Was kostet die Menschenwürde?
Das OLG Frankfurt hat dem wegen Mordes verurteilten Magnus Gäfgen am letzten Mittwoch eine Entschädigungszahlung in Höhe von 3000 € zugesprochen. Der Frankfurter Polizeibeamte Karlheinz Daschner hatte Gäfgen im Zuge der polizeilichen Ermittlungen von einem untergebenen Beamten Folter androhen lassen. Daschner selbst war für diese Drohung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat verurteilt worden, § 357 StGB. Die Entschädigungspflicht des Staates, die das OLG in Übereinstimmung mit der Vorinstanz nunmehr konkretisierte, hatte dem Grunde nach bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt.
Es irritiert, wenn ein Mörder einen solchen Ersatzanspruch zugesprochen erhält. Trotzdem gehört dies zur Normalität des Staatshaftungsrechts in einem Rechtsstaat, in dem keine noch so grauenhafte Straftat einen staatlichen Rechtsbruch rechtfertigen kann. Auf den zweiten Blick irritiert auch noch etwas Anderes: Wenn die Menschenwürde das höchste individuelle Rechtsgut ist, das unsere Verfassungsordnung kennt, dann stellt sich die Frage, wie man ihre Verletzung angemessen sanktionieren soll. Die genannten Sanktionen erscheinen in einem eigenartigen Zwischenreich. Moralisch mag man sie beide für unangemessen halten. Aber axiomatisch-juristisch wirken sie im Gegenteil eher niedrig. Die Menschenwürde wird vom Grundgesetz höher eingeordnet als das Leben. Das ergibt der Vergleich von Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 79 Abs. 3 GG mit Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG klar und deutlich. Kann aber dann eine vorsätzliche Verletzung der Menschenwürde so viel milder bestraft werden als ein Totschlag? Eine angemessene Lösung könnte darin bestehen, entgegen dem EGMR, auf jede vermögenswerte Entschädigung zu verzichten. Dies ist der übliche Weg für Grundrechtsverletzungen, die keine vermögenswerten Güter berühren: Für eine Verletzung der Meinungs- oder der Religionsfreiheit gibt es keinen Schadensersatz, sondern eben nur einen Anspruch auf Aufhebung der Maßnahme. Der Schadensersatz ist hier auch der abweichenden Sanktionslogik des europäischen Menschenrechtsschutzes geschuldet.
Freilich wird dieser Weg auch in einer rein deutschen Konstellation nicht einfach zu nehmen sein. Denn die meisten Konstellationen der Würdeverletzung dürften über den Körper verlaufen und damit auch einen Ersatzanspruch auslösen. So gesehen bleiben die Sanktionsregelungen sowohl des Strafrechts als auch des Deliktsrechts widerspruchsreich. Man kann diese Überlegung noch eine Stufe weiter treiben. Wenn es stimmt, dass der Staat aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG dazu verpflichtet ist, den Schwangerschaftsbbruch unter Strafe zu stellen (wie das Bundesverfassungsgericht behauptet), dann müsste dasselbe auch für eine Verletzung der Menschenwürde gelten, die eben mehr ist als eine Körpererletzung. Warum erscheint uns diese Überlegung kontra-intuitiv? Wohl auch, weil unsere Intuituionen dann doch Leben und Körper höher veranschlagen als einen vergeistigten Würdebegriff. So verständlich diese Intuition ist, akzeptieren können wir sie natürlich nicht, wollen wir uns nicht darauf einlassen, die Menschenwürde in einem Abwägungsbrei aufzulösen. So verfängt sich eine Rechtsordnung im Prinzipiellen und so bekommt das Bekenntnis zu einem höchsten Rechtsgut, dessen Verstoß niemand zu schützen bereit ist, schnell etwas Inkonsequentes, wenn nicht Unaufrichtiges.
Eine andere Lösung könnte darin bestehen, die Menschenwürde aus dem verfassungsrechtlichen Argumentationshaushalt zurückzuziehen. Viele wichtige Ergebnisse lassen sich auch anders begründen: das Recht auf ein Existenzminimum etwas aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Sozialstaatsprinzip. Ein absolutes Folterverbot, das keine Ausnahmen kennt, wäre besser durch eine klare Regel geschützt als durch ein in seiner Bedeutung umstrittenes Prinzip. Wie könnte eine solche Regel lauten? Etwa: Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden. So aber steht es bereits in Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG.
Liegt nicht auch ein Problem in der Konstruktion der Menschenwürde selbst? Sie ist vom Prinzip her unantastbar, kann also nicht angetastet werden. Das ist ja keine Sanktionsbestimmung, sondern ein Axiom. Was aber, wenn sie doch angetastet wird? Denn gleichzeitig schützt der Staat das Individuum ja durch die Rechtsorrdnung vor einer Verletzung der Menschenwürde, die qua Definition gar nicht möglich ist?
Die Menschenwürde als oberstes Verfassungsgut herauszunehmen halte ich für gefährlich. Das ist eine rechtspositivistische Auffassung, die letztlich die Lebensgrundlagen der Menschen dem aktuellen Gesetzgeberrwillen vollständig unterwirft. Eben mit dieser Begründung hat ein Staatsrechtler nämlich im Prinzip die Folter von Herrn Gefken für möglich erklärt.
Da keine Körperverletzung stattgefunden hat, finde ich die Höhe der Entschädigung ehrlich gesagt durchaus angemessen. Meiner Ansicht nach müsste sie bei tatsächlicher Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit höher sein.
Soweit ich die Dogmatik des BVerfG zu dem Punkt verstehe, kann die Menschenwürde tatsächlich nicht verletzt werden. Sie kann schlimmstenfalls missachtet werden. Auch ein Folterknecht kann einem Menschen seine Würde nicht nehmen.
zirp würde ich zustimmen bzw. noch konkretisieren, dass man so unterscheiden muss: Die Menschenwürde ist unantastbar. Der Achtungs- und Schutzanspruch auf menschenwürdige Behandlung, Art. 1 I 2 GG, kann aber verletzt und angetastet werden. Die Terminologie “Verletzung der Menschenwürde” ist also genau genommen nicht korrekt.
So sehr ich die Beiträge von Herrn Professor Möllers sonst schätze, diesem hier kann ich in vielen Dingen nicht zustimmen.
Dass unsere Intuitionen Körper und Leben höher als Würde einschätzen, halte ich bereits für äußerst fragwürdig. Und auch die vorgebrachte Kritik, die Menschenwürde dogmatisch “zurückzuziehen” oder auf einen Kernbereich zu reduzieren, scheint mir (nicht nur hier) verfehlt.
Es geht doch eher um ein dogmatisches und rechtspolitisches Problem: 1. Die Strafzumessung ist viel zu gering, (auch) weil in diesem Fall die öffentliche Meinung die Tat gutgeheißen hat. Das wäre bei einem Eingriff in Leben oder körperliche Integrität auch so bei einem vergleichbaren Fall (auch wenn dort zum Glück andere Mindeststrafen gelten).
2. Dogmatisch gibt es eine gewisse Begründungsschwierigkeit für Schadensersatzansprüche bei immateriellen Schäden. Durch das EGMR-Urteil war man nun aber gezwungen, eine Quantifizierung voruznehmen. Diese ist lächerlich gering ausgefallen.
Aus niedrigen Strafen und Entschädigungen aber auf eine fehlerhafte Anwendung oder einen zu weiten Anwendungsraum der Menschenwürde zu schließen ist weder zwingend noch allzu einleuchtend. Der Schluss, niemand sei die Würde zu schützen bereit, erscheint übereilt, wenngleich in diesen Urteilen (aber nicht in allzu vielen anderen) tatsächlich etwas “unaufrichtiges” liegt.
Die Rechtsordnung verfängt sich aber nicht im Prinzipiellen, wenn sie sinnvolle oberste Prinzipien hat und auch weiterhin intensiv und explizit schützt. Man sollte lieber diese Urteile und die Diskussion als Anlass nehmen, die Dogmatik auf solche neuen Grenzfälle und internationalen Verpflichtungen (EGMR) zu übertragen… und vielleicht kommen dabei neue Strafmaße, Entschädigungsregeln etc. herum. Ohne einen politischen Diskurs um solche Anpassungen den obersten Verfassungswert in seiner bisherigen Ausgestaltung infrage zu stellen, kann ich nicht nachvollziehen.
Tja, bleibt eigentlich nur noch die Definition von Würde. Nicht greifbar. Entspricht es der Würde eines Menschen, nicht wahllos und aus Habgier getötet zu werden? Dann dürfte es keine Abtreibung geben. Entspricht es der Würde des Menschen, ohne wenn und aber, als Mensch gesehen zu werden? Dann dürften Föten, nicht als Zellklumpen bezeichnet werden. Entspricht es der Würde, Menschen keine Gewalt androhen zu dürfen? Dann müssten wir Polizei und Militär abschaffen. Entspricht es der Würde des Menschen, nicht gefoltert zu werden? Dann dürfte man auch keine Beschneidungen an 8-tagealten Säuglingen vornehmen.
Würde ist ein hohles Schlagwort, was bis zur Unkenntlichkeit verbogen worden ist. Es wird fast ausschließlich als Todschlagskeule für rethorische Zwecke benutzt. Schade eigentlich. So hatten die Eltern des Grundgesetzes, sich sicher nicht, diesen Artikel des Grundgesetzes, in seiner heutigen Anwendung, vorgestellt.
Grüße, Rudi Gems
Wie wird also die tätlich verletzte Menschenwürde eines minderjährigen oder schutzbefohlenen Menschen z.B.sexuelle Übergriff von erwachsenen Personen strafrechtlich bewertet, da das Leben des Opfers auch weiter geht