Macrons Revolte
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich den teils gewalttätigen Protesten der Gilets jaunes, der Gelbwesten, gebeugt und am Montagabend ein Paket sozialer Umverteilungsmaßnahmen im Umfang von etwa 10 Mrd. Euro angekündigt – und das bereits ab dem kurz bevorstehenden neuen Jahr. Irritierenderweise hat er gleichzeitig eine große Diskussion über „nationale Identität“ und Einwanderung angekündigt – mit welcher Absicht steht dahin.
Die politische Ökonomie der Revolte ist in den letzten Tagen und Wochen vielfach analysiert worden. Es hat sich ein vorläufiger Konsens herausgebildet, dass die untere Mittelschicht und Unterschicht der working poor nicht nur einem diffusen Unbehagen an der eigenen Missachtung durch die gesellschaftliche Elite Ausdruck verleiht, sondern auch ihr „Recht“, nämlich einen größeren Anteil am Volkseinkommen, konkret einfordert. Um eine reine (Öko-) Steuerfeindlichkeit scheint es nicht zu gehen. Oft wird auch – etwas ungenau – der territoriale Gegensatz zwischen Stadt und Land hervorgehoben, in dem die Metropolen die Gewinner des Strukturwandels hin zur „Wissensökonomie“ sind, während „la province“ an Bevölkerung und sozialem Zusammenhalt verliert, den nicht zuletzt eine funktionierende öffentliche Infrastruktur ermöglichen kann.
Die politische Form der Revolte ist Gegenstand einer davon zu unterscheidenden Debatte, die gerade erst beginnt. Einerseits geht es um die Frage der Begrifflichkeit, die geeignet wäre, das unbestimmt „Neue“ der Bewegung einzufangen. Hier weist etwa Pierre Rosanvallon darauf hin, dass der Begriff der Revolte besser geeignet sei als derjenige der Revolution oder der sozialen Bewegung. Denn es handelt sich um eine Protestmenge ohne „Klassenbewusstsein“, konsentierte Programmatik und Führung, die sich erkennbar dagegen wehrt, von irgendeiner institutionellen, gar parteipolitischen Seite vereinnahmt zu werden oder auch nur Repräsentation in den „eigenen Reihen“ zuzulassen.
Andererseits werden Vergleiche zu historischen Aufständen gezogen. Keiner davon vermag jedoch letztlich zu befriedigen: Die „Jacqueries“ des Mittelalters richteten sich als extrem gewaltsame Bauernaufstände gegen Feudalherren, erzählen aber immerhin in dem Spottwort des „Jacques“ – ein „dummer Bauer“ – von sozialer Verachtung, wie sie auch den heutigen Zorn gegen Macron teilweise erklären mag. Edouard Louis spricht in dem Zusammenhang sogar von einem imaginierten Volk, das vom Großbürgertum als bloßes Objekt, nie als politisches Subjekt gedacht wird. Der „Poujadismus“ der 1950er Jahre war eine bürgerliche Antisteuerstaatsrevolte, die die Forderung nach einer Einheitssteuer und weniger staatlicher Gängelung ins Zentrum stellte. Auch hier besteht nur eine „hinkende“ Verwandtschaft, weil die Gelbwesten sich offenbar weniger aus einem homogenen Milieu rekrutieren und zudem soziale Gerechtigkeit priorisieren. Die „Große Revolution“ 1789 war eine Legitimitätskrise, in der sich ein neues politisches Legitimationssubjekt, der dritte Stand, erhob und „sein“ republikanisches Gemeinwesen erfand – nichts davon findet sich bisher in der sehr subjektivistischen Erhebung der Gelbwesten. Der Mai 1968 schließlich war primär eine Studierendenrevolte, die sich im Anschluss auch auf die Arbeiterklasse und weitere Milieus ausbreiten konnte. Formal war 1968 geradezu der Höhepunkt der streikförmigen Austragung von Protest, wie sie für die Industriemoderne prägend ist. Heute kehrt hingegen allmählich wieder der historische „Normalzustand“ zurück, wie ihn Joshua Clover beschreibt: ungeordnete „Riots“, die gerade nicht präzedenzlos sind. Man erinnere sich nur an die Krawalle im Hamburger Schanzenviertel anlässlich des G 20-Gipfels im Vorjahr, deren womöglich politischer Sinn vielleicht zu wenig ins Blickfeld geraten ist – man hat damals schnell „die üblichen Verdächtigen“ als Urheber ausgemacht. Schließlich spielt die (mediale) Aufmerksamkeitsökonomie eine zunehmende Rolle in der Wahl der Protestformen: Barrikaden werden nicht zur Verteidigung der eigenen kleinen Straßen errichtet, sondern letztlich funktionslos, aber symbolträchtig auf den großen Avenuen der Pariser Edelviertel.
Was die Organisationsform des Protests angeht, liegt eine bedeutende Kontinuität mit dem Arabischen Frühling in der großen Bedeutung der digitalen sozialen Netzwerke, die auch eine gewisse hyperindividualistische Bindungslosigkeit begünstigen mag.
Selten wurde bisher darauf hingewiesen, dass dem Gelbwesten-Protest auch eine institutionenpolitische Logik innewohnt. Wie in einem verzerrten Spiegelbild schaut Präsident Macron im Protest der Gelbwesten auf seine missraten-getreuesten politischen Jünger*innen. Es war Macron, der das französische Parteiensystem in seiner Rechts-Links-Balance zerstört hat. In seinem Regierungsstil offenbaren sich das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein eines Politikers, der weder rechts noch links, sondern liberal und vor allem „vernünftig“ regieren will. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“: bekanntlich ist der Goya-Aphorismus doppelsinnig. Macron hat sich nicht nur darin getäuscht, das Volk werde eine als „alternativlos“ vernünftig deklarierte Politik des „radikalen Zentrums“ goutieren. Er hat auch unterschätzt, dass die politische „Richtungslosigkeit“ reiner Vernunft in einer negativen Dialektik Ausschlüsse produziert, deren Opfer orientierungslos herumirren und schon formal zu chaotisieren gezwungen sind. Die „freien Radikale(n)“, die im Pariser Westen und anderswo zu beobachten waren, kennen wie Macron keine demokratische Logik des Kompromisses, sondern nur eine desorientierte Suche nach Wahrheit. Das ist zum Teil in der klassischen französischen Dialektik von zentralistischer Fünfter Republik mit präsidialer Machtkonzentration einerseits und antiautoritärer „Politik der Straße“ andererseits begründet. Doch die Form des Protests wandelt sich mit der Methode dessen, der das Präsidentenamt bekleidet, ja mehr noch: mit dem durch diesen verkörperten Legitimitätsglauben. Die Protestierenden verweigern als „Multitude“ jede politische Identifizierung und Kollektivierung, wie sich der Präsident und seine Mehrheit jede (linke/rechte) Ideologie verbitten.
Es wird sich zeigen, ob Macrons Erklärung vom Montagabend – sein partieller Kurswechsel im Sinne der Konsument*innen – diesen Geist wieder in die Flasche zwängen wird. Strukturell sind die Voraussetzungen dafür, wie dargelegt, nicht allzu günstig, die Geburt einer sozialen Bewegung gegen den Niedriglohnsektor durchaus denkbar. Noch immer aber ist es möglich, dass der Präsident mit seiner angekündigten neuen Methode des Dialogs und des Zugehens auf die gesellschaftlichen Intermediäre – vor allem die Kommunen – das „girondistische“ Versprechen seiner Wahlkampagne einlöst, einem dezentral-kommunikativen statt einem zentral-autoritären Liberalismus zu folgen. Er könnte dann tatsächlich die allzu isolierten Angehörigen der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) einander vertrauter machen. Für einen „positiven Frieden“ in der französischen Gesellschaft wäre gewiss mehr – und teils anderes – zu tun, als sich die Gelbwesten oder Macron erträumen: nicht zuletzt eine soziale Allianz von Provinz und Banlieue. Unter dem sozialökologischen Banner waren Ansätze davon bei der großen Pariser Demonstration am Samstag zu erkennen, in der grüne und gelbe Westen vereint marschierten. Ob diesem Bündnis die Zukunft gehört, wird sich erst erweisen müssen.
So diffus scheint mir das Unbehagen in der unteren Mittelschicht und der Unterschicht an der eigenen Missachtung durch die gesellschaftliche Elite nicht zu sein. Sondern ein Unbehagen, das vergleichsweise mit Konturen versehen ist: ein Unbehagen hinsichtlich der Kosten für Mobilität, der Höhe der Steuern und der eigenen Einkommensentwicklung.
Unklar ist mir, wie sich die 10 Milliarden auf die „rule of law“ hinsichtlich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auswirken. Wird keine Gegenfinanzierung durch niedrigere Ausgaben an anderer Stelle und/oder Steuererhöhungen vorgenommen, dürfte sich das Haushaltsdefizit im Verhältnis zum BIP (2.300 Mrd. Euro) um 0,4% erhöhen. Aber der Präsident der Hüterin der EU-Verträge; Herr Juncker, hat in diesem Zusammenhang ja bereits früher festgestellt, dass seine Behörde gegenüber Frankreich Nachsicht walten lasse: “weil es Frankreich ist.”
Hinsichtlich des Unbehagens haben Sie natürlich Recht – das scheint materielle (Einkommen/Kosten) wie auch ideelle (Respekt/Wertschätzung für eigene Arbeit) Ursachen zu haben. Was den Stabilitätspakt angeht, sollte Herrn Junckers Maxime nicht nur für Frankreich gelten, weil die Regeln des Pakts m. E. makroökonomisch sinnlos bis schädlich sind und lediglich Gläubiger (insbesondere in den Nordstaaten) bevorzugen sollen.
Gilt dann die „rule of law“ für Verträge, die makroökonomisch keinen Sinn machen, nicht mehr? Nichts mit „pacta sunt servanda“? Im Übrigen: Fragt man 10 Makroökonomen erhält man vermutlich mindestens ebenso viele unterschiedliche Antworten wie bei einer Frage an 10 Juristen. Treibt man einen Makroökonomen oder eine ausreichende Anzahl von Makroökonomen mit der passenden Ansicht auf, dann können solche Verträge in die Tonne getreten werden? Schließlich wurde der deutschen Bevölkerung der Abschied von der DM mit dem Hinweis auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt schmackhaft gemacht (der Euro als de luxe Ausführung der bisherigen DM). Wenn die Absicht bestanden haben sollte, Vertrauen in die Politik zu zerstören, hätte man dies nicht viel wirkungsvoller anstellen können.
Und was die Bevorzugung der Gläubiger insbesondere in den Nordstaaten angeht: von der Bundesbank werden erstaunliche Target2-Salden bilanziert (was aus dem Vertragswerk rund um den Euro resultieren dürfte).
Die Kommentarspalte hier dürfte sich für eine erschöpfende Diskussion der Konstruktionsdefizite der Währungsunion nicht eignen. Nur eine Anmerkung: wenn pacta sunt servanda gelten soll, muss Deutschland erstmal seinen Aussenhandelsüberschuss gegenüber den EU-Staaten massiv senken. Wir sind hier seit Jahren in krassem Masse vertragsbrüchig.
„Wir sind hier seit Jahren in krassem Masse vertragsbrüchig.“
Mit dem „Wir“ fremdel ich. Ich differenziere zwischen dem Staat und meiner Person (und auch anderen Personen).
Abgesehen davon: Die Defizitkriterien unterliegen dem staatlichen Handeln (Fiskalpolitik) in einem stärkeren Maße als der Außenhandelsüberschuss. Der Außenhandelsüberschuss dürfte vor allem vom Wechselkurs und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen abhängen. Die Bestellung von italienischem Sanitärporzellan für Schulen oder von französischen Schreibtischen für Rathäuser dürfte in Hinblick auf das Vergaberecht problematisch sein, wenn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der italienischen und französischen Anbieter nicht gegeben ist. Und einer Lohnpolitik, die zu steigenden Lohneinkommen und geringerer Wettbewerbsfähigkeit führt, dürfte durch die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) Grenzen gesetzt sein. Eine Anhebung des Mindestlohns dürfte Dienstleistungsunternehmen betreffen, die nicht grenzüberschreitend agieren. Der Einfluss auf den Außenhandelsüberschuss dürfte begrenzt sein. Die EU-Kommission ist meines Wissens bei der Prüfung der deutschen Außenhandelsüberschüsse über Vorschläge zur Stärkung der Binnennachfrage (staatliche Investitionen, Steuer- und Abgabensenkung) nicht hinausgekommen. Und da gibt es noch die Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 GG. Für eine alternde Gesellschaft dürfte eine Schuldenbremse von besonderer Bedeutung sein.