemitteilung der Bayerischen Staatsregierung über die Kabinettssitzung am 17.03.2015 wie folgt zitiert:
Für unsere bayerische Regelung sieht das Kabinett nach eingehender Diskussion keinen Änderungsbedarf. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat sie bestätigt und in der Praxis haben wir keine Probleme. Im Verwaltungsvollzug unserer bewährten bayerischen Regelung wird der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen. Wir werden uns dabei von der besonderen Schutzbedürftigkeit des Kindes und dem Schulfrieden leiten lassen.
Ist dies ein verfassungsrechtlich problematischer bayerischer Sonderweg oder eine noch vertretbare Austarierung föderaler Spielräume? Einerseits verlangt die Bindungswirkung der Karlsruher Entscheidung in der Tat nicht, das bayerische Gesetz nunmehr nicht mehr anzuwenden. Der Urteilsausspruch der Karlsruher Entscheidung betrifft das nordrhein-westfälische Gesetz, das es teilweise für nichtig erklärt und aufhebt, teilweise nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz für vereinbar hält.
Andererseits ist gleichwohl zu berücksichtigen, dass die Entscheidungen des BVerfG nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder binden. Nach Abs. 2 der gleichen Vorschrift kommt dem Ausspruch der Normverwerfung sogar Gesetzeskraft zu. Heißt dies etwa, dass sich nun nach den Grundsätzen der Normenhierarchie aus Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) der mit Gesetzeskraft versehene Urteilsausspruch aus Karlsruhe gegenüber dem potentiell entgegenstehenden bayerischen Landesrecht durchsetzt? Mitnichten. Wie Herbert Bethge in seiner Kommentierung des § 31 BVerfGG unterstreicht, wird der Urteilausspruch durch § 31 Abs. 2 BVerfGG nicht zur Norm. Er bleibt ein Hoheitsakt, dem nur eine bestimmte normative Wirkung zukommt, die aber nicht als Derogation wirkt. Der eigentliche Gehalt dieser Bestimmung liegt in der Erstreckung der Bindungswirkung aus § 31 Abs. 1 BVerfGG auf alle betroffenen Individuen („inter omnes“) – das kann sich aber im Falle der Verwerfung einer landesgesetzlichen Norm auch nur auf die dem fraglichen Gesetz unterworfenen Menschen beziehen.
Auch ohne Derogationswirkung kann der Karlsruher Entscheidung aber wohl entnommen werden, dass die bayerische Vorschrift im Lichte der Anforderungen des Grundgesetzes verfassungsrechtlich problematisch sein dürfte – wenn nicht der „Verwaltungsvollzug“, auf den Bildungsminister Spaenle Bezug genommen hat, die bayerische Rechtslage im Lichte der Karlsruher Entscheidung verfassungskonform auslegt und entsprechende Ausnahmen gewährt, d.h. das Tragen eines Kopftuches erlaubt, insoweit der Schulfrieden nicht hinreichend konkret gestört bzw. gefährdet wird. Die „christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte“ aus Art. 59 Abs. 2 S. 3 BayEUG wirken sich jedenfalls im Grundsatz ähnlich aus, wie die Privilegierung christlicher Symbole im nordrhein-westfälischen Gesetz. Mit den Worten des BVerfG:
Die vom Gesetzgeber als Privilegierungsbestimmung zugunsten der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen gewollte Teilregelung in Satz 3 der Vorschrift stellt eine gleichheitswidrige Benachteiligung aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen dar (Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG). (Rn. 123 des Beschlusses)
Verfassungsrechtlich gefordert ist mithin über die Berücksichtigung der Karlsruher Entscheidung im Verwaltungsvollzug hinaus eine Überprüfung und ggf. Änderung der bayerischen Rechtslage durch den bayerischen Gesetzgeber – und sei es nur, um eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen auf Art. 59 Abs. 2 S. 3 BayEUG beruhenden Entscheidungen bayerischer Behörden und Gerichte vorzubeugen.
Die erweiterte Bindungswirkung von Verfassungsgerichtsentscheidungen aus § 31 Abs. 1 BVerfGG erfordert auch in föderal gelagerten Parallelfällen eine Berücksichtigung der Karlsruher Rechtsprechung. Auch wenn die Karlsruher Entscheidung nicht als solche die bayerische Rechtslage betrifft, legt sie doch die bundesverfassungsrechtlichen Maßstäbe dar, an denen sich auch das BayEUG zu messen lassen hat (ein ganz ähnlich gelagertes Problem betrifft die Wirkungen von EGMR-Entscheidungen für andere als den Staat, gegen die Individualbeschwerde eingelegt wurde – siehe dazu auch das BVerfG hier in Rn. 89).
Dies ist ein weiterer Ausdruck der starken institutionellen Stellung des Bundesverfassungsgerichts und ist im internationalen Vergleich keineswegs selbstverständlich. William Baude von der Law School der University of Chicago hat soeben in einem Gastbeitrag für die New York Times der Obama-Administration einen Vorschlag unterbreitet, wie sich auf verfassungsrechtlich gangbarem Weg der „Fallout“ einer negativen Entscheidung über „Obamacare“ im dem anhängigen Verfahren King v. Burwell umgehen lasse. Dabei geht es Baude nicht um eine föderale Gemengelage, sondern um die allgemeinen Grenzen der Bindungswirkung von Entscheidungen des US Supreme Court.
Entscheidungen des höchsten US-amerikanischen Gerichts komme eine Bindungswirkung nur im konkreten Fall zu. Regelmäßig erkläre die US-Regierung aber, den Ausspruch auch auf andere Sachverhalte und Parteien auszudehnen. Dies sei verfassungsrechtlich aber nicht gefordert, argumentiert Baude. Genauso gut könne die Regierung auf weitere Klagen warten. Da im Obamacare-Fall vermutlich die allermeisten Betroffenen an denen im Fall King v. Burwell im Streit stehenden Steuerprivilegien festhalten möchten, sei kaum mit einer kostspieligen Klagewelle zu rechnen. Ein ähnliches Vorgehen wäre in Deutschland in den allermeisten Fällen durch § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht denkbar. Der Fall der parallel geltenden landesrechtlichen Bestimmungen weist aber in eine Grauzone, in denen ähnliche Überlegungen zumindest nicht ausgeschlossen sind.
Die dezidierte Nichterstreckung höchstrichterlicher Entscheidungen auf andere Parteien – in Deutschland wohl nur im Kontext der sog. Nichtanwendungserlasse des Bundesfinanzministeriums nach Entscheidungen des Bundesfinanzhofs bekannt – bringe gleichwohl auch in den Vereinigten Staaten hohe politische Kosten mit sich, unterstreicht Baude in seinem Kommentar. Gilt ähnliches auch für die Ausführungen der bayerischen Staatsregierung zum Festhalten am „bayerischen Kopftuchverbot“? Die unmittelbaren politischen Kosten des bayerischen „Widerstands“ gegen Karlsruhe mögen nicht so hoch ausfallen. Erinnert sei hier nur an die langen Auseinandersetzungen um das Kruzifix in bayerischen Klassenzimmern. Zudem, so die Staatsregierung, habe es in der bisherigen Verwaltungspraxis in Bayern noch keinen Fall gegeben, in dem eine Lehrerin auf ihr Recht, ein Kopftuch im Unterricht zu tragen, bestanden habe. Die Vermutung liegt somit nahe, dass es sich vor allem um ein Manöver politischer Selbstvergewisserung handelt, ohne dass eine entsprechende Positionierung in der Öffentlichkeit zum jetzigen Zeitpunkt zwingend geboten wäre. Sollte es in der Zukunft um diese Frage einen Streitfall in Bayern geben, wird sich zeigen, ob und gegebenenfalls wie lange ein bayerischer Sonderweg in dieser Frage gangbar sein wird.