Eskalation: Bericht aus Barcelona, Teil 3
Ich habe es rechtzeitig zum Flughafen geschafft, wenngleich mit Mühe. Gleich steige ich ins Flugzeug, daher nur schnell ein paar Fotos und einige Zeilen. Bottom line: anders als in den letzten beiden Tagen habe ich heute durchaus eine Stadt in Aufruhr erlebt. Die großen Straßen waren voll, Krach, Hupen, Gesänge und Gebrüll, unausweichlich, überall. Die Menge der Demonstranten: nicht zu zählen. Die Via Laietana, die Rambla Catalunya, alle großen Straßen sind voll, voll, voll. In der Luft Hubschrauber, aber auf den Straßen wenig Polizei zu sehen. Die Stimmung ist weiterhin festlich und angstfrei. Überwiegend jedenfalls. In der Avinguda del Portal de’l Ángel kommt mir ein Trüppchen mit rot-schwarzen Fahnen entgegen, die keinen Spaß verstehen. Als ich ein Foto mache, wird mir zu verstehen gegeben, den Apparat schnell wegzupacken, wenn ich keinen Ärger haben will.
Der Generalstreik scheint auch zu funktionieren. Die meisten Läden sind zu, ein Taxi zu bekommen schwierig, der Verkehr in der Innenstadt ist total zum Erliegen gekommen.
Einer meiner Gesprächspartner schreibt per Email, er habe von einer guten Quelle gehört, dass entweder morgen oder am Freitag das Parlament die Unabhängigkeit erklären werde. Außerdem verfestige sich nach seinem Eindruck in Madrid selbst bei vernünftigen, liberalen Leuten die Meinung, dass die Polizeigewalt am Sonntag notwendig und gerechtfertigt gewesen sei und ein legales Referendum absolut ausgeschlossen sei.
Einstweilen scheinen also die Zeichen weiter auf Eskalation zu stehen.
Update (abends): Der König hat sich mit einer im Fernsehen übertragenen Rede an das spanische Volk gewandt, was er nur selten tut, und sich dabei unmissverständlich auf die Seite der spanischen Zentralregierung geschlagen. Kein Wort von Vermittlung und Verhandlungen, kein Wort des Bedauerns über die Polizeigewalt, kein Wort über eine Verfassungsreform, im Gegenteil: “Seit Jahrzehnten leben wir in einem demokratischen Staat, der jedermann verfassungsrechtliche Wege anbietet, seine Ideen innerhalb des Respekts für das Recht zu artikulieren.” Ich würde dem inhaltlich gar nicht unbedingt widersprechen, aber auch für moderate Katalanen dürften sich diese Worte in der gegenwärtigen Situation wie Hohn anhören. Wieder eine Chance zur Deeskalation verpasst.
Lieber Max, tolle und aufschlussreiche Reportage, haben sie mit großem Interesse gelesen! Wir warten nun gespannt auf Teil 4 mit (a) Deinen Analysen dieser Unabhängigkeitsbewegung einschl. eines Vergleichs mit anderen solchen Bewegungen in Europa und (b) einer näheren persönlichen und verfassungsrechtlichen Bewertung, wie man aus dem dargestellten (vor-)revolutionären Dilemma herauskommen könnte. Viele Grüße
@Ulrich: danke! Mal sehen. Zu b) wäre, Stand heute, meine Antwort: dass sich die Situation nicht mehr an einem verfassungsrechtlichen Maßstab messen lässt, macht sie ja zu einer revolutionären. Siehe Teil 2. Ich will mich mit historischen Parallelen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber vielleicht kann man das mit den USA 1775 vergleichen. Hätte King George III den Krieg gewonnen, müsste man die Declaration of Independence als illegalen Akt bezeichnen. Hat er halt nicht.
Zurecht sagen die Alten,
auctoritas non veritas facit legem
Besteht die Gefahr, dass die die katalanisch kontrollierte Polizei die Aufgabe der “Landesverteidigung” übernimmt um die Absetzung der Regionalregierung zu verhindern?
P.S.
Vielen Dank für die tolle Reportage !
Vielen Dank für die Courage, es war bestimmt nicht einfach. Mit der revolutionären Situation würde ich es allerdings nicht zu weit treiben. Das Einzige, was die heutige Situation von der vor drei Jahren (als es auch eine Art Referendum gab mit Beteiligung von 2.2 Millionen Menschen), ist die Polizeigewalt und die Legitimität, die die einen verloren und die anderen gewonnen haben. Die andere Hälfte der Katalanen, die von diesen Geschichten nichts wissen wollen, ist weiterhin da. Für mich ist aber klar, dass diese Ereignise Auslöser vieler Veränderungen sein müssen, angefangen meinetwegen mit einem Regierungswechsel in Spanien und dann mit einem langen, offenen und wohlüberlegten Verfassungsgebenden Prozess. So gut wie ich die Verfassung von 1978 finde, haben viele ihre Möglichkeiten verspielt und ihren Ruf ruiniert. Viele empfinden sie nicht als Gewährleistung ihrer Freiheit sondern im Gegenteil, und niemand nimmt sie wirklich ernst, vor allem, wenn sie der Erreichung der eigenen politischen Ziele im Wege steht.