VB vom Blatt: Zehn Gedanken zum „Hooligan“-Urteil des EGMR
Präventiver Polizeigewahrsam gegen gewaltbereite Fußballfans verstößt nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gegen Menschenrechte. Gedanken von Thomas Feltes, Professor für Kriminologie und Polizeiwissenschaft, zu dem heutigen Grundsatzurteil.
1. Das Urteil ist auf den ersten Blick ein Rückschlag für alle, die sich gegen die Ausweitung des präventiven Polizeigewahrsams (auch „Unterbindungsgewahrsam“ genannt) wenden. Wie Urteile generell, so muss aber auch dieses Urteil genau gelesen und interpretiert werden. Präventiver Polizeigewahrsam kann sehr wohl gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoßen, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Im konkreten Fall waren 2009 insgesamt 138 Zuschauer vor einem Länderspiel in Kopenhagen von der Polizei festgenommen worden. Die drei Kläger (dänische Staatsbürger) waren für mehr als sieben Stunden inhaftiert worden, ohne dass ihnen eine Straftat vorgeworfen wurde, wobei das dänische Recht max. sechs Stunden Präventivgewahrsam erlaubt. Die drei Inhaftierten hatten Schadensersatz verlangt.
2. Das Gericht betont, dass in jedem Einzelfall eine angemessene Abwägung zwischen individuellen Freiheitsrechten (hier die individuelle Bewegungsfreiheit und der Besuch des Fußballspiels) und der Verletzung von Rechten Dritter (hier die Verhinderung von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Hooligans aus Dänemark und Schweden) erfolgen muss. Im Gesetz selbst muss zudem ein bestimmter Grund für den Entzug der Freiheit genannt sein (im vorliegenden Fall die Verhinderung der Begehung einer Straftat).
3. Bevor jemand in Präventivgewahrsam genommen wird, müssen nach der Entscheidung des EGMR zuerst mildere Mittel eingesetzt werden: So muss z.B. versucht werden, der Gefahr durch einen proaktiven Dialog mit Fans zu begegnen. Erst wenn dies nicht erfolgreich ist, dürfen diejenigen (und nur diejenigen) in Gewahrsam genommen werden, die konkret und individuell als Gefahr für die öffentliche Sicherheit identifiziert wurden. Danach muss die Polizei die Gesamtlage sorgfältig beobachten und die in Gewahrsam genommenen Personen entlassen, sobald sich die Situation beruhigt hat. Die Polizei muss zudem konkret und unter Angabe von Zeit, Ort und Opfern von Straftaten nachweisen, dass die Taten durch die Ingewahrsamnahme aller Wahrscheinlichkeit nach verhindert wurden.
4. Das Gericht suchte nach eigenen Angaben einen „flexiblen Ansatz“, um den Gebrauch des polizeilichen Präventivgewahrsams zum Schutz der Öffentlichkeit nicht „unpraktikabel“ zu machen. Damit verdeutlicht es den Grundsatz, nach dem diese Maßnahmen (nur) dann zulässig sind, „wenn es vernünftigerweise als notwendig angesehen werden kann, um eine Straftat zu verhindern“.
5. Das Gericht hat bspw. genau geprüft, ob es zulässig war, die drei Fans sieben Stunden (statt der in Dänemark gesetzlich vorgesehenen sechs Stunden) in Gewahrsam zu behalten. Die Begründung der Polizei, dass die Fans ansonsten ihre Auseinandersetzung unmittelbar nach dem Spiel hätten fortsetzen können, wurde akzeptiert, ebenso wie die konkreten Schilderungen, was die Polizei vor der Ingewahrsamnahme getan hat, um die Gefahr auf andere Art und Weise zu verhindern.
6. Das Gericht hat auch betont, dass die Betroffenen das Recht haben müssen, die Entscheidung der Ingewahrsamnahme nachträglich gerichtlich überprüfen zu lassen.
7. Was bedeutet dies für die Situation in Deutschland? Zum einen muss sich die Polizei strikt an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz halten und immer das oder ggf. auch mehrere mildere Mittel anwenden, wenn diese ausreichen, um die Gefahr abzuwenden. Auch wenn dies im Einzelfall schwierig zu überprüfen ist, sind doch die Gerichte gefordert, genauer als bisher hinzusehen und zu prüfen, ob bspw. andere Polizeistrategien bereits im Vorfeld möglich gewesen wären oder ob Interventionsalternativen zur Verfügung standen. Wenn versäumt wurde, rechtzeitig das Gespräch mit den Hooligans zu suchen oder die verfeindeten Gruppen angemessen zu trennen oder zu begleiten, dann kann sich die Polizei später nicht mehr darauf berufen, dass es keine andere Möglichkeit als den Präventivgewahrsam gegen einzelne Personen gegeben habe. Ein internes Organisationsversagen darf ebenso wie ein Managementversagen nicht zu Lasten Einzelner führen.
8. Das Gericht macht implizit auch deutlich, dass der Präventivgewahrsam eher nach Stunden als nach Tagen bemessen werden muss. Ob man dies (nur) auf den konkreten Fall (ein Fußballspiel ist irgendwann vorbei) beziehen kann, oder ob es ein genereller Grundsatz ist, bleibt offen. Jedenfalls wird man die Gesetzeslage in Deutschland, wonach teilweise die Höchstdauer des Präventivgewahrsams unbegrenzt ist (so in Bayern, Bremen und Schleswig-Holstein) oder bis zu 14 Tage beträgt (in fast allen anderen Ländern außer NRW), vor dem Hintergrund dieses Urteils kritisch hinterfragen müssen.
9. Insgesamt ist das Urteil nur auf den ersten Blick „polizeifreundlich“. Der EGMR hat wieder einmal deutlich gemacht, dass Menschenrechte geschützt und Rechtsgüter sehr genau gegeneinander abgewogen werden müssen, auch und gerade von staatlichen Institutionen. Polizei und Gesetzgeber in Deutschland sind gut beraten, das Urteil genau zu lesen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Dem Wegsperren von Individuen, um mögliche Gefahren zu vermeiden, ist nach diesem Urteil eine klare Grenze gesetzt. Freiheitsentziehung ist die ultima ratio, und die Polizei muss begründen, warum sie keine anderen Lösungen gesucht und gefunden hat.
10. Und vor allem: der Grundsatz „Verhaftet die üblichen Verdächtigen!“ gilt nicht (mehr). In Präventivgewahrsam dürfen nur diejenigen Personen genommen werden, von denen eine konkrete und nachweisbare Gefahr ausgeht.
Vielen Dank für diese erste Einschätzung. Interessant ist meines Erachtens auch, dass die Große Kammer den Eingriff auf Art. 5 I lit. c) und nicht wie bisher auf die überaus engen Voraussetzungen des lit. b) stützt. Diese flexible Herangehensweise (Rn. 120 ff.) bedeutet wohl eine – graduelle – Ausweitung des Unterbindungsgewahrsams.