Ausgesetzte Wehrpflicht?
Ein wenig fühlt es sich an, als wäre man in die Zeit des Kalten Krieges zurückversetzt: Russland führt einen völkerrechtswidrigen und grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Sinnhaftigkeit der NATO als einem Verteidigungsbündnis wird selbst in der „linken“ Satiresendung „Die Anstalt“ nicht mehr in Frage gestellt und wer vor einem Dritten Weltkrieg warnt, wird nicht mehr belächelt, sondern (leider und zu Recht) allzu ernst genommen. Was Krieg wirklich bedeutet und wie fragil die internationale Ordnung ist, wird vielen – so scheint es – erst jetzt bewusst, wo die Gefahr so nah und die eigene Betroffenheit so unmittelbar erscheint. Als besonders verstörend wird nicht zuletzt der Umstand wahrgenommen, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine aktuell nicht mehr verlassen dürfen, sondern zur Wehrpflicht herangezogen werden. Wäre das im Falle eines Angriffskrieges gegen Deutschland auch denkbar? Kann man also auch in Deutschland zur militärischen Verteidigung verpflichtet werden? Ist die Wehrpflicht nicht ausgesetzt? Dürfte sie wiedereingeführt werden?
Art. 12a GG als zentrale grundgesetzliche Bestimmung
Die zentrale grundgesetzliche Bestimmung zur Beantwortung dieser Fragen ist eine, die sowohl in Vorlesungen und spätestens seit dem Jahr 2011 wohl auch in der Praxis (glücklicherweise) keine besondere Rolle spielt: Art. 12a GG. In seinem ersten Absatz ist festgelegt, dass Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden können. Die Idee einer solchen Allgemeinen Wehrpflicht geht nicht erst auf die Französische Revolution zurück, sondern findet bereits im republikanischen Rom Vorläufer. Auch bei den Germanen galt für alle wehrhaften Männer die Verpflichtung, mit eigener Ausrüstung Kriegsdienst zu leisten. Das Aufkommen von Söldnerheeren drängte die allgemeine Wehrpflicht allerdings in den Hintergrund und erst im 18. Jahrhundert gewann der Gedanke einer allgemeinen Wehrpflicht als republikanische Bürgerpflicht wieder Gestalt, um dann in der französischen Revolution erstmals zur verfassungsrechtlichen Grundpflicht zu erstarken. Andere kontinentaleuropäische Staaten übernahmen diese Konstruktion, wir finden die Wehrpflicht daher ebenso in der Paulskirchenverfassung von 1848/1849 wie in der Reichsverfassung von 1871. In der Weimarer Verfassung wird die Wehrpflicht durch den Versailler Vertrag praktisch suspendiert und erst 1935 wiedereingeführt, um nach der Kapitulation 1945 bereits zehn Jahre später wieder zu enden. Der heutige Art. 12a GG wird schließlich 1968 in das Grundgesetz eingeführt.
Diese verfassungsrechtliche Grundlage ist offenkundig nicht ausgesetzt und auch im Übrigen vermittelt der Begriff der „Aussetzung“ möglicherweise verfehlte Erwartungen, die ihren Ursprung wohl darin haben, dass der Begriff „Wehrpflicht“ gemeinhin mit dem – in der Tat ausgesetzten – „Grundwehrdienst“ gleichgesetzt wird. Seit dem Jahr 2011 wird also tatsächlich niemand mehr zur Ableistung des Grundwehrdienstes herangezogen. Nach § 2 Wehrpflichtgesetz (WPflG) gilt das allerdings nur außerhalb des Spannungs- und Verteidigungsfalls. Sollte dieser vom Bundestag festgestellt werden – der Verteidigungsfall ist in Art. 115 Abs. 1 GG geregelt, der Spannungsfall wird von der Verfassung nicht näher definiert – sind die §§ 3-53 WPflG also weiterhin geltendes Recht und selbstverständlich anzuwenden. Sprachlich präziser müsste man also von einer einfach-rechtlichen Aussetzung der Wehrpflicht außerhalb des Spannungs- und Verteidigungsfalles sprechen – da eine solche Situation bisher allerdings kaum vorstellbar erschien, erweist sich die sprachliche Ungenauigkeit als jedenfalls nachvollziehbar.
§ 4 WPflG listet die Arten des Wehrdienstes auf – es gibt keineswegs nur den Grundwehrdienst, an den die meisten bei diesem Begriff vermutlich denken. In § 4 Abs. 1 Nr. 7 WPflG findet sich der für unsere Konstellation in Betracht kommende unbefristete Wehrdienst im Spannungs- und Verteidigungsfall. Verpflichtet diesen abzuleisten sind danach alle Männer zwischen dem vollendeten 18. und 60. Lebensjahr. Im Spannungs- und Verteidigungsfall endet die Wehrpflicht nach § 3 Abs. 5 WPflG also ebenso wie in der Ukraine erst mit der Vollendung des 60. Lebensjahres.
Ausreiseverbot im Spannungs- und Verteidigungsfall?
Wäre es denkbar, dass im Spannungs- und Verteidigungsfall den Männern dieser Altersgruppe die Ausreise aus dem Bundesgebiet pauschal untersagt wird? Die Antwort lautet wohl: Ja. Bei der Wehrpflicht handelt es sich eben tatsächlich um eine Pflicht, der man sich nicht einfach dadurch entziehen darf, dass man vor einer formellen Einziehung das Land verlässt. Tatsächlich sieht § 3 Abs. 2 WPflG bereits vor (auch wenn er außerhalb des Spannungs- und Verteidigungsfalls aktuell ausgesetzt ist), dass potenziell wehrpflichtige Männer ab Vollendung des 17. Lebensjahres einer Genehmigung des zuständigen Karrierecenters der Bundeswehr bedürfen, wenn sie das Land mehr als drei Monate verlassen wollen, sofern ihre Wehrpflicht nicht nach § 1 Abs. 2 WPflG ausnahmsweise ruht. Als der Grundwehrdienst nicht ausgesetzt war, hätte man mithin vor einem eventuellen Schulaustausch diese Genehmigung einholen müssen (was allerdings nur selten erfolgt sein dürfte). Zu klären wäre allein, ob eine solche Anordnung, das Land vorerst nicht zu verlassen, per Gesetz erfolgen müsste. Angesichts der Bedeutung einer solchen Entscheidung wird man das annehmen müssen. Ein solches Gesetz wäre allerdings schnell verfasst und träte vermutlich innerhalb weniger Tage in Kraft (zu den besonderen Gesetzgebungsverfahren im Verteidigungsfall siehe Art. 115d und 115e GG).
Allerdings, so ließe sich einwenden, besteht nach Art. 12a Abs. 2 GG das Recht, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern. Dieses Recht besteht natürlich auch (und gerade) im Spannungs- und Verteidigungsfall. Bestünde damit nicht zumindest unter Berufung auf diesen Artikel die Möglichkeit auszureisen – trotz theoretischer Wehrpflicht? Die Antwort lautet diesmal leider: Nein. Bei dem Dienst nach Art. 12a Abs. 2 GG handelt es sich um einen vollwertigen Ersatzdienst, der an die Stelle des gewöhnlichen Wehrdienstes tritt. Eine Totalverweigerung – also des Wehr- und des Ersatzdienstes – erlaubt das Grundgesetz nicht. Man wird durch Art. 12a Abs. 2 GG seine Pflichten also nicht gänzlich los, muss sie lediglich in anderer (nicht-militärischer) Form wahrnehmen. Zudem setzt eine Berufung auf Art. 12a Abs. 2 GG die Anerkennung als Wehrdienstverweigerer voraus – die eigene Aussage, den Kriegsdienst verweigern zu wollen, reicht also unter keinen Umständen aus. Insofern bleibt es dabei: Es wäre auch in Deutschland möglich, im Spannungs- und Verteidigungsfall eine Ausreise wehrpflichtiger Männer zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit prinzipiell zu untersagen. Ob ein solches Gesetz tatsächlich erlassen wird, ist eine rein politische Frage.
Und die Frauen? Hier findet sich die entscheidende Regelung in Art. 12a Abs. 4 GG. Diese können danach im Verteidigungsfall (und nur im Verteidigungsfall) zu zivilen Dienstleistungen im Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation herangezogen werden. Das gilt allerdings nur insoweit, als der Bedarf an diesen Dienstleistungen nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden kann. Insofern wäre das allgemeine Verbot einer Ausreise auch erst in einem solchen Fall (wenn überhaupt) denkbar.
Das Ende vom Ende der Geschichte…
Diese wenigen Ausführungen sollen genügen, die Details lassen sich in einer der gängigen Kommentierungen des Art. 12a GG nachlesen – wenn man das denn will. Die neue Welt, in der wir nach dem 24. Februar erwacht sind, wirkt tatsächlich, wie eingangs erwähnt, wie aus einer anderen, längst vergangenen Zeit; das vermeintliche Ende der Geschichte scheint vorbei. Daran werden wir uns wohl erst noch gewöhnen müssen. Die zentrale Aufgabe moderner Staatlichkeit, für Frieden und Sicherheit seiner BürgerInnen zu sorgen, rückt wieder in das Zentrum. Wahrlich verrückte Zeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Spannungs- oder gar Verteidigungsfall und damit zur Aktivierung der allgemeinen Wehrpflicht kommt ist allerdings – das sei zur Beruhigung betont – weiterhin sehr gering. Aber wenn es soweit sein sollte, ist die Bundesrepublik ebenso wie die meisten demokratischen Verfassungsstaaten alles andere als zimperlich.
Vielen Dank für Ihren Überblicksbeitrag zu diesem auf einmal wieder relevanteren Thema!
Nachdem ich einmal im WPflG gestöbert habe, möchte ich aber anfragen, ob es wirklich eines neuen Gesetzes bedürfte, um Männern im wehrpflichtigen Alter im Spannungs- und Verteidigungsfall die Ausreise zu verbieten. Es gibt nämlich mit § 48 Abs. 2 iVm Abs. 1 S. 1 Nr. 5 lit. b WPflG bereits eine Ermächtigungsgrundlage dafür: In diesem Fall “haben männliche Personen, die das 17. Lebensjahr vollendet haben, auf Anordnung der Bundesregierung die Genehmigung des zuständigen Karrierecenters der Bundeswehr einzuholen, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland verlassen wollen.”
Nach aktuellem einfachen Recht könnte die Bundesregierung im Spannungs- und Verteidigungsfall also eine Genehmigungspflicht für Ausreisen anordnen. Die dürfte wohl auch an den Grenzen von der Bundespolizei kontrolliert und ggf. die Ausreise verhindert werden.
Ob diese Beschränkung der Ausreisefreiheit mit grund- und europarechtlichen (Freizügigkeit!) Vorgaben in Einklang stehen, wage ich nicht zu beurteilen.
Hoffen wir, dass diese Fragen niemals relevant werden werden.