Die anderen Herzkammern der Demokratie
Einleitung zur Blog-Debatte "Parteitage"
Parteitage sind das Herzstück der innerparteilichen Demokratie. Wenn das Grundgesetz den Parteien abverlangt, dass ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen muss, dann sind Parteitage das zentrale Instrument, mit dem dieses verfassungsrechtliche Gebot, das gleichzeitig Teil eines demokratischen Versprechens ist, eingelöst wird. Im deutschen Parteiengsetz stehen sie in der Mitte aller innerparteilichen Willensbildung. Die zentralen Richtungsentscheidungen der Parteien dürfen nur durch sie getroffen werden. Im innerparteilichen Bereich füllen sie damit in weiten Teilen die Funktion aus, die im staatlichen Bereich Parlamenten zukommt.
Wie Parlamente sind auch Parteitage zunächst einmal physische Zusammenkünfte von Entscheidungsträgern. Sie basieren maßgeblich auf dem Prinzip körperlicher Präsenz. Während auf der Orts- und Kreisverbandsebene diese Präsenz in der Regel zumindest potentiell alle Parteimitglieder umfasst, werden auf höheren Verbandsebenen die Parteitage in der Regel als Delegiertenversammlungen abgehalten. Das Prinzip der Präsenz wird dann ergänzt durch das Prinzip der Repräsentation, der Parteitag nähert sich noch weiter der parlamentarischen Versammlung an. Dieses innerparteiliche Repräsentationsprinzip ist gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben, aus praktischen Gründen aber oft fast unausweichlich. Exemplarisch kann dies an der jüngeren Entwicklung der AfD beobachtet werden. Als „Anti-Establishment-Partei“ war sie in ihren Anfangsjahren sehr stark von dem Bemühen geprägt, möglichst viel direkte Mitgliederpartizipation zu ermöglichen. Ihre Versuche, Bundesparteitage als Mitgliederparteitage zu organisieren, endeten allerdings regelmäßig in einem logistischen Desaster, so dass auch sie mittlerweile flächendeckend zum Prinzip des Delegiertenparteitags übergegangen ist.
Sowohl das innerparteiliche Prinzip der Präsenz als auch dasjenige der Repräsentation geraten allerdings in jüngerer Zeit zunehmend unter Druck. Die Parteien verspüren schon seit längerem (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) einen wachsenden Bedarf, mehr Angebote zur direkten Mitgliederbeteiligung zu machen. Mitgliederbefragungen etwa zum Abschluss eines Koalitionsvertrags, zur Kür eines/r Spitzenkandidat*in oder eines/r Vorsitzenden werden von allen Parteien verstärkt als Mittel der innerparteilichen Willensbildung propagiert. Da der rechtliche Rahmen des Parteiengesetzes solche Formen allerdings bisher nicht uneingeschränkt zulässt, greifen die Parteien dabei mitunter zu rechtlich zweifelhaften Tricks: So wurde etwa bei den Mitgliederbefragungen in SPD und CDU zur Vorsitzendenwahl formal nie über den oder die neue*n Vorsitzende*n abgestimmt, sondern immer nur über einen Personalvorschlag des Bundesvorstands, der dann allerdings faktisch so verbindlich sein sollte, dass der Parteitag sich über ihn nicht mehr hinwegsetzen kann. Die freie Wahl der Parteiversammlung ist dann auf einmal gar nicht mehr so frei und die eigentlich als demokratisches Mehr verkaufte Mitgliederbeteiligung kann gleichzeitig zum demokratischen Problem werden.
Mit dieser Verlagerung weg vom Repräsentativorgan Parteitag ist gleichzeitig auch eine deutliche Relativierung des Präsenzprinzips verbunden, denn die Beteiligung der Mitglieder erfolgt in aller Regel durch schriftliche oder elektronische Abstimmungen. Diese Entwicklung wurde in der Corona-Pandemie beschleunigt, in der aus Gründen des Infektionsschutzes kurzfristig vom Gesetzgeber befristete Ausnahmeregelungen geschaffen wurden, um Parteien die Willensbildung auch im Rahmen digitaler Parteitage zu ermöglichen. Der inhaltliche Zuschnitt dieser Regelungen ist allerdings rechtlich überaus umstritten. Zu welchen faktischen Kapriolen sie gerade im Zusammenspiel mit den Versuchen verstärkter Mitgliederbefragung führen können, zeigt eindrucksvoll die Wahl von Friedrich Merz als CDU-Vorsitzenden. Nach dem rechtlich gesehen völlig unverbindlichen, politisch aber im Grundsatz bindenden Mitgliedervotum über den neuen Vorsitzenden wurde in einem zweiten Schritt auf einem Online-Parteitag über den Vorsitz abgestimmt, um das Mitgliedervotum zu „bestätigen“. Allerdings war auch diese Abstimmung rechtlich gesehen unverbindlich und bedurfte ihrerseits wieder der „Bestätigung“ durch schriftliche Abstimmung. In diesem Kaskadensystem drohen nicht nur demokratische Verantwortlichkeiten in einem unübersichtlichen Verfahren aus dem Blick zu geraten. Der Parteitag als rein unverbindlicher Zwischenschritt, als halbherzige Inszenierung ohne Entscheidungsmacht, mit dem lediglich den „Formalia“ des Parteienrechts Genüge zu tun ist, droht auf diese Weise dann massiv entwertet zu werden – und mit ihm die zentrale Institution zur Sicherung der innerparteilichen demokratischen Struktur.
Auch die Politik hat den Handlungsbedarf in diesem Bereich im Grundsatz erkannt. Der aktuelle Koalitionsvertrag sieht vor, die digitale Willensbildung in Parteitagen auf eine dauerhafte rechtliche Grundlage zu stellen – im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen. Wo allerdings genau diese verfassungsrechtlichen Grenzen liegen, darüber besteht in der Verfassungsrechtswissenschaft erheblicher Streit.
Die Blog-Debatte will vor diesem Hintergrund ausloten, welche Bedeutung dem Parteitag rechtlich wie tatsächlich heute zukommt und welche Entwicklungen sich dabei abzeichnen. Welche Rolle spielt die Präsenz für die demokratische Willensbildung? Welche Folgen haben die zumindest vorübergehend rechtlich abgesicherten Verlagerungen ins Digitale für die demokratische Willensbildung auf normativer und auf tatsächlicher Ebene? Welchen demokratischen Baustein können Instrumente jenseits von Parteitagen für die Willensbildung leisten und welche normativen Anforderungen müssen dafür erfüllt sein? Welchen Zweck erfüllt das Repräsentationsprinzip innerhalb der Parteien, welche Rolle spielen Delegierte als, wie Jan-Werner Müller schreibt, „Intermediäre innerhalb der Intermediären“ in der Demokratie? Diese Fragen wollen wir aus rechts- und politikwissenschaftlicher Perspektive interdisziplinär beleuchten.
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