Kein vorbeugender Rechtsschutz gegen EU-Eigenmittelbeschlüsse
Der Tagespresse lässt sich entnehmen, dass ein „Bündnis Bürgerwille“ vor dem Bundesverfassungsgericht gegen „die Finanzierung der EU-Corona-Hilfen“ vorgehe. Hierzu sei eine Verfassungsbeschwerde nebst Antrag auf einstweilige Anordnung angekündigt. Damit verbunden sei eine Bitte an das Gericht, den Bundespräsidenten darum zu ersuchen, „der ständigen Staatspraxis entsprechend“, das betreffende Gesetz vorläufig nicht auszufertigen.
Was steckt dahinter? Gegenstand der angekündigten Verfassungsbeschwerde dürfte das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG) sein, das sich derzeit im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren befindet. Mit diesem Gesetz sollen in Deutschland die Voraussetzungen für das Inkrafttreten des jüngsten Eigenmittelbeschlusses (EU, Euratom) 2020/2053 geschaffen werden. Eigenmittelbeschlüsse sind spezifische Rechtsakte des EU-Haushaltsrechts. Ihr Hintergrund ist Art. 311 Abs. 2 AEUV wonach der EU-Haushalt, unbeschadet der sonstigen Einnahmen, vollständig aus Eigenmitteln finanziert wird. Hierzu heißt es in Art. 311 Abs. 3 AEUV:
Der Rat erlässt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einen Beschluss, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden. Darin können neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt oder bestehende Kategorien abgeschafft werden. Dieser Beschluss tritt erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft.
Der jetzige Eigenmittelbeschluss soll den bisherigen, der von 2014 datiert, ablösen. Er bringt verschiedene Neuerungen, u.a. eine neue Eigenmittelkategorie aus einer Abgabe auf nicht recycelte Verpackungsabfälle. Zudem sieht er Anpassungen infolge des Brexit vor. Stein des Anstoßes ist aber Art. 5 des Beschlusses. Danach wird die Kommission ermächtigt, im Namen der Union an den Kapitalmärkten Mittel bis zu 750 Mrd. EUR aufzunehmen. Diese Vorschrift bildet die haushaltsrechtliche Grundlage für die Recovery and Resilience Facility, Kernstück des Instruments NextGenerationEU. Damit sollen die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie durch die Vergabe von Krediten und Zuschüssen an Mitgliedstaaten abgemildert werden. Soweit öffentlich bekannt, soll ein Argument der Beschwerdeführer sein, dass die Kreditermächtigung gegen Art. 311 AEUV verstoße, weil Schulden „Fremdkapital“ und keine „Eigenmittel“ seien (ob die augenscheinliche Analogie zur Unterscheidung von Eigen- und Fremdkapital in der Betriebswirtschaftslehre trägt, sei hier dahingestellt).
Was aber hat nun der Bundespräsident damit zu tun? Nach ständiger Rechtsprechung sind sowohl Verfassungsbeschwerden als auch Eilanträge gegen ein Gesetz grundsätzlich nicht vor dessen Verkündung zulässig. Hiervon kann nur in Ausnahmefällen abgewichen werden, wenn effektiver Grundrechtsschutz andernfalls nicht gewährleistet werden könnte. Ein solcher Ausnahmefall wird für Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen bzw. den EU-Verträgen anerkannt (Rn. 170). Diese können bereits vor Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und Verkündung im Bundesgesetzblatt (Art. 82 GG) angegriffen werden. So soll im Wesentlichen verhindert werden, dass die Bundesrepublik Bindungen eingeht, von denen sie sich nach einer eventuellen Feststellung einer Grundrechtsverletzung nicht mehr ohne weiteres lösen könnte (Rn. 88). Insofern sind in der Vergangenheit Fälle (Rn. 98) bekannt geworden, in denen der Bundespräsident (auf „Anregung“ des Gerichts) erklärt hatte, ein Ratifikationsgesetz bis zur Hauptsacheentscheidung nicht auszufertigen.
Auf das ERatG lässt sich das indes nicht übertragen. Zwar mag im europarechtlichen Schrifttum umstritten sein, ob Eigenmittelbeschlüsse eine spezifische Kategorie des Primärrechts, des Sekundärrechts oder „irgendetwas dazwischen“ sind (ein Blick auf Art. 48 EUV einerseits und Art. 311 Abs. 3 sowie Art. 289 Abs. 3 AEUV andererseits spricht deutlich für Sekundärrecht, was offenbar kaum jemand zur Kenntnis nimmt). Fest steht jedoch, dass solche Beschlüsse, selbst wenn man sie als Teil des Primärrechts einstufen wollte, gleichwohl der Rechtskontrolle durch den EuGH unterlägen (vgl. etwa hier Rn. 30 ff.). Und sollte das Bundesverfassungsgericht die von den Beschwerdeführern aufgeworfene Frage der Auslegung von Art. 311 AEUV für entscheidungserheblich halten, so wäre es nach Art. 267 Abs. 3 AEUV (und seiner eigenen Rechtsprechung) verpflichtet, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten.
Die für vorbeugenden Rechtsschutz bei völkerrechtlichen Verträgen sprechende Befürchtung, nicht ohne weiteres zu lösende Bindungen einzugehen, besteht hier also nicht. Im Gegenteil besteht nachträglicher Rechtsschutz bei dem Gericht, dem ohnehin die letztverbindliche Auslegung (und ggf. Verwerfung) von Unionsrecht obliegt. Das Bundesverfassungsgericht sollte also dem vermeintlichen „Bürgerwillen“ dieses Mal nicht entsprechen.
Vielen Dank für diesen Beitrag. Kurze Frage: wem steht die letztverbindliche Auslegung über die Reichweite des Zustimmungsgesetzes zu?