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19 December 2011

Das Recht in der Eurokrise: Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Bis März 2012 wollen  die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebietes einen Euro-Vertrag ohne die Briten schließen. Das haben sie am 9. Dezember 2011 auf ihrem „Gipfel“ erklärt, nachdem Großbritannien hier unerfüllbare Forderungen gestellt hatte. Jetzt  zerbrechen sich Juristen allerorts die Köpfe darüber, ob und wie dies gelingen kann und kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen. Ich meine, es wird schwierig, aber es geht.

Die beiden Kernelemente der Erklärung vom 9. Dezember zum neuen „fiskalpolitischen Pakt“ betreffen die Einfügung von Schuldenbremsen im jeweiligen nationalen Verfassungsrecht sowie die Folgen eines Verstoßes gegen den Stabilitätspakt. Der erste Entwurf eines Euro-Vertrags („Internationales Abkommen über eine vertiefte Wirtschaftsunion“) liegt nun vor. Weitere Fragen wie etwa Genehmigungsvorbehalte im Hinblick auf nationale Haushalte sind dort nicht unmittelbar angesprochen. Auch scheint die Option einer Ergänzung des ESM-Vertrags zugunsten eines eigenständigen Vertrages vom Tisch. Der Entwurf enthält auch einige institutionelle Festlegungen. Er vermeidet jeden offenen Widerspruch zu den geltenden EU-Verträgen durch eine Reihe von Nachrangklauseln bzw. Hinweise auf den Vorrang des Unionsrechts.

Die Schuldenbremsen würden jeweils nationales Verfassungsrecht in den Euro-Staaten werden. Nur die Verpflichtung zu ihrer Einführung würde im neuen Euro-Vertrag verankert. Es geht also nicht um eine völkervertragsrechtliche europäische Schuldenbremse, sondern um gleichlautende nationale Bremsen. Dass diese Schuldenbremsen einen automatischen Korrekturmechanismus enthalten werden – eher an die schweizer als die deutsche Schuldenbremse angelehnt –, ist dann auch nationales Verfassungsrecht.

Der EuGH (Europäischer Gerichtshof) soll die „Umsetzung dieser Regel auf nationaler Ebene überwachen“. Das aktuelle Europarecht gestattet, dass der EuGH hier sozusagen leihweise tätig wird. Insbesondere nach  der französischen und englischen Sprachfassung des Art. 273 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) ergibt sich hier kein Problem, dass die deutsche Fassung etwas unanschaulich von „Schiedsvertrag“ spricht, schadet demnach nicht.

Die Verschärfung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit dagegen ist zwar nicht mit einer Übertragung von Kompetenzen verbunden, womöglich aber – bisher – die rechtlich kantigste Klippe des neuen „fiskalpolitischen Paktes“: Sobald ein Mitgliedstaat die 3-Prozent-Schwelle überschritten hat, sollen „automatisch Konsequenzen“ erfolgen – es sei denn, die Euro-Mitgliedstaaten sprechen sich mit qualifizierter Mehrheit dagegen aus. Dies ist eine Umkehrung des derzeitigen Mechanismus nach Art. 126 AEUV, der für Konsequenzen eine qualifizierte Mehrheit erfordert. Das scheint das Recht Großbritanniens auf ein Verfahren nach dem geltenden AEUV zu beschneiden.

Freilich hat sich Großbritannien durch Opt-outs weitgehend aus dem Defizitverfahren verabschiedet. Wer selbst nicht dabei ist, wird kaum auf die Einhaltung eines Verfahrens pochen oder gar seine Optimierung behindern können. Die Umkehrung der erforderlichen Mehrheiten lässt sich aber auch als Absprache zwischen den Eurostaaten über das Abstimmungsverhalten im Rat deuten, vergleichbar mit Absprachen in Koalitionsverträgen für Abstimmungen im Bundesrat. Koalitionsverträge sind bekanntlich rein politische Absprachen und haben keine rechtlich bindende Wirkung. Entsprechend würde der Euro-Vertrag im EU-Rahmen keine (vorrangige) Rechtswirkung entfalten können, diese bestünde nur zwischen den Vertragsparteien des Euro-Vertrages.

Mehr Kopfzerbrechen bereitet die Konzeption automatischer Konsequenzen und die Rolle der Kommission. Die Automatik wird man fingieren müssen, und auf die Bereitschaft der Kommission, an diesen Verfahren mitzuwirken ist man auch angewiesen. Hier scheint von britischer Seite beanstandet zu werden, dass die Kommission ja für alle 27 Mitgliedstaaten da ist, weil sie von allen finanziert wird. Für die Kommission besteht eine der EuGH-Regelung in Art. 273 AEUV entsprechende Bestimmung zwar nicht. Die Kommission, die übrigens unabhängig ist, hat aber als oberste Aufgabe die Förderung der allgemeinen Interessen der Union, und darunter fällt der Erhalt der Währungsunion.

Das Grundgesetz verpflichtet auf ein Staatsziel Vereintes Europa. Das kann auch das Euro-Europa sein. So gesehen bietet die Ausgründung in einem Euro-Vertrag ohne Briten auch die historische Chance, der grundgesetzlichen Verpflichtung besser gerecht zu werden. Eine konkretere verfassungsrechtliche Frage ist, ob der Bundestag in die Erarbeitung des neuen Vertrags einbezogen werden muss, wie sonst nur bei echten EU-Verträgen. Bei herkömmlichen völkerrechtlichen Verträgen können Bundestag (und ggf. Bundesrat) allenfalls am Ende zustimmen oder ablehnen. Dass auch völkerrechtliche Verträge, die neben der EU entstehen, trotzdem Angelegenheiten der EU betreffen können, wird indessen vorliegend besonders deutlich. Entsprechend müssen im Grundsatz – ohne den vorliegend bestehenden Eilbedarf auszublenden – die umfassenden Beteiligungsmechanismen greifen, die bei EU-Angelegenheiten vorgesehen sind. Freilich lässt die Geschwindigkeit, mit der nun bereits Textentwürfe für den Euro-Vertrag entstehen auch erkennen, wo faktische Grenzen der Mitwirkung des Parlaments liegen können. Ganz ohne parlamentarische Begleitung bleibt die Ausarbeitung des Euro-Vertrags jedenfalls nicht: Das Europäische Parlament ist bei den Beratungen zur Ausarbeitung des neuen Euro-Vertrags Beobachter.

Einfach ist das alles nicht. Es kann zur Flucht in informelle Absprachen führen, das Recht beschädigen. Das kann dann passieren, wenn die rechtlichen Anforderungen sich so hoch türmen, dass man sie nicht mehr erfüllen kann – oder mag. Nicht-rechtliche Absprachen – siehe oben, Koalitionsvertrag – sind dann jedenfalls aus exekutiver Sicht eine erwägenswerte Alternative, da hier Parlamente wie Verfassungsgerichte aus dem Spiel sind.

Die Wahrnehmung nahezu unüberwindlicher rechtlicher Hürden rührt in Teilen daher, dass die Änderung der Verträge nur einstimmig möglich ist, und zwar sogar mit einer Art „doppelter“ Einstimmigkeit: Bei der Vereinbarung der Vertragsänderung wie bei der Ratifikation darf niemand ausscheren. Das ist mindestens ein Einstimmigkeitserfordernis zu viel. Gut und stilbildend ist es daher, dass der neue Euro-Vertrag bereits mit einfacher Mehrheit der Euro-Staaten (neun Staaten) in Kraft treten soll. Er sollte auch mit Mehrheit geändert werden können – wie übrigens auch die UN-Charta und viele andere multilaterale Konventionen. Mit Einstieg in die Bundesstaatlichkeit hat das nicht zwingend zu tun. Wer eine Vertragsänderung nicht mittragen will, mag sich das als „Opt-out“ bestätigen lassen. Damit Recht wieder mehr als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems angesehen wird.

Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Universität Bielefeld.

Dieser Beitrag ist in leicht gekürzter Form heute im Handelsblatt erschienen (mit freundlicher Genehmigung).


SUGGESTED CITATION  Mayer, Franz C.: Das Recht in der Eurokrise: Teil der Lösung oder Teil des Problems?, VerfBlog, 2011/12/19, https://verfassungsblog.de/das-recht-der-eurokrise-teil-der-lsung-oder-teil-des-problems/, DOI: 10.17176/20170714-151205.

One Comment

  1. Coccodrillo Tue 20 Dec 2011 at 10:33 - Reply

    Der Vergleich zwischen dem Fiskalpakt und einem Koalitionsvertrag hört sich gut an, was das Kollisionsproblem zwischen Fiskalpakt und Art. 126 AEUV betrifft, räumt aber nicht wirklich die Sorgen daran aus dem Weg: Statt einer Änderung des AEU-Vertrags, durch die ein echter Sanktionsautomatismus geschaffen werden sollte, hätten wir am Schluss eine “rein politische Absprache” ohne rechtlich bindende Wirkung? Kann man sich wirklich darauf verlassen, dass eine solche “politische Absprache” auch eingehalten wird, wenn wieder einmal ein europäisches Schwergewicht wie Deutschland oder Frankreich die Defizitkriterien gerissen hat? Koalitionsverträge sind bekanntlich auch nur für den überschaubaren Zeitraum einer Legislaturperiode gedacht und werden in Krisensituationen gerne mal gebrochen – und der Euro-17-plus-Vertrag soll jetzt in der Lage sein, den Mitgliedstaaten dauerhaft ein finanzpolitisches Korsett anzulegen, auch wenn wieder einmal Rezession und Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen? Wenn die Automatismen im Fiskalpakt nur “fingiert” sind, dann ist er schlicht unglaubwürdig (und vielleicht ist das, aus ökonomischer Sicht, sogar besser so).

    Meine volle Zustimmung aber zum letzten Absatz: Es wird höchste Zeit, all die Einstimmigkeitserfordernisse bei Abschluss und Reform europäischer Verträge hinter uns zu lassen. Wenn das vorerst nur für den Fiskalpakt gilt, ist das ein bescheidener Anfang – wenn man eine Erstarrung des europäischen Verfassungsrechts verhindern will, wird wohl auch die Änderung von EUV und AEUV erleichtert werden müssen. Ob das dann den “Einstieg in die Bundesstaatlichkeit” bedeutet oder nicht…

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