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Online-Parteitage und Parteienfreiheit
Am Abend des 16. Dezember 2021 konnte den Medien entnommen werden, dass Friedrich Merz der nächste Vorsitzende der CDU sei, da die Parteimitglieder sich in einer Online-Wahl für ihn entschieden hätten. Die am selben Abend von der CDU auf ihrer Homepage eingestellte Mitteilung fiel freilich etwas anders aus. Danach hätten die Mitglieder entschieden, dass Friedrich Merz der designierte nächste Vorsitzende der CDU sei.
Der Unterschied beruhte wohl darauf, dass die Entscheidung über den Vorsitz rechtlich einem Parteitag vorbehalten ist, also einer förmlichen Versammlung der Delegierten in Präsenz. Allerdings bestanden nach der Online-Abstimmung keine ernsthaften Zweifel mehr daran, dass Friedrich Merz Vorsitzender wird. Dies ist kein Einzelfall: Die CDU hatte bereits die Auswahl von Armin Laschet im Januar 2021 auf eine Online-Beteiligung gestützt, und auch die SPD hat auf diese Art bereits Parteivorsitzende ausgewählt.
Dass die beiden größten deutschen Parteien bei der Wahl der Vorsitzenden mittlerweile regelmäßig Wege gehen, die zum einfachrechtlich vorgesehenen Verfahren offenbar in Spannung stehen, wirft verschiedene Fragen auf. Die Online-Beteiligung der Parteimitglieder weist dabei zwei grundlegende Aspekte auf: Die Relativierung der Delegierten sowie die Verlagerung der Beteiligung ins Internet. Beide Aspekte weichen deutlich vom tradierten Bild eines Parteitags ab.
Tradiertes Bild eines Parteitags: Repräsentation durch körperlich präsente Delegierte
Nach tradierter Vorstellung, die auch das Gesetzesrecht prägt, beruhen Parteitage auf den Elementen der Repräsentation sowie der physischen Präsenz der Repräsentierenden. Die Mitglieder bestimmen Delegierte, die dann in Präsenz zusammenkommen, um für die Partei wesentliche Dinge zu besprechen und zu entscheiden. Die Ähnlichkeit zur parlamentarischen Repräsentation ist deutlich: Auch dort werden Vertreter gewählt, die die Wähler repräsentieren und in physischer Präsenz zusammenkommen, um für das Gemeinwesen wesentliche Fragen zu entscheiden.
Zum Vorbild der parlamentarischen Repräsentation
Bereits diese kurze und abstrakte Betrachtung legt nahe, dass Parteitage in ihren die tradierte Form prägenden Elementen kritisch zu reflektieren sind. Zum einen muss das „Vorbild“, die parlamentarische Repräsentation des Volkes, sich ständig mit Formen der direkten Demokratie auseinandersetzen. Der – auch grundgesetzlich verankerte – Grundsatz der repräsentativen Demokratie hat dabei zwar bislang die Oberhand behalten, aber insbesondere auf Ebene der Länder sowie der Gemeinden gibt es ausgeprägte und bewährte Elemente der direkten Demokratie, die ein stetes Nachdenken und gegebenenfalls Nachjustieren der Ausprägungen von Repräsentation nahelegen. Weshalb die parteiinterne Repräsentation insoweit anders zu sehen und von Überprüfungen ausgenommen sein sollte, ist nicht erkennbar.
Digitale Sitzungsteilnahmen auf kommunaler Ebene bereits zulässig
Mit Blick auf Fortentwicklungen des Repräsentationsprinzips ist festzustellen, dass auch das Element des Zusammenkommens in physischer Präsenz Veränderungen unterliegt. Erhebliche Schritte hin zu digitaler Teilnahme an Sitzungen von Gremien und Organen sind auf kommunaler Ebene bereits erfolgt. Die einzelnen Änderungen fallen zwar nach Ländern und zum Teil auch Gremien unterschiedlich aus, aber der Trend geht deutlich dahin, digitale Teilnahmen zu ermöglichen. Die Begründungen dieser Änderungen ergeben, dass die Covid-Pandemie zwar Anlass für die Änderungen ist, aber noch weitere Gründe hinzukommen, die auch nach der Pandemie fortbestehen. Dazu gehört insbesondere das Ziel, die regelmäßige aktive Teilnahme für Personen zu erleichtern, die beruflich oder privat bereits intensiv zeitlich gebunden sind. Konkret gewendet: Die Teilnahme an Sitzungen kommunaler Gremien soll insbesondere auch denen tatsächlich möglich sein, die in Arbeit, Familie und Ehrenämtern engagiert sind.
Von der Parteienstaatslehre zur Parteienfreiheit
Zum anderen – und gleichfalls grundlegend – haben sich die Staatswissenschaften in Teilen deutlich von der Vorstellung entfernt, dass Parteien ähnlich wie Staatsorgane zu verstehen und zu behandeln seien. Die aus der Weimarer Zeit stammende Parteienstaatslehre, die die Bedeutung der Parteien im Prozess der politischen Willensbildung betonte und über Gerhard Leibholz die Rechtsprechung des BVerfG zu parteienrechtlichen Themen zunächst intensiv mitprägte, wird zunehmend differenzierter gesehen. Insbesondere wird hinterfragt, ob die darin angelegte Ausrichtung des Parteienrechts angemessen ist, oder ob nicht die Parteien zumindest in den Aspekten, die an ihre Eigenschaft als Vereinigung Privater mit einer verbindenden politischen Ausrichtung anknüpfen, verstärkt als vom Staat wesensmäßig verschiedene Einrichtungen zu sehen sind.
Risiken und Chancen
Bedenken hinsichtlich der Integrität und Sicherheit von Online-Beteiligungen und insbesondere Online-Abstimmungen sind ernst zu nehmen, stehen elektronischen Beteiligungsformen aber nicht zwingend entgegen. Mittlerweile ist es technisch durchaus möglich, Online-Beteiligungen mindestens so sicher abzuhalten, wie dies bei Briefwahlen der Fall ist. Einwände aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl können dadurch aufgefangen werden, dass den Wählern individuelle Möglichkeiten zur Nachvollziehbarkeit der Wahl eingeräumt werden, zum Beispiel durch Zuordnung und Mitteilung eines individuellen Codes, über den die Verarbeitung der einzelnen „Stimme“ nachvollzogen werden kann. Und schließlich bieten Online-Beteiligungen auch Chancen: Bürger, die in ihrem beruflichen und privaten Alltag immer mehr auch wichtige Entscheidungen online vorbereiten und treffen, können durch Online-Beteiligungsformen der Parteien weiterhin oder wieder erreicht und so zu Beteiligung an und Engagement in einer Partei motiviert werden. Dass dies insbesondere auf Bürger zutrifft, die in Familie, Beruf und Freundeskreis bereits intensiv engagiert sind, wurde bereits dargelegt.
Konsequenz: Freiheit zur Öffnung
Im Ergebnis spricht daher einiges dafür, dass Parteitage nicht stets und zwingend eine Repräsentation durch physisch präsente Repräsentanten erfordern sollten. Die Betonung der Freiheit und Eigenständigkeit der Parteien, die Ablösung vom „Vorbild“ der Parlamentswahl sowie die Chancen der und Erfahrungen mit der digitalen Teilnahme an Sitzungen kommunaler Gremien legen vielmehr nahe, dass Pateitage für Online-Beteiligungen geöffnet werden können und sollten.
Damit soll nicht geleugnet werden, dass eine solche Öffnung auch mit Gefahren und Verlusten verbunden sein kann. Kommunikations- und Abstimmungsvorgänge unterliegen unter physisch Anwesenden einer anderen Dynamik, als dies bei Online-Beteiligungen der Fall ist. Online-Beteiligungen müssen hier einen angemessenen Weg finden zwischen der Scylla einer zu geringen Integrationsleistung, um Parteien mit erkennbarem inhaltlichen Profil, spezifischem Personal und von gewisser Dauerhaftigkeit hervorbringen zu können, und der Charybdis einer von wenigen Parteipolitikern aus der Parteizentrale heraus dominierten und gesteuerten Masse nur gelegentlich und digital teilnehmender Mitglieder.
Dass diese Befürchtungen eine reale Grundlage haben, ist aber eher unwahrscheinlich und sicherlich nicht klar. Daher legen die zuvor skizzierten Grundsätze der Entwicklungen des Parteienrechts und Parteienwesens nahe, den Parteien zumindest die nötige Freiheit zuzugestehen, die möglichen Vor- und Nachteile einer Online-Beteiligung an Parteitagen angemessen auszuprobieren. Die entsprechenden Konsequenzen bestehen dann im politischen Erfolg oder Misserfolg der Parteitage und der Parteien, die darauf durch Anpassung ihrer Beteiligungsformate reagieren können.
Im Fokus: Zulassung parteiinterner Online-Abstimmungen
Die vorstehend dargelegten Aspekte konvergieren beispielhaft bei der Frage, ob parteiinterne Wahlen per Online-Abstimmung zulässig sind oder zumindest sein sollten.
Um dem Verfassungsgebot innerparteilicher Demokratie i.S.d. Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG zu genügen, muss eine Partei auch ihre parteiinternen Wahlverfahren, insbesondere also die Wahl der Delegierten, an demokratischen Prinzipien ausrichten. Bei der konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems besteht Spielraum. Parteien sind zwar funktional und rechtlich an die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gekoppelt. Zugleich sind sie aber auch gesellschaftliche Akteure, die dem Staat insoweit durch die Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG geschützt gegenüberstehen und eigenständig agieren. Daher entfaltet das Demokratieprinzip in seiner Spezifizierung für den Binnenraum der Parteien als Organisationen von Freiwilligen mit Tendenzcharakter andere Wirkungen als in der Anwendung auf staatliche Herrschaft, und können die Vorgaben für innerparteiliche Wahlen anders ausfallen als für Parlamentswahlen. Dies betrifft auch den Grundsatz der Öffentlichkeit von Wahlen, den das BVerfG für Parlamentswahlen aus Art. 38 GG i.V.m. Art. 20 GG geschaffen hat, und der verlangt, dass alle wesentlichen Schritte der Parlamentswahl der öffentlichen Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme bilden.
Mit Blick auf diese Vorgaben stellt sich die Frage, ob dadurch einer parteiinternen Willensbildung im Internet spezifische rechtliche Grenzen gesetzt sind. Dies setzt zunächst voraus, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit von Wahlen auch auf parteiinterne Wahlen Anwendung findet. Sollte dies der Fall sein, ist dann weiter zu fragen, welche Vorgaben aus dem Grundsatz für parteiinterne Wahlen gefolgert werden können.
Mit Rücksicht darauf, dass die Wahrnehmung der mitgliedschaftlichen Rechte hinreichende Informationen voraussetzt, die gegebenenfalls durch Frage- und Informationsrechte erlangt werden müssen, sowie mit Blick auf einzelne v.a. einfachrechtliche Regelungen wird in der Literatur zwar zum Teil ein innerparteiliches Transparenzgebot postuliert, das als demokratischer Grundsatz i.S.v. Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG verfassungsrechtlich verankert sein soll.
Ob parteiinterne Wahlen gleich den Parlamentswahlen einem Grundsatz der Öffentlichkeit von Wahlen unterliegen, und was dieser Grundsatz dabei verlangt, ist aber nicht ohne Weiteres klar. Denn parteiinterne Wahlen können anderen tatsächlichen Funktionsbedingungen unterliegen als Parlamentswahlen, und Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG gewährt den Parteien grundsätzlich Freiheit in eigenen Angelegenheiten.
Mit Blick auf diese Randbedingungen ist maßgeblich, ob bei der parteiinternen Willensbildung eine funktionierende parteiinterne Öffentlichkeit so weit besteht, dass die nötige innerparteiliche Offenheit und Chancengleichheit gewahrt wird. Wenn dies gesichert ist und zudem auch eine hinreichende Sicherheit gegen Manipulationen u.ä. besteht, ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig, die parteiinterne Willensbildung über internetbasierte Techniken herzustellen.
Ob und wieweit einem Einsatz internetbasierter Technik bei der parteiinternen Willensbildung einfachrechtliche Vorgaben entgegenstehen, ist umstritten. Der nähere Blick spricht aber dafür, dass der Gesetzgeber dies nicht ohne Weiteres zulässt. Die aus Anlass der Covid-Pandemie eingeführten Änderungen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohneigentumsrecht lassen zwar für die Ausübung einiger Mitgliederrechte elektronische Kommunikation genügen, nehmen davon aber Beschlussfassungen über die Satzung und Schlussabstimmungen bei Wahlen sowie die Regelungen für die Aufstellung von Wahlbewerbern bei Parlamentswahlen ausdrücklich aus. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb für die entsprechenden Abstimmungen über Vorsitzende am Erfordernis einer Urnen- oder Briefwahl auch dann festgehalten wird, wenn zuvor bereits einer Abstimmung über vergleichbare Verfahrensschritte auf elektronischem Wege stattgefunden hat.
Öffnung rein parteiinterner Abstimmungen
Dieses Vorgehen mag aus der isolierten Sicht der einfachrechtlichen Vorgaben grenzwertig sein, da die der Urnen- oder Briefwahl zugedachte Entscheidungs- und Bindungswirkung durch die vorher stattfindende, elektronische Beteiligung ganz erheblich mitbeeinflusst werden kann. In der Analyse aufschlussreich und weiterführend ist dann aber eine Betrachtung aus den zu Beginn des Beitrags dargelegten Aspekten: Die Betonung der Freiheit und Eigenständigkeit der Parteien; die Ablösung vom „Vorbild“ der Parlamentswahl; sowie die Chancen der und Erfahrungen mit der digitalen Teilnahme an Sitzungen kommunaler Gremien. Diese Aspekte legen nahe, dass das eigentliche Problem in einer unnötigen Engführung des Gesetzesrechts besteht. Zumindest für rein parteiinterne Wahlen sollte daher der Weg zu Online-Teilnahmen und Online-Abstimmungen geöffnet werden. Dem steht auch das Verfassungsrecht nicht entgegen, da der wahlverfassungsrechtliche Öffentlichkeitsgrundsatz von der Parteienfreiheit gekontert wird.
Öffnung auch der Nominierung von Kandidaten für Parlamentswahlen
Ob diese Öffnung auch für die Nominierung von Kandidaten für Parlamentswahlen gilt, ist damit noch nicht entschieden. Denn mit diesem Schritt wird die rein innerparteiliche Sphäre verlassen und formal der Willensbildungsprozess hin zum Parlament als staatliches Organ begonnen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht rücken damit die Vorgaben des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in den Vordergrund und können die Parteienfreiheit stärker überlagern, als dies bei rein parteiinternen Wahlen der Fall ist.
Freilich treffen die Konsequenzen immer noch zunächst die jeweilige Partei und nicht das staatliche Organ, das aus den erfolgreichen Kandidaten gebildet wird. Sollte eine Online-Nominierung von Kandidaten für eine Parlamentswahl dazu führen, dass aus Wählersicht weniger aussichtsreiche Kandidaten nominiert werden, erzielte zwar die entsprechende Partei weniger Stimmen, stünden aber die konkurrierenden Parteien relativ besser dar und würde das Parlament im Ergebnis weiterhin gebildet. Die Chancen und Risiken einer Online-Wahl von Kandidaten münden deshalb im politischen Erfolg oder Misserfolg der entsprechenden Parteien, führen aber nicht zu einem drohenden Funktionsverlust des staatlichen Organs, das aus den letztlich Gewählten gebildet wird. Dies spricht dafür, dass auch die Nominierung von Kandidaten für Parlamentswahlen für Online-Beteiligungen geöffnet werden kann.
Sollte dies nicht überzeugen, könnte der Weg einer schrittweisen Reform eingeschlagen werden. Dabei werden zunächst Erfahrungen mit Online-Beteiligungsformen bei rein innerparteilichen Wahlen gesammelt, ehe dann auch die Nominierung von Kandidaten für Parlamentswahlen für Online-Beteiligungen geöffnet wird.
Auf beide Vorgehensweisen trifft daher letztlich ein Satz zu, der einem Hochschullehrer nicht vorschnell über die Lippen geht: Probieren geht über Studieren!
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