„Reformierter“ Investitionsschutz in TTIP: Zwei Schritte voran – und gegen die Wand
Die Europäische Kommission verspielt gerade ihre Chance, das umstrittene internationale Investitionsschutzrecht ernsthaft zu reformieren und am Gemeinwohl auszurichten. In ihrem nun vorgelegtem Vorschlag an die USA für ein Investitionsschutzkapitel in TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) lässt sie die wesentlichen Probleme des Investitionsschutzrechts weitgehend unberührt. Nur auf den ersten Blick bietet sie Lösungen etwa für die strukturelle Einseitigkeit des Schiedsgerichtssystems. Auch brächten die geplanten materiellen Schutzrechte weiterhin eine deutliche Privilegierung ausländischer Investoren gegenüber Gemeinwohlbelangen und allen anderen Marktteilnehmern. Diese Privilegien würden nur zaghaft durch Auslegungsregeln zur Bewahrung staatlicher Regulierungsspielräume abgefedert. Unterm Strich würden die Pläne der Kommission das bestehende Investitionsschutzrecht marginal ändern. Zugleich würden sie aber durch die Ausweitung auf den transatlantischen Wirtschaftsverkehr das Klagerisiko für die USA, die EU und alle ihre Mitgliedstaaten enorm erhöhen.
Dass ein international anerkannter Investitionsschutzrechtler wie Stephan Schill in seinem kürzlich hier erschienenen Beitrag dennoch von einem couragierten und richtungsweisenden Vorschlag, ja einem „historischen Wendepunkt im Denken um das internationale Investitionsrecht“ spricht, zeigt vor allem eins: Auch nach jahrelanger und zunehmend öffentlicher Kritik am Investitionsschutzrecht fällt es selbst den meisten darauf spezialisierten Wissenschaftlern noch immer schwer, sich eine grundlegende gemeinwohlorientierte Neuausrichtung auch nur vorzustellen.
Das ist sicher auch dadurch zu erklären, dass sich das Investitionsschutzrecht bis vor wenigen Jahren zumindest in Europa noch weitgehend abgeschottet von der öffentlichen Meinung und den breiteren wissenschaftlichen Diskursen entwickelt hat. Viele deutsche Staatsrechtler sind auf dieses völkerrechtliche Randgebiet erst durch die Kontroversen um die milliardenschwere Schiedsklage gegen den deutschen Atomausstieg und die großangelegten transatlantischen Abkommen der EU aufmerksam geworden. So entstand über die Jahrzehnte in über 3.000 meist bilateralen Verträgen relativ geräuschlos ein völkerrechtliches Staatshaftungsregime zum Schutz von Investoreninteressen – mit ganz eigenen Normalitäten: Vage formulierte materielle Investorenprivilegien werden hier durchgesetzt mit unmittelbaren internationalen Individualklagerechten gegen Verwaltungsmaßnahmen, Gesetze und staatliche Gerichtsurteile. Die Haftungsklagen der Investoren werden bisher in vertraulichen, an die private Handelsschiedsgerichtsbarkeit angelehnten Verfahren verhandelt und ein Großteil der dabei entstandenen Schiedssprüche ist fast weltweit wie nationale Urteile vollstreckbar.
Wie auch den Debatten auf diesem Blog zu entnehmen ist, steht das Rechtsregime nun aber zunehmend in der Kritik. Dies liegt daran, dass die Investorenprivilegien vielfach als unangemessen wahrgenommen werden, vor allem da sie staatliche Entscheidungsspielräume empfindlich begrenzen und ein erhebliches Risiko für die öffentlichen Haushalte darstellen können. Zudem waren die Verfahren vor den Schiedsgerichten bislang intransparent, ihre Entscheidungen sind mitunter inkonsistent und unterliegen keiner wirksamen Kontrolle – und nicht zuletzt haben die ad hoc berufenen und pro Fall bezahlten privaten Schiedsrichter strukturell ein finanzielles Interesse an investorenfreundlichen Entscheidungen, was Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit aufwirft.
Es gibt also einigen Verbesserungsbedarf. Und der Kommission bot sich nach dem Vertrag von Lissabon die vielleicht einmalige Gelegenheit, das weltweite Investitionsschutzrecht tatsächlich tiefgreifend zu reformieren – oder eben weitgehend abzuschaffen. Zuvor waren die Mitgliedstaaten allein für diesen Bereich zuständig und hatten das globale Regime durch über 1.000 bilaterale Investitionsschutzabkommen mit Drittstaaten maßgeblich geprägt. Die nun erfolgende schrittweise Ersetzung durch europäische Abkommen hätte ein Impuls für eine weltweite Revision und Modernisierung der Investitionsschutzpolitik werden können. Dafür hätte die Kommission aber drei zentrale Fragen klären müssen. Erstens wäre rechtpolitisch zu überdenken gewesen, welche materiellen Investoreninteressen als solche überhaupt schützenswert sind. Zweitens wäre zu entscheiden, wie dieser Schutz notfalls auch auf internationaler Ebene durchsetzbar ist, ohne rechtsstaatliche Standards aufzugeben und unnötige Parallelstrukturen zu schaffen. Und schließlich müsste man jeweils gründlich prüfen, in welchen Staaten ein solcher völkerrechtlicher Schutz nötig ist, weil und soweit er auf nationaler Ebene nicht ausreichend gewährleistet ist. Doch weder das bereits ausgehandelte Abkommen mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA) noch der jetzige Vorschlag der Kommission für TTIP beantworten diese Fragen überzeugend.
Kommission setzt weiter auf materielle Privilegien für ausländische Investoren
Was die dritte Frage betrifft sei vorweggenommen: Schon im Ausgangspunkt ist nicht ersichtlich, warum es gerade im transatlantischen Verhältnis besonderer Regeln für den Investorenschutz bedürfte. Die USA, Kanada und die EU verfügen über funktionierende, marktwirtschaftlich geprägte Rechtsordnungen. Auch ohne zusätzliche Anreize macht der transatlantische Investitionsverkehr den größten Anteil an ausländischen Direktinvestitionen in die EU (USA allein: 1,54 Billionen Euro oder 39%) und von der EU in andere Länder (1,65 Billionen Euro oder 32%) aus. Die wenigen Abkommen, die einige osteuropäische Staaten mit den USA geschlossen hatten, decken nur einen minimalen Bruchteil davon ab, sind hoffnungslos veraltet – und ohne weiteres kündbar. Anders als von der Kommission und auch von Schill behauptet können sie daher kaum als Begründung für die Notwendigkeit der deutlichen Ausweitung des Investitionsschutzes in TTIP herhalten.
Sieht man von diesen grundsätzlichen Bedenken ab, steht und fällt jeder Reformversuch damit, ob es gelingt den materiellen Schutz ausländischer Investoren auf ein angemessenes Niveau zu kalibrieren. Für eine Union, die auf den Werten der Demokratie und der Gleichheit aufbaut (Art. 2 EUV), liegt es nahe, sich dabei von zwei Gesichtspunkten leiten zu lassen: Ausländische Investoren sollten grundsätzlich nicht schlechter gestellt werden als die inländischen, aber auch nicht besser. Ihre Rechte dürfen zudem die demokratische Gestaltungsfreiheit nicht weiter einschränken als es für ihren unabdingbaren Schutz nötig erscheint.
Zum Schutz vor Diskriminierungen wäre es völlig ausreichend, die materiellen Rechte auf das Gebot der Inländergleichbehandlung zu beschränken, das im Investitionsschutz stets enthalten ist (national treatment). Der demokratische Wandel würde dadurch inhaltlich von vornherein nur soweit eingeschränkt, wie es bereits jetzt auf nationaler und europäischer Ebene durch höherrangiges Recht der Fall ist.
Die Kommission setzt aber auf eine Fortschreibung des bisher üblichen Investitionsschutzes, der insbesondere das vage Gebot der „fairen und gerechten Behandlung“ (fair and equitable treatment – FET) und einen Schutz vor indirekter Enteignung umfasst (Section 2 Art. 3 (1)-(4) sowie Art. 5 i.V.m. Annex I des Kommissionsvorschlags). Diese sollen ausländischen Investoren auch und gerade dann zustehen, wenn sie Inländern nicht zuteilwerden. Beide Konzepte sind durch unbestimmte Rechtsbegriffe geprägt und wurden durch Schiedsgerichte mit der Zeit immer expansiver ausgelegt. Die Kommission hat sich hier an einer genaueren Definition versucht, letztlich aber wesentliche Elemente der großzügigen Spruchpraxis übernommen. So weisen Begriffe wie „legitime Erwartungen“ und „Willkür“ in der FET-Klausel eine überschießende Tendenz auf, die in der Praxis bisweilen weit über die rechtsstaatlich zulässige Selbstbindung der Verwaltung, den gebotenen Vertrauensschutz und die Ermessenskontrolle hinausgeht. Die „indirekte Enteignung“ steht in einem natürlichen Spannungsfeld zur legitimen Regulierung des Wirtschaftslebens, welche stets die Geschäftsmodelle von Investoren beeinträchtigen kann. Dies zeigt sich etwa bei Risikotechnologien wie der Nuklearenergie, der Gentechnik oder dem Fracking, deren Gefährdungspotenzial laufend neu zu untersuchen und zu bewerten ist. Auch nach dem Vorschlag der Kommission könnten neue Entscheidungen und Regelungen hierzu künftig vor internationalen Spruchkörpern darauf geprüft werden, ob sie mit Hinblick auf die Interessen der Investoren verhältnismäßig erscheinen. Andernfalls erhalten die Investoren eine Kompensation einschließlich entgangener Gewinne, die erheblich über das eingesetzte Kapital hinausgehen kann.
Angesichts dieser umfangreichen Schutzrechte hilft es wenig, dass die Kommission nun eine eigene Vorschrift zum Schutz staatlicher Regulierungsspielräume vorschlägt (right to regulate; Section 2 Art. 2, insbes. (1) u. (2) des Kommissionsvorschlags). Es handelt sich dabei nicht um echte Bereichsausnahmen oder Schrankenregelungen für die Rechte der Investoren, sondern um bloße Auslegungsvorgaben. Auch danach stehen die staatlichen Maßnahmen aber unter einem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit („necessary [measures]“; „legitimate policy objectives“), der von den Schiedsgerichten mitunter sehr streng gehandhabt wird. Wenn es dort heißt „[t]he provisions in this section shall not affect the right of the Parties to regulate“, ziehen sich Investitionsschutzrechtler zudem bisweilen auf den Standpunkt zurück, dass eine relevante Beeinträchtigung ohnehin schon ausgeschlossen ist, da die Schiedsgerichte formell nur Schadensersatz zusprechen können, nicht aber die Aufhebung einer Maßnahme.
Es dürfte allerdings auf der Hand liegen, dass schon drohende Kompensationsforderungen in Millionen- oder gar Milliardenhöhe den Kostenrahmen einer staatlichen Maßnahme vielfach sprengen. Kommissionsbeamte machen denn auch keinen Hehl daraus, dass der Investitionsschutz letztlich eine gewisse Beschränkung der staatlichen Handlungsspielräume bezweckt. Zudem können auch durch Haftungsurteile viele rechtliche Vorgaben faktisch konterkariert werden. Das gilt für all jene Vorschriften, die (auch) Investoren zu Zahlungen an einen Hoheitsträger verpflichten (z.B. Geldstrafen und Bußgelder, Abgabenpflichten, Haftung für Umweltschäden). Mit dem inzwischen virulent gewordenen Fall der Rückabwicklung rechtswidriger Beihilfen, die durch einen Schiedsspruch wiederhergestellt werden, will die Kommission nun immerhin einen für sie wohl besonders augenfälligen Problembereich explizit ausnehmen (Section 2 Art. 2 (3) u. (4) des Kommissionsvorschlags). Damit erfasst sie aber eben nur die Spitze des Eisbergs.
Nach alledem verwundert es nicht, dass Befürworter des bisherigen Systems mit dem Vorschlag der Kommission insgesamt gut leben können: „In der Substanz ändert sich dadurch gar nichts, denn die Standards, nach denen geurteilt wird, bleiben die gleichen”.
Kein Gericht ohne unabhängige und unparteiische Richter
Einige Fortschritte bietet der Vorschlag dagegen bei der Einführung von rechtsstaatlichen Minimalstandards in das System der Investor-Staat-Streitbeilegung (Investor-State Dispute Settlement – ISDS). Die klagenden Investoren sollen künftig nicht mehr über die Auswahl der Schiedsrichter mitentscheiden. Diese würden stattdessen in einem randomisierten Verfahren aus einer Gruppe von vorher benannten „Richtern“ ausgewählt. Die Transparenz der Schiedsprozesse würde modernen Standards angepasst und unmittelbar betroffene Dritte sollen ein Interventionsrecht erhalten. Zudem soll erstmals durch eine Rechtsmittelinstanz eine umfangreiche Überprüfung der Entscheidungen ermöglicht werden.
Trotzdem erscheint es etwas hoch gegriffen, wenn die Kommission den von ihr konzipierten Mechanismus zur Durchsetzung der Investorenrechte nun als „Investment Court System“ bezeichnet. Hierzu sei zunächst auf ein zentrales Problem hingewiesen: Die „Richter“ würden dort weiterhin nur auf Teilzeitbasis tätig sein und im Wesentlichen pro Fall bezahlt – die geplante retainer fee in Höhe von etwa 2000 Euro im Monat fällt angesichts eines Fallhonorars von 3.000 Dollar pro Arbeitstag zuzüglich Spesen kaum ins Gewicht (vgl. Section 3 Art. 9 (12) u. (14) des Kommissionsvorschlags und die ICSID Administrative and Financial Regulation 14 (1)). Dabei hat die zuständige Handelskommissarin Cecilia Malmström längst erkannt, dass dadurch ein finanzieller Anreiz für die Schiedsrichter geschaffen wird, über die Klagen der Investoren großzügig zu entscheiden und diese so zu weiteren Klagen einzuladen. Die naheliegende Konsequenz wäre eine Richterschaft auf Vollzeitbasis, der Nebentätigkeiten grundsätzlich verboten sind. Dies erwähnt der Kommissionsentwurf jedoch nur als mögliche Option nach Vertragsschluss, deren nachträgliche politische Realisierbarkeit mehr als fraglich ist (vgl. Section 3 Art. 9 (15)). Vorerst würde es den „Richtern“ also insbesondere möglich sein, weiter als Schiedsrichter in anderen ISDS-Verfahren tätig zu werden. Die strukturelle Schieflage des bisherigen Systems würde spätestens damit durch die Hintertür wieder hereingebeten. Dabei besteht schon wegen der Einseitigkeit der Klagemöglichkeiten und der Zielsetzung des Mechanismus eine erhebliche Gefahr, dass sich die Schiedsrichter als institutionelle „Hüter der Investorenrechte“ missverstehen. Umso dringender sind starke Vorkehrungen zur Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gefordert. Solange diese fehlen, muss man auf die Integrität der Schiedsrichter hoffen. Von einem „Gericht“ im eigentlichen Sinne kann man da kaum sprechen.
All diese Defizite wiegen umso schwerer, als auf nationaler und europäischer Ebene eine funktionierende rechtsstaatliche Justiz besteht, die durch die Möglichkeit einer unmittelbaren ISDS-Klage vollkommen umgangen werden kann. Dabei ist es etwa im Bereich Menschenrechte ein bewährtes Prinzip, völkerrechtliche Individualklagerechte von der vorherigen Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs abhängig zu machen. Dadurch wird dem verklagten Staat nicht nur die Gelegenheit zur eigenständigen Abhilfe gegeben. Die Tatsachengrundlage und die Auslegung des relevanten innerstaatlichen Rechts werden zudem durch die sachnäheren nationalen Gerichte aufbereitet. Dem internationalen Gericht kommt dabei eine subsidiäre Auffangfunktion zu. Es ist unverständlich, warum die Rechtswegerschöpfung den Opfern von Menschenrechtsverletzungen grundsätzlich zumutbar sein soll, für den Investorenschutz aber kategorisch ausgeschlossen wird.
Insgesamt entwirft der Vorschlag also kein stringentes Reformkonzept. Selbst wenn die Kommission die USA davon überzeugt, könnten die wenigen Verbesserungen auf institutioneller Ebene sogar hinfällig werden, sofern sie im Abkommen mit Kanada (CETA) weiterhin darauf verzichtet. Aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung Nordamerikas könnten die vielen US-Investoren mit Tochterfirmen in Kanada sich dann das jeweils günstigere Abkommen aussuchen.
Es ist an der Zeit, dass wir all diese Politiker zum Teufel jagen!