Die verschiedenen Köpfe der EU-Kommission
Kann, wer über die Rechtswidrigkeit einer Handlung entscheidet, hinterher wegen derselben Schadensersatz fordern? Über eine solche Konstellation hatte heute der EuGH zu entscheiden, und zwar im Kartellrecht. Und es stellt sich heraus, dass es gegen die intuitive Ungerechtigkeit derselben im Unionsrecht keine Handhabe gibt.
Aber vielleicht trügt die Intuition ja auch.
In dem Fall ging es um ein Kartell im Aufzug- und Fahrtreppenbau. Die EU-Kommission hatte zuerst einen Wettbewerbsverstoß festgestellt und dann vor einem belgischen die Teilnehmer auf Schadensersatz verklagt – denn, so die Begründung, die EU hatte in ihren Gebäuden Aufzüge und Rolltreppen eingebaut, für die sie wegen des Kartells zu viel bezahlt hatte. Die nationalen Gerichte sind unionsrechtlich bei der Frage, ob ein Wettbewerbsverstoß vorlag oder nicht, an die Entscheidung der Kommission gebunden.
Die Kartellteilnehmer suchten Rat in der Grundrechtecharta und der EMRK und glaubten sie im Grundsatz des fairen Verfahrens zu finden: Niemand dürfe Richter in eigener Sache sein.
Da sei nichts dran, befindet jetzt der EuGH, wie zuvor schon Generalanwalt Cruz Villalón. Dass die nationalen Gerichte sich nicht über die kartellrechtliche Vorentscheidung der Kommission hinwegsetzen dürfe, sei kein Eingriff in das Recht auf ein faires Verfahren, sondern eine ganz normale Folge der Zuständigkeitsverteilung zwischen nationaler und europäischer Justiz in der EU. Und die Kommission entscheide nicht frei nach Gusto, sondern unterliege umfassender gerichtlicher Kontrolle:
Der Einwand (…), diese gerichtliche Kontrolle erfolge durch den Gerichtshof, an dessen Unabhängigkeit Zweifel bestünden, weil er selbst ein Unionsorgan sei, entbehrt jeder Grundlage angesichts der in den Verträgen verankerten Garantien, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtshofs gewährleisten, und des Umstands, dass jedes Rechtsprechungsorgan zwangsläufig Teil der staatlichen oder überstaatlichen Organisation ist, zu der es gehört, was für sich allein nicht zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK führen kann.
Mich fasziniert an dem Fall sein Schillern zwischen Privat und Öffentlich: Das Problem entsteht dadurch, dass die EU, vertreten durch die Kommission, mal hoheitlich, mal als privater Wirtschaftsteilnehmer ins Spiel kommt. Zumal die private Durchsetzung des Kartellrechts ausdrückliche Policy der EU-Wettbewerbshüter ist. Als zivilrechtliche Konstellation betrachtet schafft hier jemand eine Tatbestandsvoraussetzung für seinen Schadensersatzanspruch erst selber.
Öffentlich-rechtlich betrachtet stimmt das aber gar nicht: Dass das Tatbestandsmerkmal erfüllt ist, dafür hat doch zu allererst mal niemand anders als das Kartell gesorgt. Die Kommission hat dasselbe zwar festgestellt, aber ein Kartell wird das, was die Unternehmen da untereinander ausgekartet hatten, so oder so gewesen sein. So abgekocht rechtskonstruktivistisch wollen wir die Sache nun auch wieder nicht betrachten, dass wir tatsächlich glauben würden, erst das Urteil mache aus einem neutralen Sachverhalt einen Rechtsverstoß.
Dass die EU mal hoheitlich, mal als privater Wirtschaftsteilnehmer gegenüber einem Unternehmen auftritt, ist unvermeidlich. Die “intuitive Ungerechtigkeit” folgt aus dem Rollenpluralismus der Kommission im Europäischen Wettbewerbsrecht: Sie ist nicht nur Verwaltungsbehörde, sondern zugleich Gesetzgeber (die Gruppenfreistellungsverordnungen erlässt sie im Alleingang) und – zumindest im weitesten Sinne – Gericht (so z. B. US Supreme Court, Intel ./. AMD) und nun auch noch privater Kläger. Das Sahnehäubchen: Als privater Kläger kommt ihr dann zu Gute, dass das Gericht qua Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003 an ihre Entscheidung gebunden ist.
Das Urteil des EuGH überrascht dagegen nicht.