Digital wie nie zuvor?
Parteitage in der Transformation
Die Corona-Pandemie brachte eine neue Form der Beteiligung und Entscheidungsfindung in Parteien hervor: Den digitalen Parteitag, der nun im dritten Pandemiejahr scheinbar unaufgeregt im “neuen Normal” durchexerziert wird. Doch sind digitale Parteitage eine neue Form der Entscheidungsfindung? Stellen digitale Parteitage eine Bereicherung der politischen Willensbildung innerhalb von Parteien dar oder führen sie eher zu einer Zentralisierung von Entscheidungen? Was passiert darüber hinaus mit den grundlegenden Prinzipien der Präsenz und Repräsentation in Parteien?
Mein zentrales Argument ist, dass sich im Digitalen die Differenz zwischen Zentralisierung und Demokratisierung zuungunsten einer breiten Repräsentation (wie wir sie bereits über das Delegiertenprinzip haben) in Richtung einer Zentralisierung von Entscheidungen auf dem Parteitag verschieben wird, wenn nicht echte Mitgliederpartizipation ermöglicht wird, die bisher konsultativen Charakter hat, rechtlich also nicht bindend ist. Aber warum ist das so? Dem gehe ich im Folgenden anhand der Rahmengesetzgebung politischer Willensbildung, den informalen Mechanismen von Parteitagen und den Möglichkeiten integrativer Reformen nach.
Zur Rahmengesetzgebung politischer Willensbildung
Zunächst zur Rahmengesetzgebung: Politische Willensbildung in Parteien ist entlang der grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Regelungen durch das Parteiengesetz kodifiziert. Dieses sieht die Abhaltung von Präsenzveranstaltungen vor, insbesondere solche mit bindendem Charakter, wie etwa Vorsitzendenwahlen oder Kandidatenaufstellungen (Morlok 2021). Diese Personalentscheidungen machen Präsenzversammlungen nach dem Anwesenheitsprinzip sowie dem Delegiertenprinzip nötig – je nach dem, wofür sich eine Partei entschieden hat. Parteien sind in diesen Verfahren der innerparteilichen Entscheidungsfindung geübt, so nutzen doch die meisten Gebietsverbände der im Bundestag vertretenen Parteien das Delegationsprinzip. Mit der Pandemie wurde dieses Prinzip grundlegend in Frage gestellt und einem Schock ausgesetzt, da Versammlungen verboten und insofern das Funktionieren von Parteien in ihren zentralen Entscheidungsinstanzen, dem Parteitag, nicht mehr gewährleistet werden konnte. Ein Ausweg bot sich über den Umweg der digitalen Parteitage, deren Beschlussfassung jedoch nicht rechtlich bindend war, sondern per nachgelagerter postalischer Beschlussfassung bestätigt werden musste.
Digitale Delegiertenauswahl
Davon unbesehen und nicht betrachtet ist der zweite Aspekt der Delegiertenauswahl: Der informale Vorbereitungsprozess von Parteitagen. Beim vorrangig verbreiteten Delegiertenprinzip muss zuvor in den jeweiligen Untergliederungen entschieden, also gewählt werden, wer zum Parteitag entsandt wird. Die hierbei vorgelagerten und demokratisch notwendigen Entscheidungsprozesse wurden durch die pandemiebedingte Digitalisierung der Entscheidungsfindung scheinbar intransparent, weil sie nicht mehr in Präsenz und insofern unmittelbar nachvollziehbar stattfanden. Allerdings wurden durch die Digitalisierung überhaupt erst Aufstellungsverfahren und Delegiertenwahlen möglich, die ohne Videokonferenz, Abstimmungssoftware und parteiinterne Kollaborativplattform schlicht nicht möglich gewesen wären. Die Bereitschaft von Parteimitgliedern, Kandidatenaufstellungsverfahren etwa auch digital abzuhalten, war noch vor der Pandemie gering (Bloquet et al. 2022). Onlineverfahren bei Kandidatenaufstellungen oder gar für Parteitage sind neben den üblichen elektronischen Abstimmungsgeräten auf Präsenzparteitagen schlicht Zukunftsmusik. In Estland, einem Beispiel der vollkommenen Implementation elektronischer Wahlverfahren (also dem Wählen über das Internet mittels Smartphone), zeigt sich, dass online zu wählen Bequemlichkeit und Sicherheit bedeutet: Man kann das Kreuz noch ändern, wenn man sich doch noch umentscheidet, die endgültige Stimmabgabe erfolgt verschlüsselt über eine Open Source Software, was möglicher Manipulationen durch demokratieschädigende Kräfte entgegensteht. So ist dort kein wirklicher Unterschied mehr zwischen der Brief- und der Onlinewahl zu sehen, da die technische Infrastruktur entsprechend aufgestellt ist. Ähnliches wäre auch innerhalb von Parteien denkbar: Delegierte könnten rein technisch gesehen auch online gewählt werden. Allerdings reicht hierzulande die technische Möglichkeit nicht aus, da hier die Schranken durch das Parteiengesetz eindeutig sind. Eine Öffnung der Entscheidungsprozesse auch für Onlinewahlverfahren käme insoweit einer Revolution gleich.
Integrative Reformen
Digitale Instrumente bergen Potenziale zur Ausgestaltung integrativer Reformen von Parteien als dritter Perspektive. Eine Öffnung nach innen im Sinne einer breiteren Teilhabe von Parteimitgliedern und Bürger:innen wäre hier zu nennen (Adler 2013). Dies war etwa bei der formalen Einführung der Online-Themenforen der SPD so (Michels und Borucki 2021). Digitale Formate versprechen zunächst die Möglichkeit einer breiteren Beteiligung. Sind diese jedoch nicht implementiert oder entsprechend so geplant und ausgelegt, dass sich tatsächlich alle beteiligen können, die dies wünschen, so führt die scheinbare Demokratisierung in Richtung einer Zentralisierung auf die Parteiführung – schlimmstenfalls. Insofern wäre zu fragen, inwiefern nicht auch eine stärkere Verschränkung von Kommunikation und Partizipation im Inneren – also die interne Linkage, die indirekt wie direkt erfolgen kann – geleistet werden kann. Dazu bedürfte es jedoch einer Öffnung nach innen insofern, als dass die Mitglieder nicht nur in Wahlzeiten befragt, mit Apps versorgt oder die Wirkung der Wahlkampfinstrumente im eigenen Lager ausgewertet werden, sondern eine integrativere Sicht auf die Verbindung von Kommunikation und Partizipation im Zentrum der Parteien – ihren Parteizentralen – geleistet werden müsste (Weiß 2022, uv.M.). Die damit zusammenhängende Frage nach der Repräsentation und insbesondere der Responsivität von Parteien ergibt sich durch die derzeit unterschiedlich ausgeprägte und temporal variable interne Linkage. Gerade durch digitale Beteiligungsformate (etwa Kollaborativplattformen) wird eine erhöhte Mitgliederpartizipation ermöglicht, wenn diese nicht im Sinne von Pseudo-Partizipation ausfällt (Biancalana 2020). Digitale Mitgliederpartizipation ist mehr als das Mitmach-Netz für eine Mitmachpartei, die sich selbst als Programm- bzw. Mitgliederpartei sieht. Ausgehend von einem zentral geteilten Selbstverständnis als einer Identität einer Partei müssen dann Entscheidungsprozesse kommunikativ begleitet und technisch unterstützt in eins gedacht werden. Das fängt bei gemeinsamen Strategien für Kommunikation und Partizipation der Mitglieder und Bürger:innen an und hört bei integrierten Kampagnen zu Wahlen auf. Notwendig ist hierzu eine funktionierende Linkage – also eine stete Kommunikationsbeziehung innerhalb der Parteien zwischen ihren einzelnen Teilen. Dieser Austausch zwischen den Teilen von Parteien changiert zwischen Zentralisierung auf die Führungsebene und einer Demokratisierung in Richtung der Basis. Diese Differenz aufzulösen und integrativ zu fassen, dürfte ein dickes Brett für Parteien darstellen, die diesen Weg einer mitnehmenden und wirklich partizipierenden Parteiorganisationskultur gehen wollen.
An dieser Stelle könnten etablierte Parteien von jüngeren Bewegungsparteien lernen, was die Integration von Kommunikation und Partizipation anbelangt. Parteien wie die Piraten, Volt, Indignados oder Podemos nutzen kollaborative Plattformen als Basis zum Austausch, die nicht an elektoralen Zyklen orientiert sind und eine kontinuierliche Interaktionsbasis für kommunikative wie partizipative Strategieentwicklung enthalten. Einige deutsche Parteien haben sich hieran ein Beispiel genommen und verfügen über entsprechende technische Infrastruktur.
Ein Ausblick
Bei der Frage nach dem Quo vadis digitaler Parteitage als zentraler Instanz der innerparteilichen Demokratie, dem Hochamt der Parteiendemokratie, stehen wie bereits erwähnt vor allem Personalentscheidungen im Fokus, welche die nicht weniger bedeutenden Richtungsentscheidungen über Programme in der Außenwahrnehmung überdecken. Wahlparteitage geraten immer mehr zu einer Symbolveranstaltung – und dies nicht erst seitdem das Internet Teil der alltäglichen Lebenswelten wurde (Kruschinski und Haller 2018).
Die maximale Partizipation als Bürgerpflicht anzusehen, wäre eine Möglichkeit, stärkere Foci auf die Sozialität von Parteiarbeit, also die Geselligkeit im Zusammensein, auf das Gewicht sozialer Events zu legen, dabei aber nicht in der digitalen Steinzeit zu verharren. Die sogenannten “digital natives” der jüngeren Generationen werden zunehmend Erwartungen und Bedürfnisse an Parteien herantragen, denen diese zunehmend nicht mehr gerecht werden können, wenn die Integration von Beteiligung, Strategie und Kommunikation der beiden nicht zusammen gedacht wird. Derlei Forderungen sind nahezu so alt wie die ersten Gehversuche mit virtuellen Parteitagen (Westermayer 2001), zu substanziellen Reformen haben sie allerdings noch nicht geführt.
Schlussendlich zeigt sich, dass die drei aufgezeigten Perspektiven der Rahmengesetzgebung politischer Willensbildung in Parteien, der Mechanismen zur Organisation von Parteitagen sowie integrative Reformansätze noch wenig miteinander verkoppelbar sind, geschweige denn, dass die Rituale und informellen Mechanismen eines Parteitags überhaupt vollständig ins Digitale übertragen werden soll(t)en. Zwar verweisen die genannten Bereiche aufeinander, jedoch stellt insbesondere die Rahmengesetzgebung hohe Hürden für volle Digitalität von Parteien dar, die wiederum mit anderen Problemen behaftet wäre. Insofern ist die Finalität der Entwicklung auf rechtlicher wie parteiorganisatorischer Seite bislang nicht absehbar.
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