Rettungsschirm für Grundrechte: Anmerkungen von ANTJE WIENER
Auch wenn „Rettungsschirm“ nicht unbedingt das Wort des Monats ist stellt der Vorschlag des Bogdandy-Teams für eine umgekehrte Solange-Doktrin (im Folgenden als Solange-Reversed Vorschlag bezeichnet) eine überzeugende starke Argumentation für die Verbindung von Grundrechten und Bürgerschaft dar. Sowohl Grundrechte als auch Bürgerschaft sind Verfassungsnormen vom Typ 1, also Normen, die grundlegende ethische Werte einer Gemeinschaft ausdrücken und über die sich demokratische Akteure daher grundlegend einig sind. Als solche sind beide Fundamentalnormen in ihrer Definition in Artikel 2 (Grundrechte) und Artikel 20 (Bürgerrechte) des Vertrags von Lissabon (EUV) unumstritten.
Was sich verändert hat – und damit möglicherweise kontroverse Diskussionen auslösen wird – ist die ‚europäische‘ Bürgerschaftspraxis, die sich aus der Umsetzung des Solange-Reversed Vorschlags des Bogdandy Teams ergibt (NB: Das Adjektiv ‚europäisch‘ wird in Anführungszeichen gesetzt, um den Ausschluss der Europäerinnen, die Bürger europaeischer Staaten, die nicht Mitglied in der Europäischen Union (EU) sind, zu berücksichtigen, Wiener 1998). Diese Veränderung der Rechtspraxis hat politische Folgen. Denn durch die Umsetzung des Vorschlags wird ein weiterer Zweig ‚europäischer‘ Bürgerschaftspraxis entwickelt, der die normative Ordnung der EU weiter festigen wird. Der Lackmus-Test solcher Veränderungen bleibt jedoch das Verhalten der EU und ihrer Organe gegenüber anderen normativen Ordnungen. In jedem Fall wird die Debatte über den Solange-Reversed Vorschlag neues Licht auf die politischen Auswirkungen rechtlicher Integration werfen. Denn bisher wurde die Landkarte der europäischen Integration maßgeblich durch eine Reihe von Gerichtsentscheidungen geprägt. In der Summe spiegeln diese Entscheidungen einen starken Einfluss auf das Alltagsleben von Unionsbürgern (und Anwohnerinnen) wider.
Aufbauend auf einer vierzigjährigen ‚europäischen‘ Bürgerschaftspraxis und einer stetigen Reihe einflussreicher Gerichtsurteile wirft der Solange-Reversed Vorschlag zudem auch substantieller kritische Fragen zum Konzept der Staatlichkeit und entsprechend der Verknüpfung von Staatlichkeit mit Souveränität auf. Im Folgenden wird dieser Kommentar dieses Argument ausführen.
‚Europäische‘ Bürgerschaftspraxis und Solange Reversed
Einfach ausgedrückt fügt der Solange-Reversed Vorschlag der ‚europäischen‘ Bürgerschaftspraxis eine neue Dimension hinzu. Er impliziert, dass, zusätzlich zur konstitutiven Beziehung zwischen dem Individuum und dem Gemeinwesen als Grundlage jeder Art von Bürgerschaft, eine weitere Beziehung zwischen dem europäischen nicht-staatlichen Gemeinwesen und den Gemeinwesen der Mitgliedstaaten besteht. Diese Veränderung wird aus der etwas komplexen, aber rechtlich hoch effizienten neuen Verbindung zwischen den Grundrechten und der Bürgerschafts-Gesetzgebung abgeleitet. Sie ermöglicht eine Rechtspraxis, die die Grundrechte der EU-Bürgerinnen bedeutend effektiver schützen kann. Im Folgenden wird diese Argumentation unter Bezug auf den bisherigen Werdegang der Bürgerschaftspraxis in der EU weiter ausgeführt.
Aus der Formulierung der EU-Bürgerschaft im Maastrichter Vertrag von 1993 folgten zwei Innovationen. Die erste war eine direkte Verbindung zwischen dem Individuum und der Europäischen Union. An ihr wurde sichtbar, dass, jenseits der Beziehung zwischen Individuum und Staat als der vertrauten konstitutiven Grundlage der Entstehung der modernen Nationalstaaten, das Konzept der Bürgerschaft nun um die Beziehung zwischen Individuum und einer nichtstaatlichen Einheit, nämlich zwischen jedem Bürger eines Mitgliedstaats und der EU selbst erweitert wurde. Diese neue Dimension hat einen Raum geschaffen, in dem sich die Beziehung zwischen Individuum und Staat schrittweise verändert.
Die zweite Innovation bestand aus der Fragmentierung von Rechten, Zugang und Zugehörigkeit, den drei historischen Elementen der Bürgerschaftspraxis. So hat die entstehende ‚europäische‘ Bürgerschaftspraxis das Modell der modernen Staatsbürgerschaft als ein Bündel von Marshallschen Bürgerrechten, also bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten (T.H. Marshall 1950), fragmentiert. Während die Bedingungen des Zugangs zu politischer Teilhabe auf die Teilhabe an der Politik auf EU- und auf lokaler Ebene beschränkt geblieben sind, haben die Elemente der Rechte und der Zugehörigkeit beständig zur sich entfaltenden Verfassungsqualität der EU beigetragen. Weitgehend unbemerkt von Politikwissenschaftlerinnen und Politikern jedoch scharf beobachtet von Juristinnen, haben sich Rechte weiterentwickelt, indem Arbeiter auf dem europäischen Markt und mittlerweile auch Bewohnerinnen des EU-Gebiets diese vor Gerichten eingefordert haben (vergleiche Marschall, Kalanke, Kreil, Martinez Sala, Grzelczyk sowie Rottmann und Ruiz Zambrano). Im Gegensatz dazu hat sich der Grad der Zugehörigkeit – obwohl weitgehend unbemerkt vom Normalbürger und von den Sozialwissenschaften – gewandelt. In Meinungsumfragen sind Europäerinnen stets vornehmlich danach gefragt worden, ob sie sich als Europäer fühlen oder nicht. Dabei blieb unbemerkt, dass sich ein Gefühl der Zugehörigkeit durch alltägliche Praxis zur ‚europäischen‘ Bürgerschaftspraxis und ihren historisch spezifischen Ausprägungen längst entwickelt hatte. Es sind die Details dieser Alltagspraxis, die es der Wissenschaft ermöglichen, die Konstitution und den Wandel von Verfassungsqualität eines Gemeinwesens zu nachzuvollziehen und zu interpretieren.
Entgegen der Erwartungen vieler Juristen unmittelbar nach der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags hat sich also herausgestellt, dass nicht die Politik sondern das Recht maßgeblichen Einfluss auf die entstehende neue Art einer fragmentierten Bürgerschaftspraxis gehabt hat. Der Solange-Reversed Vorschlag des Bogdandy Teams ist ein gutes Beispiel für die in der europäischen Integrationsforschung als „Integration durch Recht“ bekannt gewordene Tradition (Capelletti et al. 1985). Er geht aber über die dieser Tradition zugrunde liegende Stoßrichtung hinaus, indem er ein größeres Gewicht auf die Interpretation der Bedeutung als auf die streng wörtliche Interpretation des Gesetzes (black-letter law) legt. Dieses Argument soll im Folgenden erörtert werden.
Die Verbindung von Grundrechten und Staatsbürgerschaft
Wie das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Lissabon-Urteil festgestellt hat, beruht der Grundrechtschutz in der EU nach dem Lissabon-Vertrag auf zwei Grundlagen: auf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und auf den ungeschriebenen Grundrechten der Union. Beide werden durch Artikel 6, Paragraph 2 des Lissabon-Vertrags getragen, welcher die EU ermächtigt und verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beizutreten. Diese ungeschriebenen Rechte lassen einen Spielraum für die Interpretation des Gesetzes-Sinns offen, in dem sich der Solange-Reversed Vorschlag bewegt.
Kurz gesagt dient der Solange-Reversed Vorschlag dazu, der EU den Schutz der Grundrechte ihrer Bürgerinnen dann zu ermöglichen, wenn Mitgliedstaaten ihrer Rolle als Beschützer dieser Grundrechte nicht nachkommen. Solange also Mitgliedstaaten die Grundrechte von Unions-Bürgern auf ihrem Staatsgebiet nicht verletzen, wird die EU keinen Bedarf sehen, einzugreifen. Der Hauptzweck dieses Vorschlags ist es, die bisher nur dünne Substanz der Rechte von Unions-Staatsbürgern unter Bezug auf die „essence of fundamental rights enshrined in Article 2 TEU“ (Bogdandy et al., Common Market Review 2012, 3, im Erscheinen) zu stärken.
Mit anderen Worten besagt der Vorschlag, dass es notwendig ist, die Lücke im Schutz der ungeschriebenen Grundrechte im EU-Staatsbürgerrecht mit den Grundrechtsschutz-Bestimmungen aus Artikel 2 des EU-Vertrags zu füllen, um es EU-Bürgern zu ermöglichen, in den vollen Genuss ihrer Rechte zu kommen, „die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht“, wie es zum ersten Mal im Ruiz Zambrano-Urteil bekräftigt wurde. Artikel 3 verweist für die Umsetzung der Grundrechte in entscheidender Weise auf einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ und beschwört damit den Begriff des europäischen Rechtsraums („European legal space“, Bogdandy et al. 2012, 4) herauf. Durch diesen Bezug auf den europäischen Rechtsraum, in dem alle Bürger den gleichen Grundrechtschutz genießen (sollen) und durch die gleichzeitige Aussage, dass die EU solange nicht eingreifen wird, wie die Mitgliedstaaten die Grundrechte der EU-Staatsbürger auf ihrem Staatsgebiet nicht verletzen, unterstützt der Vorschlag einen konstitutionellen Pluralismus und vermeidet so die Zentralisierung der Gesetzgebung im Bereich der Grundrechte.
Wer sind also die Gewinner und die Verlierer in diesem Prozess?
Bürger, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen, gewinnen sicher einen weiteren Zugang zur Bürgerschaftspraxis, die normative Ordnung der EU wird dadurch vermutlich gefestigt. Einwohner, die nicht Staatsbürgerinnen eines Mitgliedstaats sind, werden dagegen nicht direkt vom Solange-Reversed Vorschlag profitieren, auch wenn zu erwarten ist, dass die neue Bürgerschaftspraxis weitreichendere Auswirkungen, wie beispielsweise die substantielle Verbesserung von Governance Prozessen im europäischen Rechtsraum, haben wird. Die Mitgliedstaaten werden dieser veränderten Bürgerschaftspraxis dagegen mit gemischten Gefühlen begegnen. Immerhin bedeutet Solange-Reversed letztlich, dass das moralische Handeln jedes Mitgliedstaats sowohl von EU-Bürgern als auch von EU-Institutionen infrage gestellt werden kann. Der neue Zweig ‚europäischer‘ Bürgerschaftspraxis hat somit politische Auswirkungen. Zusätzlich öffnet her eine innovative Perspektive auf das Konzept der Staatlichkeit.
Weiterreichende Auswirkungen: Veränderung von Staatlichkeit
In diesem abschließenden Abschnitt argumentiere ich, dass der Solange-Reversed Vorschlag Aufschluss über das Puzzle der Koexistenz von geteilter Souveränität einerseits und unversehrter Staatlichkeit andererseits bietet. Es wird vorgeschlagen, dieses Puzzle durch den Bezug auf die Praxis, also das Staatsverhalten, zu untersuchen. Das heißt, die Art und Weise, in der Moralität von Akteuren (nicht nur von Staaten) umgesetzt wird, ist aussagefähigerer als Indikator für die Legitimität von Staatlichkeit als der Begriff der Souveränität.
Die beiden oben genannten Innovationen in Bezug auf die Bürgerschaftspraxis, also die direkte Verbindung zwischen den Bürgern und der EU (1) sowie die Fragmentierung der vormalig gebündelten modernen Bürgerrechte (2), haben ein bedeutendes politisches Gewicht. Sie bieten daher den Schlüssel zum besseren Verständnis sowie zur Auflösung des Puzzles, wie gleichzeitig Hoheitsrechte von den Mitgliedstaaten auf die EU übertragen werden können und die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten intakt zu bleiben scheint (Vgl. dazu das Lissabon-Urteil des BVerfG).
Wie ist es möglich, dass Staatlichkeit intakt bleibt, obwohl Souveränität reduziert wurde? Was macht dann letztlich Staatlichkeit aus? Welche Auswirkung hat dieser Prozess auf die Bedürfnisse der Bürger?
Nach Kant hat für die Qualität des Regierens die Staatsform weniger Gewicht als die Praxis. Daher muss sich die Bewertung von Staatlichkeit auf Staatshandeln beziehen. Es ist entsprechend auch von grundlegender Bedeutung für den moralischen Status des modernen Staates in der Beziehung zur Bürgerin. Wenn nun – wie das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil festgestellt hat – der einzige verbleibende Indikator staatlicher Souveränität in der EU im Austrittsrecht der Mitgliedstaaten besteht, , so lässt dies folgern, dass der Begriff der Staatlichkeit seit dem Vertrag von Maastricht eine beträchtliche Wandlung vollzogen hat. Wenn außerdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) von den Mitgliedstaaten die Rolle des Beschützers der Grundrechte übernimmt (wie in Kadi, Rottmann und anderen Fällen), dann ist dies ein Indikator für eine sich neu verortende Moralität, an der sich die Staatshoheit auf lange Sicht messen lassen muss. Denn durch die aktive Umsetzung der normativen Bedeutungs-Struktur der Grundrechte wird auch von nichtstaatlichen Akteuren wie der EU und ihre Organe moralisches Ansehen konstituiert.
Zusammengefasst steht zu erwarten, dass der Solange-Reversed Vorschlag diesen Weg der rechtlichen Integration weiter festigt. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive bietet er außerdem eine willkommene Gelegenheit, das Konzept der Staatlichkeit inhaltlich eingehend zu überprüfen. Dies ist von zentraler Bedeutung, da der oft verwendete Ausdruck „jenseits des Staates“ denkbar ungeeignet ist zum besseren Verständnis einer Welt, in der die Summe moralischen Handelns nicht ausschließlich aus einzelnen Staatshandlungen besteht. Eine Rechtsdoktrin, die auf Staatspraxis statt Staatsform aufbaut, steht sicherlich im Gegensatz zu Annahmen über internationale Organisationen, in denen eine Kultur der souveränen Gleichheit vorherrscht (Jean L. Cohen, Sovereignty and Globalization – Building Institutions of a Non-State, 2012, im Druck), auch wenn der EU-Vertrag ein völkerrechtlicher Vertrag ist. Es folgt also, dass das Verhalten der EU als nicht-staatlicher Akteurin zu untersuchen ist, die durch einige ihrer Organe, nicht zuletzt den EuGH, moralische Substanz geschaffen hat. Ein analytischer Fokus für solch eine Untersuchung wird durch das Konzept der Bürgerschaftspraxis bereitgestellt als ein Prozess, der das Individuum mit einem Gemeinwesen verbindet, oder wie im europäischen Fall mit mehreren Gemeinwesen, und der außerdem – durch den Solange-Reversed Vorschlag – verschiedene Typen von Gemeinwesen untereinander verbindet. Die Untersuchung dieser Praxis orientiert sich an der Umsetzung der drei historischen Elemente der Bürgerschaft (Rechte, Zugang und Zugehörigkeit). I Die vorgeschlagene Fokussierung auf die Überprüfung von Grundrechten wird nicht nur einen schärferen Blick auf den Wandel des moralischen Charakters von Staatlichkeit erlauben, sondern auch Auswirkungen auf die Beziehung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im globalen Raum haben.
Antje Wiener ist Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere Global Governance und geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Globalisierung und Governance (CGG) an der Universität Hamburg.
Für die Übersetzung aus dem englischsprachigen Original danke ich Jens Busch.
Die europäische Bürgerschaft wie in der Charta der Grundrechte der Euroüäische Union scheint mir ein wenig fragwürdig zu sein.
Einerseits wird nur die politische Teilhabe auf kommunale und Ezropäische Ebene garantiert, andersseit geht aus der konsolidierte Fassung hervor dass EU-Bürger die in ein EU-Land deren Staatangehörigkeit sie nicht besitzen nicht als Ausländer angesehen werden dürfen und dem zu Folge Artikel 16 der EMRK nicht angewand werden darf.
Ich sehe hier eine Diskripant die nur mit ein chauvinistische und altertümliche Ansicht der Bürgerschaft zu erklären ist.
Die Bürgerrechte sollten unabhängig von eine dubiose Staatsangehörigkeit sein und solch eine Staatsangehörigkeit sollte auf ein Wohnortprinzip beruhen. Ein Mensch der seit lange Jahre im “Ausland” lebt und dort seine Steuer zahlt mehr von der Politik im Staat wo seine Residenz liegt, betroffen als von der Politik des Staates deren Staatszugehörigkeit er besitzt.