05 April 2019

Auf dem Weg zum Nationalen Volkskongress – warum die Geschichte der personalisierten Verhältniswahl auserzählt ist

Es war ein Scheitern mit Ansage. Als am Mittwoch die Nachricht durchsickerte, dass die bundestagsinterne Kommission, die Bundestagspräsident Schäuble zur Reform des Wahlrechts eingesetzt hatte, ihre Arbeit ohne Ergebnis abschließt, wird das nur wenige Beobachter überrascht haben. Denn im Bundestagswahlrecht ist, um es salopp zu formulieren, schon seit Jahren schlicht der Wurm drin. Seitdem das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2008 das geltende Bundestagswahlrecht aufgrund des Effekts des negativen Stimmgewichts für verfassungswidrig erklärt hat, versucht der Bundestag erfolglos, eine tragfähige Neuregelung zu finden. 

Die unendliche Geschichte der scheiternden Wahlrechtsreform

Der erste von der damaligen schwarz-gelben Mehrheit beschlossene Versuch scheiterte dabei bereits in Karlsruhe, bevor er überhaupt jemals zur Anwendung kommen konnte, weil er tatsächlich die von Karlsruhe aufgestellten Anforderungen nicht erfüllte. Der zweite Versuch, das seit 2013 bis heute geltende Wahlrecht, blieb zwar bisher von einer solchen Überprüfung verschont und fand bereits bei zwei Bundestagswahlen Anwendung. Gerade das Ergebnis der letzten Bundestagswahl hat jedoch gezeigt, wie wenig nachhaltig der hier gefundene Kompromiss tatsächlich ist. Denn alle (verfassungsrechtlichen) Probleme, die dem System des personalisierten Verhältniswahlrechts innewohnen, wurden in diesem Modell einseitig zu Lasten einer einzelnen Variable gelöst: der Gesamtgröße des Bundestags. Nur durch den Zufall, dass bei der Bundestagswahl 2013 fast 15 % der Wählerstimmen aufgrund der 5%-Hürde unberücksichtigt blieben, hielt sich der Anstieg der Mandatszahl in diesem ersten Durchlauf in einem halbwegs moderaten Rahmen und vergrößerte das Parlament lediglich auf 631 Mandate. Grund genug für die sorglosen politischen Akteure, alle Warnungen von Experten über die zukünftige Entwicklung in den Wind zu schlagen und mit diesem mangelhaften System auch in die nächste Wahl zu gehen. 

Hier schlug die Neuregelung nun aber im sich neu konstituierenden Sechs-Fraktionen-Parlament gleich deutlich in der Mandatszahl zu Buche und vergrößerte den Bundestag auf die sagenhafte Anzahl von 709 Abgeordneten. Nach dem Nationalen Volkskongress in Peking ist der Deutsche Bundestag damit nun das größte nationale Parlament der Welt. Und ein Ende nach oben ist kaum in Sicht. In der angesichts gegenwärtiger Wahlprognosen gar nicht mehr so unwahrscheinlichen Konstellation, dass eine Partei alle Wahlkreismandate erringt, jedoch nur einen Zweitstimmenanteil von 30 % auf ihre Landeslisten vereinigen kann, würde dies grob überschlagen zu einer Bundestagsgröße von 997 Abgeordneten führen. Grund genug auch, sich noch einmal mit den Funktionsbedingungen der Wahl und der Rolle, die politische Parteien dabei spielen, auseinanderzusetzen, wie es an diesem Wochenende eine Tagung in Düsseldorf tun wird.

Wolfgang Schäuble ist bereits der zweite Bundestagspräsident, der mit seinem Anliegen, eine Wahlrechtsreform durchzusetzen, gescheitert ist. Schon Norbert Lammert hatte in der letzten Legislaturperiode entsprechende Versuche unternommen, dabei von vornherein aber stärker auf einen eigenen Vorschlag als auf die Moderation einer Kompromissfindung gesetzt. Schäuble hingegen hatte zunächst eineinhalb Jahre lang versucht, einen Kompromiss zwischen den Fraktionen zu erreichen, bevor er sich nun mit einem eigenen Vorschlag vorwagte – der gleichwohl keinerlei Aussicht hat, als Kompromiss tatsächlich verwirklicht zu werden. 

Die große Schwierigkeit, bei diesem Thema eine politische Einigung zu erzielen, liegt zum einen in der Tatsache begründet, dass es sich bei Wahlrechtsänderungen um den Prototyp einer Entscheidung in eigener Sache handelt, und zwar sogar in doppelter Hinsicht. Wenn die Regeln für den Erwerb der Parlamentsmandate geändert werden sollen, ist zunächst einmal strukturell jede(r) Abgeordneter in seinen oder ihren eigenen Interessen betroffen, weil es zugleich immer auch um die Chancen geht, dass er oder sie auch in der nächsten Wahlperiode noch ein Bundestagsmandat erringen kann. Darüber hinaus sind mit jeder Wahlrechtsreform auch die ureigenen Machtinteressen der politischen Parteien betroffen, da es zum einen um das Erringen von Mehrheiten im Parlament für die von ihnen gestellten Abgeordneten geht, gleichzeitig aber auch um die strukturelle Machtverteilung innerhalb der Partei bei der Kandidatenaufstellung.

Man kann diesen Effekt sehr gut am Schäuble-Vorschlag veranschaulichen. Seine Idee geht dahin, zum einen die Anzahl der Bundestagswahlkreise von 299 auf 270 zu reduzieren. Gleichzeitig will er den kompletten proportionalen Ausgleich von Überhangmandaten, der als Reaktion auf die Rechtsprechung aus Karlsruhe 2013 eingeführt wurde, erst ab einer Zahl von 15 solcher Überhangmandate greifen lassen und somit reduzieren. Diese Zahl hatte das Bundesverfassungsgericht zuletzt relativ willkürlich als Marge festgesetzt, bis zu der das Anfallen von Überhangmandaten mit der Gleichheit der Wahl noch vereinbar sein könne. 

Jeder ist sich selbst der Nächste 

Mit diesem Vorschlag hat der Bundestagspräsident nun aber gleich alle politischen Lager gegen sich aufgebracht. Die Unionsseite sperrt sich vehement gegen die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise. Offiziell wird vorgebracht, dass eine solche Reduzierung und damit Vergrößerung der Wahlkreise zu einer noch größeren Bürgerferne der direkt gewählten Abgeordneten führen würde. Tatsächlich dürfte aber noch ein ganz anderer Aspekt ausschlaggebend sein: Im Moment werden 231 der 299 Wahlkreisabgeordneten von der Union gestellt. Nur 15 der insgesamt 246 Unionsmandate wurden über Landeslisten besetzt. Das bedeutet, dass die vorgeschlagene Reduzierung der Wahlkreise die innerparteiliche Kandidatenaufstellung innerhalb der Union sehr nachhaltig durcheinanderbringen würde. Die in diesem Fall aufflammenden Machtkämpfe um die neu zugeschnittenen Wahlkreise, die praktisch nicht mehr durch eine Absicherung auf der Landesliste abgefedert werden könnten, würden die beiden Schwesterparteien vermutlich in ernsthafte innerparteiliche Konflikte führen.

Umgekehrt wehren sich die Nicht-Unionsparteien vehement gegen den Vorschlag, die ersten 15 Überhangmandate ausgleichslos zu lassen. Zu Recht wenden sie insofern ein, dass in der Praxis diese Regelung einseitig der Union zugutekommen würde, da es nach den derzeitigen Wahlergebnissen wohl nur ihr gelingen würde, eine substantielle Anzahl von Überhangmandaten zu erringen. Der Vorschlag kommt insofern einer verdeckten Wahlkreisprämie nahe – oder auch einer versteckten Prämie fürs Stimmensplitting, die es dem Wähler jedenfalls noch in gewissem Ausmaß ermöglichen würde, ein doppeltes Stimmgewicht für seine Wahlentscheidung zu produzieren.

Hinzu tritt auch jenseits des konkreten Vorschlags die Schwierigkeit, überhaupt einen Kompromiss darüber zu finden, die Anzahl der Mandate zu reduzieren. Denn jedenfalls die sogenannten Hinterbänkler unter den Abgeordneten müssen fürchten, dass jedes Mandat, das einer Verkleinerung des Bundestags zum Opfer fiele, möglicherweise gerade ihr eigenes ist.

Die personalisierte Verhältniswahl gehört auf den Prüfstand

Vor diesem Hintergrund könnte es helfen, statt einer ewigen Suche nach kleinteiligen Anpassungen im geltenden System noch einmal grundsätzlich über das personalisierte Wahlsystem als Ganzes nachzudenken. Voraussetzung dafür wäre allerdings sich einzugestehen, dass die vielen wunderschönen Erzählungen, die wir seit Jahrzehnten um dieses Wahlsystem spinnen, zum Großteil entweder sachlich schlicht unzutreffend sind oder aber auf psychologischen Annahmen beruhen, für deren empirische Validität es keinerlei Anhaltspunkte gibt. 

Das betrifft zum einen das in der Debatte konsequent hochgehaltene Zwei-Stimmen-System, mit dem zum einen mit der Erststimme für einen Wahlkreisabgeordneten, zum anderen mit der Zweitstimme für eine Landesliste votiert wird. Da das Wahlsystem im Ergebnis auf einer reinen Verhältniswahl zwischen Kandidaten der politischen Parteien beruht, entscheidet allein die Zweitstimme über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestags. Der Erststimme soll hingegen die Aufgabe zukommen, ein Element der Personenwahl in das Wahlsystem zu integrieren. Die Frage, welche Personenwahl genau der Wähler mit Wahrnehmung seiner Erststimme trifft, d.h. zwischen welchen Wahlalternativen genau er sich entscheidet, scheint auf den ersten Blick banal, erweist sich aber als überaus diffizil und inkonsistent, wenn man sie in ihrer Wechselwirkung mit der Zweitstimme betrachtet. 

Der Wähler entscheidet nämlich mit seiner Erststimme nicht nur, ob Direktkandidat A oder Direktkandidat B in den Bundestag einzieht, sondern im gleichem Maße auch darüber, ob die Mandate, die der A-Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zustehen, durch den Direktkandidaten oder vielmehr durch einen Listenkandidaten besetzt werden sollen. Durch diese Verquickung zweier Wahlentscheidungen entsteht ein äußerst komplexes Entscheidungsmuster: Votiert ein Wähler sowohl mit seiner Erst- als auch mit seiner Zweitstimme für die A-Partei, so bringt er mit seiner Zweitstimme zunächst seinen Willen zum Ausdruck, dass die A-Partei möglichst viele Sitze im Bundestag erhält. Mit seiner Erststimme drückt er demgegenüber zweierlei aus: zum einen, dass er lieber den Direktkandidaten der A-Partei als einen anderen Direktkandidaten im Bundestag vertreten wissen möchte. Diese Auswahl geht über den Aussagegehalt seiner Zweitstimme nicht hinaus, da er hier ja bereits seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat, dass die A-Partei möglichst viele und damit mehr Mandate als alle anderen Parteien erhält. Insofern deckt sich die Wahlentscheidung aus der Erststimme mit derjenigen der Zweitstimme. Zum anderen bringt der Wähler aber – und hier kommt der Erststimme eigenständige Bedeutung gegenüber der Zweitstimme zu – zum Ausdruck, dass er lieber den Direktkandidaten als einen Listenkandidaten für die A-Partei im Bundestag sehen möchte. Freilich wird dem Wähler diese Entscheidungsalternative in den seltensten Fällen bewusst sein.

Votiert ein Wähler hingegen mit der Zweitstimme für die A-Partei, mit der Erststimme aber für den Wahlkreiskandidaten der B-Partei, liegt also ein Fall des sog. Stimmensplittings vor, so stellt sich die dahinterliegende Wertung als deutlich komplexer dar. Zunächst einmal bringt der Wähler mit seiner Zweitstimme auch hier seinen Willen zum Ausdruck, dass die A-Partei möglichst viele Sitze und damit mehr Sitze als die anderen Parteien im Bundestag erhält. Betrachtet man den Aussagewert der Erststimme demgegenüber zunächst isoliert, scheint er sich in Widerspruch zu demjenigen der Zweistimme zu setzen: Denn mit der Erststimme votiert der Wähler dafür, dass lieber der Kandidat der B-Partei als die Kandidaten anderer Parteien in den Bundestag einziehen soll. 

Als überhaupt in irgendeiner Weise nachvollziehbare Wahlentscheidung erweist sich dieses Verhalten nur, wenn man die wahlrechtliche Verquickung beider Stimmen in die Betrachtung einbezieht. Dann kann sich eine solche Form des Stimmensplittings nämlich zum einen als eine „wenn-schon-dann-aber“-Entscheidung darstellen: Der Wähler will zwar eigentlich, dass die A-Partei und nicht die B-Partei möglichst viele Sitze im Bundestag erhält. Wenn die B-Partei aber schon ein Mandat erringen kann, so soll dieses lieber von dem Direktkandidaten als von einem Listenkandidaten besetzt werden. Der Wähler übt in dieser Konstellation also eine Wahloption über die personale Zusammensetzung einer Bundestagsfraktion aus, deren Zustandekommen er mit seiner Stimme gar nicht unterstützt. 

Gerechtfertigt werden dieses wenig überzeugende Modell und alle aus ihm resultierenden Folgeprobleme etwa im Hinblick auf die Wahlrechtsgleichheit oder die Größe des Bundestags mit der immer gleichen Geschichte, nach der das Instrument der Wahlkreismandate auf der einen Seite zu einer engeren Beziehung des Wahlkreisabgeordneten zu seinem Wahlkreis und damit zu den Interessen und Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung führt, und auf der anderen Seite eine engere persönliche Bindung der Wähler an ihren Abgeordneten stärkt, letztendlich also dem im Demokratieprinzip wurzelnden Repräsentationsgedanken dient. Dieser zentrale Rechtfertigungsbaustein stellt jedoch nicht mehr als eine reine Hypothese dar, die bei näherer Betrachtung empirisch wenig valide erscheint. Der empirisch nachweisbare Befund, dass selbst im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Wahl mehr als 37 % der Wähler keinen einzigen Wahlkreiskandidaten benennen können und mehr als 20 % der Wähler sich lediglich an den Namen eines einzigen Kandidaten erinnern, legt insofern bereits mehr als nahe, dass ein solcher Effekt der besonderen persönlichen Bindung, wenn überhaupt, dann jedenfalls nicht besonders ausgeprägt sein kann. Hinzu treten die Wähler, die zwar mehr als einen Kandidaten benennen können, ihre Wahlentscheidung aber trotzdem nicht von der Person des Kandidaten, sondern von seiner parteipolitischen Bindung abhängig machen. Auch dieser Anteil der Wähler dürfte sehr erheblich sein. 

Gerade diese parteipolitische Bindung ist es auch, die für den Zeitraum nach der Wahl Zweifel an der These der besonderen persönlichen Bindung aufkommen lässt. Denn die Annahme, dass das beste Erststimmenergebnis eine engere persönliche Bindung an den Wahlkreiskandidaten bewirkt als die eigene parteipolitische Präferenz, erscheint doch bei näherer Betrachtung wenig plausibel. Dies gilt umso mehr angesichts der zunehmend knappen Ergebnisse, mit denen Wahlkreisabgeordnete ihr Mandat erringen. So erhielten bei der Bundestagswahl 2017 nur 13 der gewählten Wahlkreisabgeordneten ein Erststimmenergebnis von 50 % oder mehr, der höchste Erststimmenwert lag bei 57,7 %. Demgegenüber konnten 26 erfolgreiche Wahlkreiskandidaten nur ein Erststimmenergebnis erzielen, das unter 30 % lag. Der Mittelwert der Erststimmenergebnisse für die erfolgreichen Wahlkreiskandidaten lag bei 38,3 %. 

Radikaler Wechsel statt erzwungener Reform

Es ist also an der Zeit, sich von alten, liebgewonnenen, aber sachlich falschen Geschichten über das personalisierte Verhältniswahlsystem zu verabschieden und noch einmal grundsätzlich über das Wahlsystem nachzudenken. Ein Weg könnte dabei sein, das Wahlsystem zu einem ehrlichen Verhältniswahlsystem weiterzuentwickeln und Aspekte der Personalisierung und regionalen Verankerung etwa durch offene Listen, durch Aufstellung von Parteilisten unterhalb der Landesebene oder andere noch zu entwickelnde Maßnahmen zu berücksichtigen. Die Realisierungswahrscheinlichkeit für solch einen radikalen Wechsel ist zwar nicht besonders hoch. Sollte der Bundestag jedoch weiterhin nicht zu einer Neuregelung in der Lage sein, rücken Pekinger Verhältnisse immer näher. Am Ende müsste dann vermutlich wieder einmal Karlsruhe eingreifen – mit unabsehbaren Folgen.