Der Wahlrechtsbrei köchelt weiter
Nicht mit Wumms, sondern mit Rumms, es war zäh und langwierig, doch am Ende mit einem effektiven, fairen Kompromiss – findet Söder. Zweifellos, dass man sich überhaupt einigen konnte, hatte kaum ein Beobachter mehr für möglich gehalten. Aber mit der Angst im Nacken, dass die nächste Bundestagswahl das Parlament zu einem Volkskongress chinesischer Größe verwandeln würde, konnten die Spitzen der Regierungskoalition dann doch eine Reform des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag verkünden. Seit sieben Jahren war in der Bundespolitik darum gerungen worden, ohne dass sich etwas an den verhärteten politischen Fronten zwischen Opposition und Regierung, vor allem aber zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD geändert hatte. Nun also der Durchbruch – der sich jedoch bei näherem Hinsehen als Kompromiss entpuppt, mit dem man sich Zeit erkauft.
Kleinster gemeinsamer Nenner
Wenn Politik schon allgemein als das Bohren dicker Bretter verstanden werden kann, braucht es für Konfliktlösungen, bei denen die Machtverteilung selbst auf dem Spiel steht – und um nichts anderes geht es beim Wahlrecht – noch einmal eine zusätzliche Portion an Geduld und Geschick. Vor diesem Hintergrund wird man die Regierungsparteien dafür loben können, immerhin den kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden zu haben. Die Gewinne und Verluste sind für beide Seiten überschaubar. So bleibt die Zahl an Wahlkreisen unverändert, was einer Forderung der SPD entspricht. Diese Forderung stützte zudem jüngst Sophie Schönberger in einem Gutachten, indem sie darlegte, dass im Falle eines Neuzuschnitts alle bereits laufenden und abgeschlossenen Prozesse zur Kandidatenaufstellung wiederholt werden müssten. Aber auch die Union hat etwas vorzuweisen, nämlich die Aussicht auf eine kleine Wahlsiegprämie: Bis zu drei Überhangmandate (ursprünglich wurde ein Maximum von sieben gefordert) müssen nicht durch Ausgleichsmandate der anderen Parteien kompensiert werden. Nach welchen Regeln diese drei Überhangmandate bestimmt werden, lässt das Papier der Koalition hingegen offen. Außerdem forderte die Union, die Wahlkreiszahl von 299 auf 280 zu reduzieren – diese Reduktion soll nun bereits für die übernächste Wahl festgeschrieben werden.
Ein heikler Aspekt der Reform wurde in bekannter großkoalitionärer Manier kleinverhandelt: Geplant ist, den ersten Zuteilungsschritt in der Weise zu verändern, dass Überhangmandate über die Wahlsiegprämie hinaus intern kompensiert, das heißt mit anderen Landeslisten der gleichen Partei verrechnet werden. Das kann für schwache Landesverbände erhebliche Nachteile mit sich bringen. Um Widerständen vorzubeugen, vor allem seitens jener CDU-Landesverbände, die im Norden der Republik zu verwaisen drohen – Hamburg ist mit drei Listen- und einem Wahlkreisabgeordneten in der Unionsfraktion vertreten, Bremen mit einem Listenabgeordneten –, wird eine föderal ausgewogene Verteilung der Mandate erhalten. Im Klartext bedeutet das, dass solche Landesverbände durch Untergrenzen, die etwa den ersten Listenplatz schützen, zumindest minimal berücksichtigt werden. Klar ist aber auch, dass Kompensationsregeln dieser oder ähnlicher Art ihrerseits die Dämpfungswirkung gegenüber den Überhangmandaten dämpfen.
Dass sich die SPD mit ihrer Forderung durchgesetzt hat, noch in dieser Wahlperiode eine Reformkommission einzurichten, die ihre Ergebnisse bis Juni 2023 vorlegen soll, zeigt vor allem eines: Das Thema ist noch lange nicht durch. Statt Rumms doch eher ein Brei, der am Köcheln gehalten wird.
Unterschiedliche Positionen
Der Weg zu diesem Kompromiss war mühsam. Nach langwierigen, erfolglosen Verhandlungen, die mit einem dead-on-arrival-Vorschlag des Moderators, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im April 2019 endeten, legten die Oppositionsfraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke im November einen Gesetzentwurf vor. Dieser sieht vor, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 zu reduzieren und die Gesamtsitzzahl von 598 auf 630 zu erhöhen. Außerdem soll das Sitzkontingentverfahren abgeschafft werden, welches als Nebenwirkung zusätzlichen Ausgleich verursacht.
Die SPD-Fraktion hatte sich Anfang März auf eine Linie geeinigt, die ein Übergangsmodell vorsah. Neben der Beibehaltung der Wahlkreise sollten Überhang- und Ausgleichsmandate nur bis zu einer Obergrenze von 690 Sitzen errungen bzw. zugeteilt werden können. Darüberhinausgehender Überhang sollte nach dem Prinzip des schwächsten Siegers gekappt und nicht zugeteilt werden. Die ebenfalls geforderte Einführung paritätischer Listen hat ihren Eingang in den Diskussionsauftrag der Reformkommission gefunden.
Als letzte Fraktion raffte sich die Unionsfraktion kurz vor der Sommerpause zu einer gemeinsamen Linie auf. Fraktionschef Brinkhaus hatte mit einem Deckelungsvorschlag inklusive Direktmandatskappung, der allerdings CSU und Teile der CDU per Rundfunk und Brandbrief auf die Barrikaden trieb, Bewegung in die interne Entscheidungsfindung gebracht, die am Abend des 30. Juni mit der oben umrissenen Verhandlungsposition ihren Abschluss fand – zu spät für eine Einigung vor der Sommerpause.
An den Grenzen des Systems
Die Bewertung des Koalitionskompromisses fällt vernichtend aus. Eine kleine Blütenlese: „Die Koalitionsspitzen haben einen Totalschaden für das Ansehen der deutschen Politik verhindert. Mehr aber auch nicht.“ „Es ist peinlich. Es ist jämmerlich. Es ist grotesk.“ „Die XXS-Reform“. „Ein paar kleine Notbremsen jetzt, eine echte Reform später, vielleicht“; der Mathematiker Christian Hesse spricht von einer „sehr geringen Bremswirkung“. Aus wissenschaftlicher Sicht wird der Kompromiss überwiegend skeptisch beurteilt. Die Opposition gibt sich natürlich unisono enttäuscht.
Die Reaktionen sind verständlich, denn die Einigung verhindert zwar im letzten Moment einen Totalschaden, doch das Reförmchen wird der eigentlichen Herausforderung nicht gerecht. In Bausch und Bogen wurde seinerzeit Schäubles Vorschlag von Koalitionären wie Opposition gleichermaßen abgelehnt. Ist das nicht eigentlich ein Gütezeichen? Die Rückschau offenbart jedenfalls, dass man nur ein wenig im Brei herumgerührt hat. Schäubles fünfzehn Überhangmandate ohne Ausgleich, eine Zahl, die etwas erratisch anmutet, aber aus der Feder der Verfassungsrichter stammt, wurden auf drei heruntergekocht – mutmaßlich getrieben von SPD-Drohungen, der eigenen Truppe die Abstimmung im Plenum freizugeben. Die Wahlkreisreduzierung, bei Schäubles 270er-Zielmarke noch verschrien, wird nun sanft auf die Zahl 280 eingestellt. Ein weichgekochter Brei, der nun auch noch auf Sparflamme in einer Kommission weiterköcheln darf, vermutlich bis er vollends ungenießbar wird.
Die genaue Ausgestaltung ist noch unklar, doch die Koalitionäre könnten bereits bei der nächsten Wahl eine böse Überraschung erleben, sollte der Bundestag weiter anwachsen; 750 Mandaten sind denkbar. Will man sich dann damit rechtfertigen, dass ohne Reform auch 800 Sitze möglich gewesen wären? So befeuert man Politikverdrossenheit. Das grundlegende Problem ist die „Hebelwirkung“ bei wachsender Asymmetrie zwischen Zweitstimmenverlust und Wahlkreissiegen. Haben die beiden Regierungsparteien in den 1980er Jahren noch gut 80 Prozent der Stimmen erhalten, sind es jetzt um die 50 Prozent. Gleichwohl gewinnt die CDU, von der CSU gar nicht zu reden, noch den Löwenanteil an Wahlkreisen, weil hierfür bisweilen kaum 25 Prozent genügen. Wächst jedoch der Anteil der politischen Konkurrenz an der Zweitstimmenverteilung, wächst auch die Zahl an Ausgleichsmandaten; und die föderale Komponente der Unterteilung in Landeslisten wirkt dabei noch als zusätzlicher als Katalysator. Mit anderen Worten: In einem Parteiensystem, in dem die Kleinen größer, die Großen kleiner und die Wählerinnen und Wähler gleichzeitig wählerischer werden, lässt sich der Ausgleich zwischen Erst- und Zweitstimme mit den bisherigen Mitteln nicht mehr vernünftig kontrollieren. Die Systemfrage ist überfällig.
Reformoptionen
Es gibt zahlreiche Vorschläge, was man angesichts der Malaise tun könnte. Hoch im Kurs steht die Reduktion der Wahlkreise, quasi im Vorgriff auf das zu erwartende Wachstum an Ausgleichsmandaten. Dabei nimmt man billigend in Kauf, dass die Verringerung der Zahl zu einer Vergrößerung der Repräsentationsgruppe führt. Wer an die „wunderschöne Erzählung“ einer persönlichen Bindung an den Vertreter des eigenen Wahlkreises nicht mehr länger glauben will, ist von diesem Hinweis ohnehin nicht sonderlich beeindruckt. Dementsprechend wird vorgeschlagen, die Erststimme gleich ganz abzuschaffen, oder die Zahl an Repräsentanten pro Wahlkreis zu erhöhen – auf diese Weise ließe sich die Geschlechterparität oder sogar Altersquotierung ebenfalls gleich realisieren. Aber der Preis dafür sollte doch zumindest benannt werden: Die ohnehin schon hohe Abhängigkeit der Gewählten von den Parteien würde weiter steigen.
Möchte man dagegen die Idee stärken, die sich mit der Erststimme ursprünglich verbindet, gibt es eine einfache Lösung: Der Wechsel von der relativen zur absoluten Mehrheitswahl, optional per Präferenzstimmen. 50 Prozent gewinnt man nicht „einfach so“. Diese Regel würde den demokratischen Wettstreit vor Ort deutlich beleben; es würde zugleich die Kooperationsbereitschaft zwischen jenen Parteien stärken, die sich auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen konnten. Da es außerdem darauf ankommt, wie unterscheidbar die Personen und die Programme, für die sie stehen, sind, lässt das absolute Mehrheitswahlrecht überdies erwarten, dass sich die Überhangmandate besser auf die politischen Lager verteilen.
Die geplante Reformkommission hat es mit eisenharten Brettern zu tun: neben der Wahlkreiszahl stehen auch die Geschlechterfrage und das Wahlalter auf dem Programm. Daher ist es wichtig, die richtigen Bohrer anzusetzen. Andernfalls nimmt das Wahlprinzip selbst Schaden.
Der “einfache” Vorschlag, bei der Erststimme auf absolute Mehrheitswahl umzustellen, dürfte das Problem in manchen Ländern nicht lösen (Bayern), in anderen nur auf andere Parteien verschieben. In Bayern gewönne die CSU dann immer noch alle oder fast alle Direktmandate und da sind und bleiben Überhangmandate richtig “teuer”. In anderen Ländern würden vielleicht die SPD oder die Grünen zahlreiche Wahlkreise direkt holen, aber bei einer 15 oder 20%-Partei führt das ziemlich schnell zu Überhängen.
Was das dann in der Summe für die Parlamentsgröße heißt, lässt sich schwer intuitiv vorhersagen (abgesehen von den Effekten der CSU-Überhänge, die relativ klar sind). Das müsste man mal solide für plausible Szenarien durchrechnen.
Zu einer Dämpfung führte das Ganze noch am ehesten, wenn interne ÜM mit Listenmandaten aus anderen Ländern verrechnet werden.
Zudem: Das legitime Ziel, die Aufstellung von Kandidat*innen nicht nur den Landesverbänden zu überlassen, sondern wenigstens zum Teil auch den Parteigliederungen in den Wahlkreisen, kann auch ohne die mythenüberladene Aufteilung in Erst- und Zweitstimme erreicht werden.