Der Fall Brandstetter und der österreichische Verfassungsgerichtshof
Am 8. Juni d.J. trat Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter von seinem Amt als Verfassungsrichter, das er seit 2018 bekleidet hatte, zurück – nach Spekulationen in den Medien, um einem Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen.
Den Anlass bildeten private Chat-Nachrichten, die Brandstetter mit dem Sektionschef im Justizministerium Christian Pilnacek ausgetauscht hatte. Sie waren in einem (an sich eine ganz andere Thematik betreffenden) Untersuchungsausschuss des Nationalrats bekannt geworden und durch eine Indiskretion von Abgeordneten der Opposition an die Öffentlichkeit gelangt. Brandstetter und Pilnacek hatten darin u. a. ihr Missfallen an zwei Entscheidungen des VfGH – das Kopftuchverbot an Volksschulen und die Strafbarkeit der Sterbehilfe –, an denen Brandstetter mitgewirkt hatte, ausgetauscht. Brandstetter hatte dabei möglicherweise auch das Beratungsgeheimnis verletzt. Für Empörung in der Öffentlichkeit sorgten aber vor allem Äußerungen Pilnaceks, der sich den VfGH nach Kuba wünschte, wo die nicht-weiße Vizepräsidentin mit Freuden empfangen werden würde und eine andere Richterin eine gute Müllfrau abgäbe. Brandstetter widersprach dem nicht ernstlich. Seinen Rücktritt hatte er nach dem – möglicherweise rechtswidrigen – Bekanntwerden dieser Chat-Nachrichten zunächst für Ende Juni angekündigt, aber nach einer Aussprache im Plenum des Gerichtshofs sofort vollzogen.
Brandstetter war 2018 fast nahtlos von seinem Amt als Bundesminister für Justiz in den VfGH gewechselt, hatte aber offensichtlich weiterhin enge Kontakte zu seinem früheren Ministerium, die offensichtlich auch mit seiner wieder aufgenommenen Tätigkeit als Strafverteidiger zusammenhingen. Damit wirft dieser Fall auch ein Schlaglicht auf eine spezifische Eigenheit der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit: Die Richter üben ihr Amt nebenberuflich aus. Sie sind aus den unterschiedlichen juristischen Berufen auszuwählen. Das soll eine Vielfalt juristischer Erfahrungen garantieren und ist gerade für ein Verfassungsgericht eine sehr sinnvolle Regelung, die auch einem internationalen Standard entspricht. Aber, und das ist eine Besonderheit des „österreichischen Modells“: die Verfassungsrichter bleiben in diesen Berufen weiterhin tätig, als Richter an anderen Gerichten, als Hochschullehrer, als Anwälte, als Mitglieder von Aufsichtsräten oder sonstwie in der Privatwirtschaft. Lediglich Verwaltungsbeamte sind außer Dienst zu stellen (Art. 147 Abs. 2 B-VG).
Diese Nebenberuflichkeit ist wohl nur mit dem Alter des VfGH zu erklären: Er wurde 1920 errichtet und ist somit das älteste spezifische Verfassungsgericht in Europa, wenn nicht der Welt. (Der US-Supreme Court ist kein besonderes Verfassungsgericht, auch wenn er seit Marbury v. Madison Verfassungsgerichtsbarkeit ausübt.) Man konnte sich zur Zeit seiner Gründung wohl nicht vorstellen, dass Verfassungsgerichtsbarkeit eine volle Berufstätigkeit ausfüllen könnte. Es waren in der Tat nur wenige Fälle, die der Gerichtshof in den 1920er Jahren zu entscheiden hatte. Das hat sich freilich inzwischen radikal verändert – auch wegen seiner inzwischen ständig erweiterten Kompetenzen. So hatte er beispielsweise allein im Jahr 2018 5481 Fälle zu „erledigen“ (so die Terminologie des jährlichen Tätigkeitsberichts).
Die Nebenberuflichkeit der Richter wirft zum einen Fragen der Qualität der Entscheidungen auf: In nicht wenigen Fällen wäre eine eingehendere Begründung wünschenswert und daher wohl auch eine längere Beratung – und dies nicht nur in der regelmäßigen „kleinen Besetzung“ – erforderlich. Dies würde aber etwa einem Rechtsanwalt oder einer Tätigkeit in der Privatwirtschaft kostbare Zeit abverlangen.
Diese Nebenberuflichkeit wirft aber auch Fragen der Befangenheit auf. Das trifft in besonderem Maß auf Anwälte zu: Wer in seinem Hauptberuf private Interessen zu vertreten hat, mag auch in Fällen, in denen er/sie nicht „befangen“ im rechtlichen Sinne ist und daher ohnehin ausgeschlossen wäre, von solchen Interessen geleitet sein, und sei es auch nur unbewusst – so wie sich umgekehrt ein Klient von einem Verfassungsrichter als Anwalt auch in Verfahren außerhalb des VfGH spezifische Vorteile erwarten mag. Als Anwalt bleibt ein Richter eng mit privaten Interessen verflochten. Das illustriert auch der „Fall Brandstetter“, worüber seine spezifische Verflechtung mit einem Bundesministerium, die ihn letztlich zu Fall brachte, nicht hinwegtäuschen kann.
Die Nebenberuflichkeit der Verfassungsrichter ist daher in hohem Maß überdenkenswert.
In einer früheren Version dieses Artikels war irrtümlich davon die Rede, dass Brandstetter als Rechtsanwalt tätig war. Das ist streng genommen nicht korrekt: Er war als Professor für Strafrecht als Strafverteidiger tätig, ist aber kein zugelassener Rechtsanwalt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Wolfgang Brandstetter war zu keinem Zeitpunkt jemals “Rechtsanwalt”.
Er ist vielmehr Professor für Wirtschaftsstrafrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Als Strafrechts-Ordinarius darf er gem. § 48 (1) Z 5 3. Fall StPO als Strafverteidiger tätig sein, jedoch nicht als Rechtsanwalt.
Lieber Theo, danke für das Teilen dieses aufschlussreichen Artikels zum Thema “Fall Brandstetter”. Ich fand den Artikel richtig spannend und habe daraus Einige neue Informationen zu diesem Fall erlangt. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg.
… sehr interessant und erstaunliche Situation in Österreich