Misstrauen – Vertrauen – Anerkennung
Internationale Sicherheit als gesellschaftliches Verhältnis
Der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine ist nicht nur ein eklatanter Bruch des Weltfriedens. Er erschüttert die internationale Sicherheit. Dies ist der Begriff, der dem vieldeutigen Begriff des Weltfriedens etwas mehr Konturierung gibt. In der Charta der Vereinten Nationen werden beide Begriffe wie eineiige Zwillinge stets gemeinsam verwendet. Internationale Sicherheit ist jedoch nicht dasselbe wie Weltfrieden – ganz gewiss aber dessen unverzichtbare Voraussetzung.
Weltfrieden und internationale Sicherheit
In Deutschland hat der innere Zusammenhang zwischen Weltfrieden und internationaler Sicherheit paradoxerweise eine besondere Bedeutung, weil er über Jahrzehnte nicht erkannt oder ignoriert wurde. Lange Zeit wurde viel über Frieden, aber relativ wenig über internationale Sicherheit diskutiert. Wir Deutschen konnten den seit mehr als einem dreiviertel Jahrhundert ununterbrochenen Zustand des Friedens in Europa genießen, ohne uns Gedanken über dessen Voraussetzung, die internationale Sicherheit, machen zu müssen. Bis Mai 1955 lebten die Deutschen der Bundesrepublik unter der Oberhoheit der drei westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Am 5. Mai 1955, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde die Bundesrepublik souverän. Schon vier Tage später trat sie der 1949 gegründeten NATO bei. Weitere zwei Jahre später, im Jahr 1957, wurde sie eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Von Geburt an war die Bunderepublik also politisch, wirtschaftlich und militärisch im Schoße internationaler Vormünder, Aufpasser und Freunde geborgen. Zum Frieden trug man bei, indem man der militaristischen Vergangenheit abschwor, sich dezidiert auf friedliche Eroberungen auf den Weltmärkten konzentrierte und damit gewaltlos zur Steigerung des globalen Sozialprodukts beitrug.
Nach der Vereinigung mit der DDR im Oktober 1990 wurde die Bundesrepublik zu einem Schwergewicht im Kreise der europäischen und nordatlantischen Partner, und im Gefolge der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begonnenen „Suche nach einer Weltordnung“ kam die Zeit, dafür mit einem der eigenen Größe, geographischen Lage und geopolitischen Bedeutung angemessenen Teil der Lasten Verantwortung zu übernehmen. Dass es darüber immer wieder Streit innerhalb der NATO, zum Teil auch in der Europäischen Union gegeben hat – man denke nur an den Konflikt über die Einhaltung der in der NATO beschlossenen Verpflichtung der Mitglieder, jeweils 2% des Sozialproduktes für die militärische Verteidigung auszugeben – liegt auch daran, dass der an sich richtige Hinweis auf die in der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts durch Deutsche im deutschen Namen begangenen Menschheitsverbrechen zuweilen auch als Vorwand dienen kann, sich nach Möglichkeit aus internationalen kriegerischen Konflikten herauszuhalten. Ein anderer Teil der Erklärung für diese Verantwortungsscheu liegt aber auch in einem verengten Verständnis von internationaler Sicherheit.
Internationale Sicherheit konventionell: Angst durch Abschreckung oder Vertrauen durch Interessenverflechtung
In den Diskursen über Frieden und Sicherheit geht es auch heute noch ganz überwiegend um die Beziehungen souveräner Staaten zu einander. Hier werden üblicherweise zwei alternative Konzepte erörtert. Das ehrwürdigste lautet: Si vis pacem para bellum – Sicherheit durch Abschreckung, d.h. die Androhung und gegebenenfalls auch Ausübung physischer Gewalt gegen potentielle Aggressoren, die den Frieden verletzen oder als Friedensstörer wahrgenommen werden (vgl. Lupovici). Diese Methode erzeugt die Dynamik einer ständigen Erweiterung und Verbesserung militärischer Zerstörungskraft und führt in das bekannte „Sicherheitsdilemma“ (vgl. Koskenniemi, S. 467): Je mehr in Sicherheit durch militärische Stärke investiert wird, desto stärker wird das Gefühl der Bedrohung und der Unsicherheit bei den potentiellen Adressaten der expliziten oder impliziten Drohung hervorgerufen.
Die erprobte Alternative dazu ist Sicherheit durch Aufbau und Pflege von Vertrauen statt wechselseitiger Abschreckung: die Herstellung und möglichst enge Verflechtung reziproker Interessenphären, wodurch systematisch Motive erzeugt werden, allfällige Interessendivergenzen und –konflikte friedlich zu lösen. Hier könnten das Völkerrecht und das internationale Wirtschaftsrecht eine bedeutende Rolle spielen. Allerdings: Nach einer vor allem unter den „Realisten“ im Felde der internationalen Beziehungen verbreiteten Auffassung folgen Staaten in ihren Beziehungen zur Umwelt nicht rechtlichen Normen, sondern ihren nationalen Interessen und dem Recht nur, wenn dies ihren Interessen dient oder es ihnen jedenfalls nicht im Wege steht. Empirische Untersuchungen ergeben zwar ein anderes Bild (vgl. Chayes/Chayes, S. 65 ff.). Wahr ist jedoch, dass vielfältige internationale Rechtsprechungsorgane existieren, die über die Erhaltung der auf Normtreue beruhenden Sicherheit durch Vertrauen wachen könnten, es an Instrumenten wirksamer Rechtsdurchsetzung aber fehlt. Die aktuelle einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshofes, der auf Antrag der Ukraine Russland verpflichtet hat, seine kriegerischen Handlungen sofort einzustellen, könnte zwar vom UN-Sicherheitsrat durchgesetzt werden – das Vetorecht Russlands wird dies aber verhindern.
So sollen denn die vor allem von Staaten des paradoxerweise bis nach Japan reichenden westlichen Interessenkreises beschlossenen Sanktionen die fehlende Vollstreckungsmacht für international-rechtliche Judikate ersetzen. Nicht ohne ein gewisses Triumphgefühl sagen viele Experten fast täglich den baldigen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft als deren Folge voraus. Es ist jedoch nicht recht ersichtlich, inwieweit sie unter den gegebenen Bedingungen dem Zerstörungsfuror der russischen Armee Einhalt gebieten können.
Internationale Sicherheit: ein globales gesellschaftliches Verhältnis
Weder die Macht der Abschreckung noch die Kraft des Vertrauens im Gefolge der Verflechtung Russlands in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, nicht einmal die weitgehende Unterbrechung jeglicher Interessenverflechtung und damit die Zerstörung der Vertrauensbeziehungen Russlands vor allem mit der westlichen Welt hat die Führung des Landes davon abgehalten, die Ukraine mit einem völkerrechtlich eindeutig rechtwidrigen Angriffskrieg zu überziehen. Der von Präsident Putin gegebenen Rechtfertigung, dass der Westen, insbesondere die NATO, die Sicherheitsinteressen Russlands dadurch verletze, dass es sich immer weiter östlich in Russlands Einflussbereich ausgedehnt habe, ist weitgehend einhellig auch von Experten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen widersprochen worden (jüngst Zürn). In der Tat kann man sich nicht vorstellen, dass die NATO irgendein Land dieser Welt in ähnlicher Weise überfällt, wie es Russland am 24. Februar getan hat. Ganz gewiss war die russische Invasion kein Präventivschlag gegen eine militärische Bedrohung. Die von Putin nach- oder vorgeschobenen Gründe – „Entnazifizierung“ der Ukraine und Schutz des russischen Bevölkerungsteils vor einem Genozid – sind so abwegig und bar jeder Substantiierung, dass ernsthaft darüber keine Diskussion geführt werden kann.
Das bedeutet nicht, dass es für den russischen Angriff keine nachvollziehbaren Gründe geben kann. Im Gegenteil, die Abwegigkeit der angegebenen Gründe lässt es als möglich erscheinen, dass die wahren Gründe tief unter der Oberfläche der in Erklärungen explizit gemachten Motivationen liegen. Werden sie vielleicht deswegen verborgen, weil ihre Offenbarung das Selbstbild, das die russischen politischen Eliten ihrer Gesellschaft autoritär aufzwingen, sprengen würde?
Wir sollten uns die Mühe machen, diese Gründe herauszufinden. In einem ersten Schritt müssen wir uns dabei klar machen, dass mit dem Begriff der internationalen Sicherheit nicht primär ein Zustand umschrieben, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis verschiedener Akteure der internationalen Politik bezeichnet wird. Das Handeln eines jeden Mitgliedes der Staatengemeinschaft betrifft jedes andere Mitglied – es ist ein Verhältnis der Interdependenz. Ein nächster Schritt bestünde in der Befolgung einer klassischen Empfehlung: Don’t believe „that the Other Understands that You Are Not a Threat“. Und schließlich die wohl komplexeste Aufgabe: das Bild, das die politischen Eliten von Russland entwerfen, genauer zu betrachten, und den Geschichten, die sie sich selbst, ihrem Volk und vielleicht ja auch uns im Westen über ihr Land erzählen, genau zuzuhören (vgl. Puleri, S. 17 ff.).
Auch bei nur kursorischer Lektüre der einschlägigen Literatur – ausschließlich in englischer Sprache in überwiegend anglo-amerikanischen Publikationen angesehener Wissenschaftsverlage – stößt man auf ein Motiv, das in gegenwärtigen Diskussionen zuweilen anklingt, aber nicht wirklich ernst genommen wird. Wie ist es eigentlich Russland und den Russen seit Ende 1991 ergangen? In der von Boris Jelzin unterschriebenen Gründungsvereinbarung über die an die Stelle der Sowjetunion tretende „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) (sog. Belowesche Vereinbarungen vom 8. Dez. 1991) hielten die Unterzeichner fest, dass „die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität (…) ihre Existenz beendet“. Es gehört zur bitteren Ironie der Geschichte, dass es acht Jahre später Jelzin war, der Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten machte und ihm damit das Sprungbrett zu einer Präsidentschaft zimmerte, die augenscheinlich die „geopolitische Realität“ der sowjetischen Ära wiederherzustellen trachtet.
Was bedeutete dieser ungeheuerliche Satz? Bei „uns“ – im vorherrschenden Selbstbewusstsein des Westens – gilt seit dem Jahr 1990 die Gewissheit, dass das Gesellschaftsmodell der liberalen Demokratie einen Sieg über jene Macht erlangt hat, welche das entgegengesetzte, kollektivistisch geprägte und in der Sowjetunion verkörperte Sozialmodell repräsentiert hatte. Dieser „Sieg“ löste das Problem des Kalten Krieges und der Gefahr eines militärischen Konfliktes zwischen den Supermächten. Aber jede Lösung eines Problems setzt das Problem dieser Lösung auf die Tagesordnung. Schließlich war die Sowjetunion, obwohl erst im Dezember 1922 gegründet, keineswegs ein politisches Leichtgewicht in der Staatenwelt. Sie übernahm den Status, den ihr dominierendes Hauptglied, Russland, jahrhundertelang in Europa als Großmacht eingenommen hatte (vgl. Neumann, S. 128 ff.). Durch ihren opferreichen Beitrag zum Sieg über Hitler-Deutschland und die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg war sie nach 1945 zu einer anerkannten globalen Macht aufgestiegen.
Im Siegestaumel des „Westens“ haben sich nur wenige Beobachter Gedanken darüber gemacht, was es für das betroffene Land und seine Menschen, aber auch für die Weltgesellschaft insgesamt bedeutet, wenn ein politischer Koloss zusammenbricht. Die UdSSR war zwar formell ein Staatenbund, faktisch aber ein zentralistisch organisiertes einheitliches Territorium. Ihre Auflösung in einen Bund selbständiger Staaten bedeutete für Russland eine weitgehende territoriale Amputation. Durch das Schrumpfen der russischen Kontrolle auf nur 30 Prozent der Küste des Schwarzen Meeres hätten sich beispielsweise, so Aybak in seiner grundlegenden Studie, die Bedingungen russischer Außenpolitik grundlegend geändert (vgl. Aybak in International Security Studies).
Das Gewicht der territorialen Auswirkungen dieses Zusammenbruchs liegt nicht in erster Linie im materiellen Verlust an Land und Leuten. Es liegt vor allem in der symbolischen Bedeutung, als Verlierer der Geschichte dazustehen. Barack Obamas vielzitierte Aussage, dass Russland nur noch eine regionale Macht sei, dürfte von den Erben der Trümmer des Sowjetreiches als demütigend empfunden worden sein. Hier muss auch noch einmal das Thema der Osterweiterung der NATO zur Sprache kommen. Oben wurde bereits erklärt, warum darin keine militärische Bedrohung Russlands zu erkennen ist. Andere Stimmen betrachten die Ausdehnung der NATO in den Interessenbereich Russlands deswegen als unerheblich, weil für die westliche Zusage auf die Unterlassung dieses Schrittes keinerlei schriftlichen Dokumente vorliegen und die – nicht bestrittenen – entsprechenden Erklärungen etlicher Außenminister nur mündlich abgegeben wurden. Wie müssen sich die Repräsentanten einer ehemaligen Großmacht fühlen, wenn ihre Einwände gegen die Ausdehnung vor allem der westlichen Führungsmacht USA in ihre unmittelbare Nachbarschaft auf dem Niveau von Winkeladvokaten beschieden werden?
Ontologische Sicherheit und der Kampf um Anerkennung
Man mag einwenden, dass das Fragen der Psychologie seien, nicht der internationalen Sicherheit. Es gibt jedoch ein Konzept internationaler Sicherheit, das die Dimension einer existentiellen Erschütterung des Selbstbewusstseins einer Nation in seinen analytischen Rahmen zu integrieren versucht. In der wissenschaftlichen Literatur firmiert dieses Konzept unter dem Namen „ontologische Sicherheit“. Neben Misstrauen und Vertrauen als den beiden tradierten Semantiken der internationalen Sicherheit tritt hier die soziale Grundbeziehung der Anerkennung als ein Grundelement sozialer Beziehungen. Dieser Begriff geht auf die Hegel’sche Philosophie zurück und ist in Deutschland vor allem in den sozialtheoretischen Schriften von Axel Honneth in den Mittelpunkt seiner Analysen der Funktionsweise moderner Gesellschaften gerückt worden.[1] Das Argument lautet, dass die Menschen bei der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Pflichten die Erwartung haben, den Respekt, die Achtung und die Anerkennung der gesellschaftlichen Institutionen und der anderen Gesellschaftsmitglieder zu erhalten. Darin erfahren sie eine bedeutsame Quelle ihrer Fähigkeit zur Selbstachtung. Soziale Konflikte können daher als Ergebnis versagter Anerkennung und als Kämpfe um Anerkennung gedeutet werden (vgl. Honneth).
Nun haben Staaten keine Empfindungen und seelischen Schmerzen, und insofern mag man es als einen Kategorienfehler ansehen, die Idee versagter Anerkennung als Motiv staatlichen Handelns anzuführen. Tatsächlich aber gehören die Zeiten, in denen internationale Beziehungen nur als Kräfteparallelogramm blind-selbstbezogener (Groß-)Mächte verstanden wurden, der Vergangenheit an. In der Terminologie der Wissenschaftsdisziplin der „Internationalen Beziehungen“ findet man seit einiger Zeit Begrifflichkeiten wie „Sein“, „Identität“, „Emotionen“, „Angst“ oder „biographische Kontinuität“, die man bislang vor allem aus der Psychologie, z.T. auch der Philosophie kannte. In diesem Kontext finden auch emotional geprägte Begriffe wie Missachtung und Demütigung einen Platz –im Konzept der „ontologischen Sicherheit“. Unter Verweis auf dessen Erfinder Anthony Giddens definiert Gunther Hellmann als „ontologisch sicher“ einen Staat, dem „‘Antworten‘ auf fundamentale existenzielle Fragen“ verfügbar seien, die einen „Sinn von Kontinuität und Ordnung im Gang der Ereignisse“ vermitteln“.
Was aber sollte und könnte denn überhaupt im Falle von Putins Russland von der Welt und insbesondere vom „Westen“ anerkannt werden? Gewiss nicht die Anerkennung tradierter sowjet-russischer Einflusszonen. Überhaupt geht es nicht um die Anerkennung realer politischer oder wirtschaftlicher Ziele. Wenn man nach Form und Charakter eines Mangels an Anerkennung fragt, den die politischen Eliten Russlands und möglicherweise ja auch viele der sprichwörtlichen „ganz normalen Menschen auf der Straße“ empfinden, wenn sie über ihre Beziehung zum „Westen“ nachdenken und sprechen, dann zeigt sich, dass die Tatsache, dass die USA und die NATO das für die russischen politischen Eliten offenbar wichtige Anliegen ignorierten – die Einhaltung der mündlichen Zusage, die Einflusszone des „Westens“ nicht über die deutsch-polnische Grenze hinaus, geschweige denn in die Land- und Seegebiete des ehemals sowjetischen Hoheitsgebietes zu verschieben – als Missachtung verstanden wurde.
Russlands verlorener Status als Großmacht
In seiner Studie über „Integrität und Mißachtung“ im Bereich der interpersonalen Beziehungen stellt Axel Honneth fest, dass „sich die Integrität des Menschen auf untergründige Weise der Zustimmung oder Anerkennung durch andere Subjekte verdankt“. Entsprechendes kann man begründen, wenn man über die Implikationen des in der UN Charta formulierten Grundsatzes der souveränen Gleichheit und der territorialen Unversehrtheit der Staaten als Grundlage globalen Zusammenlebens nachdenkt. Honneth unterscheidet drei Arten der Missachtung: die intensivste und tiefste Erniedrigung des Menschen liegt in der physischen Misshandlung wie z. B. Folter und Vergewaltigung. Auf der zwischenstaatlichen Ebene entspricht dem der kriegerische Überfall, den die Ukraine in diesen Wochen seitens Russlands erleidet. Die Ukrainer widerstehen gewiss vor allem deswegen so tapfer, weil sie neben den verheerenden physischen Zerstörungen in ihrem Land die in diesem Angriff liegende Missachtung als Staat und Nation wahrnehmen.
Vom Extremfall tiefster Erniedrigung unterscheidet Honneth jene Formen der Missachtung, „die das normative Selbstverständnis einer Person betreffen“ wie die vielfältigen Erscheinungen der Entrechtung und des sozialen Ausschlusses (Honneth, S. 1046). Auf zwischenstaatlicher Ebene gibt es dafür vermutlich keine Parallele. Denn die sich aufdrängenden Fälle einer politisch-strategischen Isolierung und der Eindämmung von internationalen Wirkungsmöglichkeiten einzelner Staaten (wie z.B. Nordkoreas und gegenwärtig Russland) finden meist als Sanktionen für vorhergegangenes Verhalten, das missbilligt oder „bestraft“ werden soll.
Missbilligung impliziert jedoch keine Missachtung. Eine solche liegt dagegen bei der dritten der von Honneth unterschiedenen Variante vor, nämlich die in Miss- und Verachtung übergehende Ablehnung bestimmter „einzelne Lebensformen und Überzeugungsweisen als minderwertig oder mangelhaft“ (Honneth, S. 1047). Die Missbilligung schlägt in Miss- und Verachtung um, wenn sie nicht einzelne Handlungsweisen betrifft, sondern die Seinsweise von Personen und Personengruppen, wie sie sich z.B. im Antisemitismus oder dem Rassismus zeigen.
Gibt es Entsprechendes auf der zwischenstaatlichen Ebene? Das hochmütige Übergehen und Ignorieren elementarer staatlicher Selbstverständnisse und „Seinsweisen“ – z.B. die Behauptung eines sozial-moralischen als zivilisierte Nation, als neutraler Staat oder als Wiege bestimmter kultureller Erbschaften der Menschheit – wäre eine solche Form der Missachtung. Könnte es sein, dass es selbst der gegenwärtigen politischen Führung Russlands in Wahrheit gar nicht unbedingt um die Eroberung von Land und Leuten der Ukraine geht, sondern um den Beweis des russischen Großmachtstatus? Dann wäre die Einstufung als „Regionalmacht“ eine Verletzung russischen Selbstgefühls und Statusbewusstseins, für dessen Heilung Russland einen völkerrechtswidrigen, moralisch verwerflichen, ökonomisch widersinnigen und grausamen Krieg bar jeder realpolitisch-rationalen Erklärungsfähigkeit vom Zaune bricht.
Die Welt hat seit dem Jahre 1933 schmerzlich erleben müssen, zu welchen Untaten eine Nation fähig ist, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – gekränkt, beleidigt, gedemütigt und allein gelassen fühlt, mit anderen Worten: in existentieller Unsicherheit lebt. Vielleicht sollten wir dieser möglichen Parallele zur heutigen Situation mehr Aufmerksamkeit widmen.
An English translation of this article has been published here.
“Andere Stimmen betrachten die Ausdehnung der NATO in den Interessenbereich Russlands deswegen als unerheblich, weil für die westliche Zusage auf die Unterlassung dieses Schrittes keinerlei schriftlichen Dokumente vorliegen und die – nicht bestrittenen – entsprechenden Erklärungen etlicher Außenminister nur mündlich abgegeben wurden.”
So bereichernd ich Ihre Perspektive im Übrigen finde, denke ich, dass man diese Aussage so eigentlich nicht stehen lassen kann. Zunächst wird diese Zusage von deutscher Seite bestritten, z.B. durch den damaligen Berater Helmut Kohls, Horst Teltschik. Wichtiger ist wahrscheinlich, dass auch Gorbatschow ebenso wie der damalige Marschall der SU Jasow wiederholt und in aller Deutlichkeit die Existenz von Gesprächen mit einem derartigen Inhalt bestritten haben. Die Aussage Genschers während einer Pressekonferenz, auf die sich die Vertreter der Theorie einer Zusage stützen, mag möglicherweise die Position einiger europäischer Außenminister widergespiegelt haben – eine irgendwie geartete direkte oder indirekte Zusicherung an die SU lässt sich daraus aber schlicht nicht ableiten. Man sollte daher anerkennen, dass die Aufrechterhaltung dieses Mythos durch die russische Regierung keinen Ausdruck gebrochenen Vertrauens gegenüber den westlichen Demokratien darstellt, sondern vielmehr ein brillanter wenn auch letztendlich durchschaubarer Trick war um Verständnis für die konfrontative Politik des Kreml zu erzeugen. Dass sie selbst im Angesicht einer derartig klar formulierten völkisch-nationalistischen Aggression zur Wiederherstellung des verloren geglaubten Imperiums von einigen Kommentatoren bemüht wird, zeigt nur wie erfolgreich diese Strategie war.
Es ist hier nicht der Platz, die Kontroverse über diese Frage im Einzelnen aufzurollen. Ich habe den Eindruck, dass in der deutschen Diskussion vor allem die damals aktiv Beteiligten als Zeugen zitiert werden, von Baker über Genscher und Gorbatschow bis Teltschik u.v.m. Für Historiker sind das natürlich valide Quellen, aber nicht unbezweifelbare Gewährsleute für die historische Wahrheit. Mir erscheint als die mir augenblicklich glaubwürdigste Quelle für die Bewertung der historischen Wahrheit der Frage der NATO-Osterweiterung die Studie einer professionellen Historikerin, die im Jahr 2019 veröffentlicht wurde, also etwa 25 Jahre nach den hier relevanten Ereignissen, aber vor der Erfahrung des gegenwärtigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, sowie mit sorgfältiger Auswertung der US-amerikanischen Archiv-Quellen aus der Zeit der Präsidentschaft von Bill Clinton, unter dessen Präsidentschaft die wesentlichen Ereignisse zu dieser Frage stattfanden. Ich zitiere hier eine ihrer Schlussfogerungen: „Rather than asking yet again whether enlargement was right or wrong, it is more illuminating to ask whether the chosen strategy of enlargement—the “how”—suited the goal of maximizing long-term security gains for the United States and its allies“ – und sie gibt die vorsichtige Antwort: „there is room for doubt“.
Ich empfehle also die Lektüre von Mary Elise Sarotte: How to Enlarge NATO: The Debate inside the Clinton Administration, 1993–95., in: International Security Band 44, Nummer 1 (Sommer 2019), S. 7–41
Lieber Ulrich,
Ohne genau zu verstehen, worauf Deine Gedanken am Ende politisch hinauslaufen, muss ich Dir energisch widersprechen.
Du willst Dich an der Suche nach den “nachvollziehbaren Gründen” für den Krieg gegen die Ukraine beteiligen. Dazu gibt es inzwischen viele Analysen, die sich im Wesentlichen darin treffen, dass Putin auf die Wiederherstellung eines russischen Imperiums (ob in zaristischer oder sowjetischer Tradition, etwas von beiden) zielt, mit einem “Puffer” gegenüber dem “Westen” = Demokratie, um die autokratische Herrschaft im Inneren abzusichern.
Du schreibst: “Könnte es sein, dass es selbst der gegenwärtigen politischen Führung Russlands in Wahrheit gar nicht unbedingt um die Eroberung von Land und Leuten der Ukraine geht, sondern um den Beweis des russischen Großmachtstatus?”
Es geht Putin nicht um den “Beweis” eines Status, sondern um die Wiederherstellung einer imperialen Großmacht durch die Eroberung der Ukraine. So wie es Japan 1941 nicht um den “Beweis” seiner Größe ging, sondern um die reale Vergrößerung des Reiches. Und Deutschland ab 1938.
Deine Theorie: Putin (hier stellvertretend für die russische Führung) handelt so wegen der “Kränkung” und “Missachtung”.
Erste Kränkung: “territoriale Amputation”. Mit der Kränkung, nicht mehr Kolonialmacht und Imperium zu sein, mussten auch andere fertig werden, etwa Habsburg. Algerien war auch Teil Frankreichs. Was für Russland verloren ging, war ja in langen Zeiträumen bis ins 20. Jahrhundert erobert und einverleibt worden. Ist dafür “Amputation” der richtige Begriff.
Zweite Kränkung: Der Westen habe sich nicht um Russland gekümmert nach 1990. Das ist nachweislich falsch, es wurden verschiedene Abkommen mit Russland geschlossen; Budapest, Russland-Akte, erhebliche wirtschaftliche Beziehungen bis hin zur bekannten Abhängigkeit in einzelnen Bereichen; bdestes Leben der russischen Oligarchen in der EU.
Dritte Kränkung: Obamas Wort von der “Regionalmacht”; sie war ja, wie wir wissen, wirtschaftlich damals wie heute eine Binsenwahrheit. Putin brauchte diese “Kränkung” übrigens nicht, um Grosny bereits ausgelöscht zu haben.
Vierte (und offenbar nach Deiner Meinung die entscheidende): Die Geschichte des angeblichen Versprechens der Nicht-Ausdehnung der NATO. Es ist nun wiederholt dargestellt worden, dass es mündliche Äußerungen gab in einem Stadium der Verhandlungen, in dem es zunächst nur um den Status der DDR ging, und keinerlei schriftliche Vereinbarungen, die selbstverständlich im Völkerrecht entscheidend sind. Diesen fundamentalen Unterschied als “Niveau von Winkeladvokaten” zu bezeichnen, ist schon starker Tobak. In meinen Augen ist es ein zentraler Bestandteil von staatlicher Souveränität, seine Bündnisse frei wählen zu können. Das haben osteuropäische Staaten aus guten Gründen getan; der letzte Beitritt zur NATO war übrigens 2004 und ist zu dem Zeitpunkt mit keinem Wort von Putin kritisiert worden. Und die NATO hat sich bis gestern an die schriftlichen Zusagen gehalten, dort keine ständige Truppenpräsenz zu schaffen.
Dein letzter Absatz hat mich am meisten beunruhigt:
“Die Welt hat seit dem Jahre 1933 schmerzlich erleben müssen, zu welchen Untaten eine Nation fähig ist, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – gekränkt, beleidigt, gedemütigt und allein gelassen fühlt, mit anderen Worten: in existentieller Unsicherheit lebt. Vielleicht sollten wir dieser möglichen Parallele zur heutigen Situation mehr Aufmerksamkeit widmen.”
Erstens bleibt es ein entscheidender Unterschied, ob “zu Recht oder zu Unrecht”. Diesen Unterschied müssen wir festhalten, denn sonst bestimmt der sich nach freiem Ermessen bedroht, missachtet, gekränkt Fühlende die Spielregeln. Und wer sich “bedroht fühlt”, darf dann in “Notwehr” losschlagen, so wie Hitler gegen das “Weltjudentum”. Russland hat in keiner Weise “in existenzieller Unsicherheit” gelebt. Auch Deutschland hat 1933 nicht in “existenzieller Unsicherheit” gelebt. Hitler hat Ressentiments und Revanchismus mobilisieren können, um Ziele zu verfolgen, die ganz andere waren.
Freundliche Grüße, Hermann
Erwiderung auf die Kritik von Hermann Kuhn
Bevor ich auf die einzelnen Kritikpunkte eingehe zwei Vorbemerkungen: erstens, dies ist kein Text auf der Suche nach „nachvollziehbaren Gründen“, gar einer Rechtfertigung oder Entschuldigung für die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine. Er ist vielmehr der Versuch einer analytischen Klärung der Gründe für den russischen Angriffskrieg. In dem Text prüfe ich die Gründe dafür, dass Russland einen völkerrechtswidrigen, moralisch verwerflichen, ökonomisch widersinnigen und grausamen Krieg bar jeder verständlichen Erklärungs¬fä¬higkeit führt. Es geht nicht um Verständnis für diesen Akt, sondern um Verstehen. Zweitens, in der Erwiderung meines sehr geschätzten Freundes Hermann Kuhn findet sich keine Berücksichtigung der zentralen These des Textes, die sowohl in der Unterzeile des Titels wie in einer Zwischenüberschrift ausdrücklich hervorgehoben wird und die die Grundlage der gesamten Argumentation über Sicherheit bildet: Sicherheit ist ein gesellschaftliches Verhältnis der Interdependenz der Akteure in den internationalen Beziehungen einer globalisierten Welt. Das bedeutet, dass es kein Beitrag zur Erhaltung der bestehenden oder Wiederherstellung einer gestörten internationalen Sicherheit ist, den Störer dieser Sicherheit zu identifizieren und der Begehung von völkerstrafrechtlichen Verbrechen zu zeihen. Die Bezeichnung ist schon zutreffend, und der moralische Impuls verständlich – aber sie ist kein Beitrag zur internationalen Sicherheit. Diese ist ein Kollektivgut und kann ohne den oder die Anderen nicht hergestellt werden. Inter¬natio¬nale Sicherheit ist der materielle Kern der internationalen Ordnung, in der es zwar – wie gerade in diesen Wochen – kriminelle Störer gibt, die aber weiterhin für die internationale Sicherheit benötigt werden. Es gibt keinen Ausschluss einzelner Akteure aus der internationalen Ordnung – jedenfalls nicht, wenn dieser Akteur der größte Flächenstaat dieses Planeten ist. Deswegen hat die Welt zu Recht überwiegend äußerst kritisch auf die Warschauer Rede von Präsident Biden reagiert, in der die Idee eines erzwungenen Regimewechsels in Russland durchschimmerte.
Nun zu den einzelnen Einwänden von Hermann Kuhn:
1. „Es geht Putin nicht um den ‚Beweis‘ eines Status, sondern um die Wiederherstellung einer imperialen Großmacht durch die Eroberung der Ukraine“: Ich sehe darin keinen gravierenden Gegensatz zu meiner Hypothese, dass es den gegenwärtigen russischen Eliten um den Status als Großmacht geht. Allerdings, ein Land mit der territorialen Ausdehnung Russlands braucht nicht zusätzlich noch die Ukraine, um sich diesen Status zuzulegen – was es braucht, ist die Anerkennung und der daraus folgende Respekt als eine Großmacht. Wird sie verweigert, dann zwingt man die Verweigerer dazu, diese Macht zur Kenntnis zu nehmen. Warum wohl spielt Putin mit mehr oder minder versteckten Drohungen über die Möglichkeiten von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen?
2. „Erste Kränkung: ‚territoriale Amputation‘:. Mit der Kränkung, nicht mehr Kolonialmacht und Imperium zu sein, mussten auch andere fertig werden, etwa Habsburg. Algerien war auch Teil Frankreichs. Was für Russland verloren ging, war ja in langen Zeiträumen bis ins 20. Jahrhundert erobert und einverleibt worden. Ist dafür ‚Amputation‘ der richtige Begriff.“
Das ist eine interessante und als Hinweis auf die Probleme ehemaliger Kolonialmächte auch zutreffende Feststellung. Dass Russland im Gegensatz zu den Beispielen Habsburg-Österreich (?) und Frankreich mit diesem Statusverlust nicht so einfach fertig geworden ist liegt daran, dass Russland nicht wie jene Länder in ein über Jahrhunderte währendes System des europäischen Gleichgewichts weitgehend gleichwertiger Staaten eingebettet und damit auch politisch-strategisch „sozialisiert“ war. Russland war und ist dank territorialer Ausdehnung eine solitäre Großmacht und versteht sich ja nicht zufällig als eine „eurasische“ Macht. Vielleicht sollte man noch einmal Karl-August Wittfogels Studie über „Asiatische Despotie“ zur Hand nehmen.
3.“ Zweite Kränkung: Der Westen habe sich nicht um Russland gekümmert nach 1990. Das ist nachweislich falsch, es wurden verschiedene Abkommen mit Russland geschlossen; Budapest, Russland-Akte, erhebliche wirtschaftliche Beziehungen bis hin zur bekannten Abhängigkeit in einzelnen Bereichen; bestes Leben der russischen Oligarchen in der EU.“
Ich behaupte nicht, dass sich der Westen nicht um Russland „gekümmert“ habe. Gewiss hat es vielfältige internationale Verträge zwischen Russland und westlichen Staaten gegeben. Meine Hypothese besagt, dass es den russischen politischen Eliten um den verloren gegangenen Status als Großmacht ging, und hier spielte die NATO-Expansion eine empfindliche Rolle. Ich zitiere hier einen Autor, der hier meist nur als dubioser Außenminister des noch dubioseren Präsidenten Nixon wahrgenommen wird. Dabei wird vergessen, dass er vor jenem politischen Amt eine brillante wissenschaftliche Karriere an der Harvard Universität gemacht hat und Substanzielles zum Thema der internationalen Beziehungen beizutragen weiß. In seinem lesenswerten Buch „Weltordnung“ schreibt er, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
„in der aufkommenden Jubelstimmung … traditionelle Probleme des Kräftegleichgewichts als ‚alte‘ Diplomatie abgetan (wurden). Die Atlantische Allianz, so wurde jetzt verkündet, müsse sich weniger um Sicherheit als um ihre politische Reichweite kümmern. … Die Erweiterung eines Militärbündnisses auf historisch umstrittenes Gebiet, das in einem Umkreis von wenigen hundert Kilometern von Moskau entfernt lag, wurde dabei nicht primär aus Sicherheitsgründen, sondern als zweckmäßige Methode ins Auge gefasst, um weiter Demokratie zu ‚verankern‘“ (S. 106).
4. „Dritte Kränkung: Obamas Wort von der ‚Regionalmacht‘; sie war ja, wie wir wissen, wirtschaftlich damals wie heute eine Binsenwahrheit. Putin brauchte diese ‚Kränkung‘ übrigens nicht, um Grosny bereits ausgelöscht zu haben.“
Für eine wirtschaftlich am Boden liegende ehemalige Großmacht wäre es vermutlich weniger eine Kränkung, fälschlicherweise als bloße Regionalmacht bezeichnet und so behandelt zu werden, wenn sie wirtschaftlich ein blühendes Land wäre. Was wirklich das Selbstgefühl verletzt ist eine solche Kennzeichnung, wenn die Binsenweisheit von dem wirtschaftlichen stimmt. Einem schönen Menschen zu sagen, er sei hässlich, ist leichter zu ertragen als wenn dies einem tatsächlich hässlichen – d.h. einem von sich selbst und vielen anderen als hässlich wahrgenommenen – Menschen gegenüber geäußert wird. Ich kann nicht sagen, dass die Zerstörung von Grosny (und Aleppo) auf jene Kränkung zurückzuführen ist – aber ich bin davon überzeugt, dass solche barbarischen Akte kaum von einem seiner selbst sicheren Staat begangen werden.
5. „Vierte (und offenbar nach Deiner Meinung die entscheidende): Die Geschichte des angeblichen Versprechens der Nicht-Ausdehnung der NATO. Es ist nun wiederholt dargestellt worden, …“
Zu der inhaltlichen Seite dieses Einwandes verweise ich auf die Antwort auf Tim Hagemann. Warum ich die ja durchaus wahre Behauptung von dem Fehlen eines schriftlichen Dokumentes über die Frage der NATO-Osterweiterung als „winkeladvokatorisch“ bezeichne? Weil auch schriftliche Verträge nur ein „Fetzen Papier“ sind, wenn sie nicht durch den sozialen Status der Versprechenden beglaubigt werden. Der Urvater der staatlichen Souveränität, Thomas Hobbes, schrieb: „Da die Kraft des Wortes … zu schwach ist, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Verträge anzuhalten, gibt es in der menschlichen Natur nur zwei denkbare Heilmittel zu ihrer Stärkung, und diese sind einmal die Furcht vor den Folgen eines Wortbruchs, oder aber das Gefühl des Ruhms und des Stolzes, als jemand dazustehen der einen Wortbruch nicht nötig hat“ (Leviathan, 14. Kap.). Der Winkeladvokat ist jemand, dem jenes Gefühl des „Ruhms und Stolzes“ abgeht. Auch souveräne Staaten haben so etwas wie Ehre und Stolz.
6. Dein letzter Absatz hat mich am meisten beunruhigt:
„Die Welt hat seit dem Jahre 1933 schmerzlich erleben müssen, zu welchen Untaten eine Nation fähig ist, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – gekränkt, beleidigt, gedemütigt und allein gelassen fühlt, mit anderen Worten: in existentieller Unsicherheit lebt. Vielleicht sollten wir dieser möglichen Parallele zur heutigen Situation mehr Aufmerksamkeit widmen.“
Der Satz enthält keine Rechtfertigung oder Entschuldigung – er ist der Versuch der Erklärung einer vermuteten Kausalität. Sie beunruhigt mich selbst auch. Mit dem Hinweis auf die Erfahrung der Demütigung meine ich nicht die bloße Behauptung einer Demütigung. Sie verweist vielmehr auf die Situation, die ich als „existentielle Unsicherheit“ bezeichnet habe. Diese, so die Hypothese, liegt vor, wenn das gesellschaftliche Verhältnis, das Sicherheit konstituiert, durch den Wegfall von Gegenseitigkeit gestört ist. Die Formulierung „zu Recht oder zu Unrecht“ bringt zum Ausdruck, dass Demüti-gung nicht als eine Sanktion oder als bewusst zugefügtes Leid misszuverstehen ist. Es meint die Erfahrung eines Mangels – das Fehlen der Anerkennung als Gleicher. Diese ist hier nicht als ein wie immer begründeter und begründungsbedürftiger Anspruch gemeint. Sie ist eine Bedingung von Sicherheit. Die moralische Verurteilung des um Anerkennung Kämpfenden mag berechtigt sein – und ist es im Falle des russischen Angriffskrieges auch. Aber sie ersetzt nicht das gesellschaftliche Verhältnis, durch das internationale Sicherheit erst hergestellt wird.
Zum Schluss: was ist die politische Botschaft? Zurück zur “Partnerschaft des Friedens”. Könnte die EU als erfolgreiche Union souveräner Staaten nicht Russland anbieten, bei der Errichtung einer Gemeinschaft souveräner eurasischer Staaten mit Rat und Tat beizustehen, um an der Errichtung einer Russland einschließenden europäischen Friedensordnung mitzuwirken? Das augenblickliche Ziel, Russland zum Paria der internationalen Ordnung zu degradieren, könnte gelingen, aber friedlicher wird damit die Welt vermutlich nicht.
Das ist ein sehr bedenkenswerter Kommentar! Hinter der Frage nach der Möglichkeit der Kränkung einer Nation steht das Interesse an der Entwicklung der russischen politischen Kultur in den letzten Jahrzehnten. Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, dass die staatliche Manipulation der Kriegsberichterstattung allein dafür verantwortlich ist, dass es in Russland so wenig Opposition gegen den Krieg gibt. Der letztlich auch selbstzerstörerische Krieg ist nicht nur auf Putins imperiale Größenphantasien zurückzuführen. Er ist die Konsequenz einer tiefen kulturellen Krise und der mangelnden Fähigkeit zur politischen Selbstreflexion. Diese Krise ist auch in der westlichen Öffentlichkeit viel zu wenig beobachtet worden. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war (auch) Russland bis etwa 2000 auf dem Weg nach Westen. Mit dem Machtantritt Putins hat sich eine antiwestliche Wende vollzogen, deren Erscheinungsformen (auch im Rechtsdenken) in den westlichen Ländern viel zu wenig wahrgenommen und analysiert worden sind. Putins in den letzten Jahren veröffentlichte Betrachtungen der “geopolitischen Katastrophe” des 20. Jahrhunderts sind nur letzte Ausläufer einer jahrelangen Entwicklung. Eine Parallele dazu findet sich etwas später in China, wo heute an vielen Rechtsfakultäten Carl Schmitt mit großem Interesse (und mit Sympathie) gelesen wird. Trotzdem sind die Bedingungen in China anders als in Russland, weil China wirtschaftlich erfolgreich ist, während Russland arm ist. Für uns als Juristen käme es darauf an, die neuen Bedingungen autokratischer Herrschaft sehr viel ernster zu nehmen, weil sie auch nach Putin fortbestehen werden. Die Ukraine ist ein Land, das in den letzten Jahren einen grundlegenden Wandel erlebt hat und gerade deshalb eine Provokation für das Russland Putins bedeutet hat. Auch diese Entwicklung ist in der westlichen, viel zu selbstbezüglichen Kultur zu wenig beobachtet worden. Unausgesprochen hat man im Westen die Ukraine schon abgeschrieben und dem russischen Restimperium zugeschlagen – auch wenn man sich die Konsequenzen nicht so vorgestellt hat. Deshalb konnte sich Putin nicht ernsthaft von der Nato bedroht fühlen.
Ich teile den Ansatz Deiner Kommentierung, wonach wir nach den strukturellen Ursachen der gegenwärtigen Politik Russlands Ausschau halten sollten. Allerdings ist das von Dir gezeichnete Bild Russlands im Grunde noch düsterer als das derjenigen, die den Ukrainekrieg ausschließlich auf die imperialen Träume Putins zurückführen. Folgt man Deinem Gedanken, so ist Russland nicht erst gegenwärtig eine Macht, der für den Status einer Großmacht die dafür erforderlichen strukturellen Voraussetzung einer „Beziehungsfähigkeit“ fehlen – so übersetze ich Deine Feststellung einer „mangelnden Fähigkeit zur politischen Selbstreflexion“. Am Ende müsste man dann ja wohl davon ausgehen, dass Russland allein wegen seiner Verfügung über nukleare Waffenarsenale eine international zu respektierende Macht wäre. Ich kenne die Situation dieses Landes zu wenig, um mir darüber ein Urteil erlauben zu können, ob die von Dir wohl zu Recht diagnostizierte tiefe kulturelle Krise Russland zu einem für die internationale Politik hoffnungslosen Fall macht. Immerhin gab und gibt es ja dort wie auch im benachbarten und strukturell ähnlichen Belarus Anzeichen einer zivilgesellschaftlichen Sphäre, die nicht zuletzt deshalb so schwach ist, weil die dortige Ökonomie (jedenfalls in Russland) eine pure Rentierökonomie ist, die keinerlei Vorsorge für die zukünftigen Generationen trifft, indem sie ausgedehnte Formen und Bereiche der Wertschöpfung durch Arbeit und Intelligenz entwickelt. Man sieht ja, dass selbst in den in dieser Hinsicht eigentlich noch rückständigeren arabischen Ölstaaten sich etwas bewegt – warum also sollte nicht auch in Russland ein Erwachen möglich sein – wie es ja an der Wende vom 17. um 18 Jhdt. unter Zar Peter dem Großen historisch bereits einmal geschah? Ich denke, dass es von der EU konstruktive Schritte für eine Rückholung Russlands nach Europa geben könnte und sollte. Das Projekt einer Industrialisierung Russlands könnte immerhin eine Brücke wischen dem heute herrschenden autokratisch-repressiven System der Rentierwirtschaft und einer Zukunft industrieller Entwicklung mit schrittweiser innerer Liberalisierung bilden. Das könnte dann auch die in der Westorientierung liegende ukrainische Provokation allmählich mildern – klingt im Angesicht der heutige Lage vermutlich sehr naiv, aber in der Dunkelheit dieser Tage und der zunehmenden Emotionalisierung in Richtung Kriegseintritt muss man auch mal eine kleine Kerze der hoffenden Vernunft oder der vernünftigen Hoffnung entzünden.
Lieber Ulrich,
da ich gerade an einem längeren Stück zur russischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte sitze, hier nur ein paar Anmerkungen.
Russland ist nicht gedemütigt worden, sondern hat aufgrund der Nichtreformierbarkeit der alten Sowjetunion und des Freiheitswillens der unter ihr lebenden Völker, im übrigen auch des eigenen, ein Imperium verloren (wobei ich hier aus Platzgründen ungenauerweise Russland als Kernland mit der Sowjetunion zusammenziehe). Und Imperien müssen oft auch im Nachhinein “bezahlt” werden, indem die einst unterdrückten Völker bei anderen Mächten Schutz suchen.
Das neue Russland nach 1991 war im Zuge seiner wilden, immer wieder gebrochenen Kapitalisierung und des Fortwirkens mächtiger Altstrukturen ein zerrissenes Land. Unter Putins “Vertikale der Macht” gelang (nicht zuletzt wegen des hohen Ölpreises) eine gewisse ökonomische Erholung, verbunden mit einer schrittweisen Autokratisierung, die sich nach 2011 (Protestbewegung in Moskau) immer stärker nationalistisch, fremdenfeindlich (gegen den verkommenen, sexualisierten Westen) und repressiv auflud. Die Okkupation der Krim war ein Alarmzeichen, das bei uns in der Politik einfach nicht verstanden wurde. Von Demütigung Russlands kann hier keine Rede sein.
Als Argument gilt dennoch häufig die Erweiterung der NATO. Sie aber war keine Strategie des Westens, sondern der Wunsch der in Ostmitteleuropa lebenden Nationen. Haben wir Deutsche, die zusammen mit Russland (UdSSR) Polen 4-mal geteilt haben, ein Recht, unseren Nachbarn zu sagen, nein, Ihr dürft nicht in die gleiche Sicherheit wie wir? Das stünde in der schlimmen Tradition unserer zum Glück überwundenen Großmachtpolitik. Ich war in den neunziger Jahren oft in Warschau. Der beiden Tschetschenien-Kriege 1994/95 und 2000/01 wirkten wie ein Katalysator. Das zerbombte Grosnyj begrub (dort) das Bild eines Russlands, auf das man Sicherheit bauen konnte.
Jenseits der NATO-Frage wurde Russland tief in die internationalen Verflechtungen eingebunden, Modernisierungspartnerschaften wurden aufgbaut, Gas-Pipelines zu Hauf verlegt, Gesprächsforen und Freundschaftsbekundungen auf höchster Ebene gepflegt – trotz aller Beschneidungen demokratischer Rechte auch nach 2000. Wir haben über Jahrzehnte – um eines guten Verhältnisses zu Putin willen – die Augen vor den Realitäten verschlossen. Zeitweise hatte ich den Eindruck, wir hofieren ihn. Von Demütigung kann keine Rede sein. Mag sein, dass hier meine Bindung an MEMORIAL durchschlägt.
Nein. Wenn wir uns auf die Suche nach Putins Motiven für den Krieg gegen die Ukraine begeben, dann gibt es ein zentrales Stichwort: den MAIDAN. In seinem nicht mehr kontrollierbaren Machtwillen fürchtet der russische Präsident die Freiheit – und muss sie fürchten. Erst recht in der Ukraine, die in der Geschichte so eng mit Russland verbunden war. Sie könnte ja überspringen. Als ich 2014 in Moskau war, durfte bei Demonstrartionen ein Wort auf den Plakaten nicht genannt werden. Das war “Maidan”. Wenn Putin von der Gefahr der Einkreisung Russlands spricht, dann meint er nicht die paar Waffen, sondern das freie Wort.
Über Deinen Text hinaus:
In der Summe wundere ich mich immer wieder, wie wir glauben, Russland in einer Weise verstehen zu müssen, die diesem Land und seinen Menschen selbst schadet. Putin führt Krieg, während das Land Frieden braucht. Er rüstet und verbrennt damit Mittel, die der zivilen Ökonomie fehlen. Wir unterstellen ihm, dass er Anerkennung sucht, – und treibt Russland in den Ruin. Mit anderen Worten: wir dürfen ihm die Anerkennung, die er sucht, nicht geben.
Tschetschenien, Georgien (2008), die Krim, Aleppo, jetzt Mariupol und Kiew – das sind keine verletzten Gefühle, das ist ein Morden um einer von allen Regeln befreiten Macht wegen.
Zu den Spekulationen von 1990/91: Gorbatschow sagte mir gegenüber wiederholt und glaubhaft, es habe ihm oder seinen Ministern gegenüber keine Zusagen gegeben. Sie standen auch gar nicht zur Diskussion.
Lieber Ulrich, trotz unserer unterschiedlichen Blickweisen finde ich unsere Diskussion gut. Ich kenne in Russland so viele Menschen, die ein gänzlich anderes Bild ihrer Heimat entwerfen. Meine Frage ist: wie mit ihnen zusammenarbeiten, wie mit ihnen ihre und unsere Welt verändern, wie von ihnen lernen. …
Wolfgang
Erwiderung auf die Kritik von Wolfgang Eichwede
Um den für eine Antwort zur Verfügung gestellten Raum nicht allzu sehr zu strapazieren, werde ich mich nach einer Vorbemerkung auf einen Punkt der Einwände des von mir als Russland-Experten seit Jahren sehr geschätzten und bewunderten Wolfgang Eichwede beschränken, nämlich seine Behauptung, dass die NATO-Erweiterung keine Strategie des Westens war, sondern auf Wunsch der ost- und mitteleropäischen Staaten erfolgte.
Zunächst aber die Vorbemerkung, die der Klärung der Prämisse über meine Aussagen über die „Demütigung Russlands“ dienen soll: mein Ausgangstext, auf den sich die Kritik von Wolfgang Eichwede bezieht, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist analytisch und soll das Konzept der internationalen Sicherheit in einer von vielen globalen Akteuren mit sehr unterschiedlichen Interessen und Identitätsansprüchen und –behauptungen bevölkerten Welt klären. Dafür steht die Trias der Überschrift Misstrauen, Vertrauen, Anerkennung als jeweils dominierenden Grundideen verschiedener Konzepte internationaler Sicherheit. Der zweite Teil, der der sog. ontologischen Sicherheit gewidmet ist und in dem die russische Politik als Ergebnis eines Mangels an Anerkennung Russlands durch “den Westen“ gedeutet wird, ist überwiegend bewertend, insofern in ihm bestreitbare Deutungen und Bedeutungen vorherrschen. Nach meiner Vorstellung sollten die Deutungen und Bedeutungen gewissermaßen aus den analytischen Aussagen folgen, vor allem aus jener Aussage, der zufolge internationale Sicherheit als ein ununterbrochener Prozess wechselseitiger Bezüglichkeit von souveränen Staaten ist und sich dadurch grundlegend von unseren Vorstellungen von Sicherheit im innerstaatlichen Bereich unterscheidet. Die Abhängigkeit der Erwägungen des zweiten Teiles von den Prämissen des ersten Teiles habe ich nicht deutlich herausgearbeitet, so dass die Hauptkritikpunkte sich auf die Deutungen und Bedeutungen des Status von Russland konzentrierten, ohne deren Abhängigkeit von den Prämissen des ersten Teiles zu berücksichtigen. Ich will diesen im ursprünglichen Text nicht deutlich gemachten Zusammenhang hier kurz nachliefern.
Die Kernaussage des ersten Teiles lässt sich auf die Aussage zuspitzen, dass internationale Sicherheit kategorial einen anderen Charakter hat als der uns geläufige Begriff von Sicherheit, der am Konzept der innerstaatlichen Sicherheit orientiert ist. Die innerstaatliche Sicherheit ist unter normalen staatlichen Verhältnissen eine Gegebenheit. Sie beruht auf dem staatlichen Gewalt- und Rechtsmonopol. Sicherheit gilt durch die Existenz eines funktionierenden Staates als prinzipiell gewährleistet. Innerstaatliche Sicherheit wird erst prekär, wenn der Staat auf die Kooperation von außerstaatlichen Kräften angewiesen ist, die das Potential zur Herausforderung seiner Ordnungsmacht haben (wie z.B. die Mafia in einigen Regionen Italiens, die Drogenkartelle in Mexico u. dgl.) zu gewährleisten. Genau diese glücklicherweise immer noch seltenen Konstellationen einer prekären inneren Sicherheit von Staaten bilden aber der Normalfall der internationalen Sicherheit. Da es in der Gesellschaft souveräner Staaten kein funktionales Äquivalent zur innerstaatlichen Souveränität gibt, welche Definitionsmacht über die internationale Sicherheit besitzt, sind die Quellen von Sicherheit und Unsicherheit untrennbar in einem Pluriversum souveräner Staaten an einander gekettet. Mit anderen Worten, internationale Sicherheit muß in einem andauernden Prozess der wechselseitigen Kompatibiisierung der Interessen- und Identitätsbehauptungen der Staaten stets neu hergestellt werden. Es gibt zwar etliche Anklänge an innerstaatliche Ordnungs- und Sicherheitsprinzipien, wie z.B. die Idee, dass bestimmte Staaten als privilegierte internationale Ordnungsgaranten gelten und fungieren, oder auch die Charakterisierung und Behandlung bestimmter Staaten als sog. „Schurkenstaaten“, und nicht zuletzt die Kodifizierung bestimmter Handlungen in der internationalen Sphäre als strafwürdiges Verbrechen, das durch eine internationale Gerichtbarkeit abgeurteilt werden kann. All diese internationalen Parallelisierungen zur innerstaatlichen Ordnung ändern aber nichts daran, dass es keine Garantie für internationale Sicherheit in Gestalt einer den potentiellen Störern der internationalen Ordnung strukturell überlegenen robusten und effektiven Herrschaftsinstanz gibt. Internationale Sicherheit muss im Mit- und Gegeneinander der potentiellen Störer von Sicherheit gemeinsam hergestellt werden. Diese Eigenart macht sie so fragil. Kein Wunder, dass aus dieser Tatsache immer wieder die Utopien eines ewigen Friedens entspringt oder auch einer dem Hobbes’schen Leviathan nachgebildeten Weltregierung hervorgegangen sind.
Internationale Sicherheit ist das Ergebnis eines kooperativen Verhältnisses insbesondere derjenigen Staaten, die aufgrund ihrer materiellen Ausstattung (insbesondere geographische Lage, wirtschaftliches Potential, militärische Fähigkeiten) in der Lage sind, internationale Unsicherheit zu stiften. Internationale Sicherheit wird auch heute noch weitgehend durch ‚hard power‘ hergestellt. Die Tatsache der Ausstattung mit den Insignien der ‚hard power‘ in Verbindung mit dem Willen zur Kooperation mit den anderen für die internationale Sicherheit wesentlichen Akteuren macht diesen Staat zu einem unverzichtbaren Element internationaler Sicherheit. Wir erinnern uns in diesen Tagen, in denen uns die Nachricht vom Tod von Madeleine Albright erreicht, an deren berühmte Qualifizierung der USA als „indispensable nation“ – sie hatte recht. Was immer sie damit ausdrücken wollte – Inhalt dieser Charakerisierung war und ist bis heute der Tatbestand, dass die USA eine wesentliche Rolle bei allen Fragen von Krieg und Frieden auf diesem Planeten spielen. Das Problem, das wir Europäer damit haben, besteht darin, dass es noch weitere indispensable nations gibt. Das sind Staaten, auf deren Kooperationsbereitschaft alle anderen Staaten einschließlich der USA für die Wahrung internationaler Sicherheit angewiesen sind. So sind heute zweifellos auch Russland und China indispensable nations. Wir stehen damit vor einer zweiten Variante des im Eingangstext erwähnten Sicherheitspara¬doxes: Je bedeutsamer der Beitrag eines Staates zur Wahrung der internationalen Sicherheit ist, desto höher ist das Risiko für die internationale Sicherheit, denn sie hängt allein von der Kooperations¬bereitschaft eines solchen Staates ab. Der Wille zur Kooperation aber wird durch schwer kontrollierbare kontingente Umstände geprägt.
Hier ist allerdings eine Qualifikation am Platze. Wir können mit guten Gründen vermuten, dass es einen Unterschied macht, ob eine indispensable nation in dem hier auf die Frage der internationalen Sicherheit eingeengten Sinne als autokratische Herrschaft, als Diktatur oder als liberale, d.h. durch Recht verfasste Demokratie organisiert ist. So wie man in der Theorie der Internationalen Beziehun¬gen davon ausgeht, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, so spricht Vieles dafür, dass demokratische indispensable nations weniger riskant für die internationale Sicherheit sind als Autokratien und Diktaturen, weil sie in der Verfügung über ihre Ressourcen effektiv sowohl an das nationale und das internationale Recht gebunden wie auch von der Zustimmung ihrer Bevölkerung abhängig sind.
Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man aus dieser Unterschiedlichkeit der Rollen eines autoritären und eines demokratischen Staates bei der Wahrung internationaler Sicherheit den Schluss ziehen, dass im Interesse internationaler Sicherheit möglichst nur demokratische Staaten indispen-sable nations sein sollten. Auch wenn diese Schlussfolgerung durchaus plausibel ist, so könne daraus doch der Schluss gezogen werden, dass es der internationalen Sicherheit förderlich wäre, wenn man darauf hinwirkt, die unentbehrliche, aber autoritär beherrschte Nation in eine demokratische zu verwandeln.
Damit komme ich zur Erwiderung auf den Einwand Eichwedes gegen meine Hypothesen im Ausgangstext. Sein Einwand lautet, dass die NATO-Erweiterung keine Strategie des Westens war, sondern auf Wunsch der ost- und mitteleuropäischen Staaten erfolgte. Die Sache ist komplizierter.
In meiner Erwiderung auf die Kritik von Tim Hagemann habe ich bereits auf die ausführliche Studie von Mary Elise Sarotte: How to Enlarge NATO: The Debate inside the Clinton Administration, 1993–95., in: International Security Band 44, Nummer 1 (Sommer 2019), S. 7–41 hingewiesen und wiederhole hier diesen Hinweis. Wolfgang Eichwede hat recht, wenn er betont, dass es seinerzeit die vom sowjetischen Joch befreiten ost- und mitteleuropäischen Staaten waren, die darauf gedrängt haben, Mitglieder der NATO zu werden. Doch widerlegt das nicht die These, dass diese Politik maßgeblich von den USA verfolgt wurde und auf einem Wechsel der Strategie gegenüber der anderen Weltmacht beruhte. Es ging gar nicht um die militärische Dimension der NATO-Erweiterung, da man aufgrund der damaligen Umstände davon ausgehen konnte, dass die NATO und deren führende Macht keinen Grund für einen militärischen Angriff auf die Sowjetunion hatten. Wie Henry Kissinger berichtet, fand ein Pespektivwechsel in Bezug auf die Funkton der NATO statt. Er schreibt: „Die Atlantische Allianz, so wurde jetzt verkündet, müsse sich weniger um Sicherheit als um ihre politische Reichweite kümmern … Die Erweiterung eines Militärbündnisses auf historisch umstrittenes Gebiet … wurde dabei nicht primär aus Sicherheitsgründen, sondern als zweckmäßige Methode ins Auge gefasst, um weiter Demokratie zu ‚verankern‘“ (Kissinger Weltordnung, 2014, S. 106). Mit dieser Veränderung der Zwecksetzung der NATO entstand aus der bis zum Ende der Sowjetunion bestehenden symmetrische Beziehung zwischen den beiden damaligen Supermächten ein asymmetrisches Verhältnis: die NATO unterlief gewissermaßen die auf dem Felde der politisch-militärischen ‚hard power‘ bestehende Parität und verlegte das Kampffeld auf das Feld der ‚soft power‘, welche durch die kulturelle Ausstrahlung auf die Welt, die wirtschaftlichen und kulturellen Beiträge zur Menschheit Macht über das Denken und Fühlen der Menschen gewinnt. Dazu gehört auch der Charakter der inneren Verfasstheit eines Staates – eine demokratische Herrschaftsform verleiht zumindest unter Demokratien, aber vermutlich auch bei großen Teilen der Bevölkerungen von autoritären Regimen, ein höheres Ansehen als eine Diktatur. So hat Wolfgang Eichwede auch insofern recht, als er erklärt, dass Putins Russland nicht die NATO fürchtet, sondern das Wort MAIDAN – Inbegriff der Rebellion einer demokratischen Bewegung gegen die etablierte autoritäre Herrschaft.
Bei aller Sympathie und vollem Verständnis für den Wunsch vor allem junger Leute nach der Lebensluft eines demokratischen Gemeinwesens muss die struktrelle Implikation dieser Verschiebung der Rivalität der beiden damaligen Supermächte auf das Feld der ‚soft power‘ bedacht werden. Ich spreche nicht von der auch in der amerikanischen Öffentlichkeit wahrgenommenen und speziell auch von konservativer Seite kritisierten Tatsache einer massiven Einmischung hoher amerikanischer Regierungsbeamter in die MAIDAN-Bewegung bis hin zur Erarbeitung von Kabinettslisten für eine demokratische Regierung der Ukraine . Nach Angaben der damaligen Unterabteilungsleiterin für Europa und Eurasien im US-Außenministerium Victoria Nuland im Jahr 2013 gaben die USA seit 1991 fünf Milliarden Dollar für die Demokratieentwicklung in der Ukraine aus. Ich spreche von den gravierenden Folgen für die internationale Sicherheit, die mit der Asymmetrie des Konfliktfeldes zwischen zwei Großmächten verbunden sind. Es ist eine Sache, sich mit den sich nach demokratischen Verhältnissen sehnenden Menschen in der Ukraine zu solidarisieren und sie auch materiell zu unterstützen. Die Beteiligung westeuropäishcher, vor allem auch deutscher zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen am Maidan, der sich an der empörenden korrupten Politik des gewählten Präsidenten Viktor Yanukovych entzündet hatte, war legitim, denn sie entspricht demokratischen Prinzipien, deren universelle Gültigkeit bekanntlich nicht durch staatliche Grenzen beschränkt werden. Universelle Gültigkeit heißt nicht universelle Geltung – denn hier spielen staatliche Grenzen, nationale Souveränität und internationale Regeln über die Beziehungen der Staaten zu einander eine entscheidende Rolle. Und so ist es eine andere Sache, wenn die Regierung der einzig noch verbliebenen Supermacht in den Regimewechsel des bisherigen Rivalen investiert und damit die Grenze zwischen staatlicher Interessenpolitik und idealistischer Demokratieförderung verwischt. Nicht nur das Recht unterscheidet zwischen internationaler demokratischer Solidarität und Staatsräson, sondern auch das Gebot internationaler Sicherheit: solange auch ein autokratischer, damit notwendigerweise durch Korruption gekennzeichneter Staat, auf dessen Kooperation man bei der Wahrung internationaler Sicherheit angewiesen ist, destruktive Fähigkeiten besitzt, muss man sich um dessen Kooperation bemühen. Vielleicht war es nur naiv, dass die US-Regierungen nach 1991 den Zusammenbruch der Sowjetunion als den ersten Schritt zu einem universellen Sieg der Demokratie sahen und die Förderung der notwendigen weiteren Schritte zu ihrer Staatsräson erklärten. Vielleicht war es Berechnung, dass die Förderung der Demokratie auch den vielfältigen geostrategischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen dieser scheinbar einzig verbliebenen ‚indispensable nation‘ diente. Ich weiß es nicht.
Auf jeden Fall aber war es in höchstem Maße unklug davon auszugehen, dass man auf die Kooperation einer geschlagenen, seit Jahrhunderten in autokratischen Strukturen lebenden Nation, für die der Begriff der Zivilgesellschaft ein westliches Fremdwort ist, glaubte nicht angewiesen zu sein. Man kann sich, wie Wolfgang Eichwede anklingen lässt, mit der ja durchaus zutreffenden Feststellung beruhigen, dass Russlands Rückständigkeit als ein klassischer Rentierstaat im wesentlichen selbst-verschuldet ist; jedenfalls sei Russland nicht gedemütigt worden. Über die Wortwahl kann man streiten, aber das Problem besteht darin, dass das vorherrschende politische Denken „im Westen“ durch die Vorstellung geprägt ist, dass „wir“ keine Verantwortung für Russlands Situation tragen. Unsere Haltung gegenüber dem Land und seinem zugegebenermaßen furchtbaren Regime ist die der Abgrenzung und Missachtung. Aber es gibt durchaus eine Verantwortung „des Westens“. Ich meine nicht eine paternalistische Verantwortung, die schon allein wegen der schieren territorialen Ausdehnung Russlands und der darin lagernden Bodenschätze nicht gemeint sein kann. Gemeint ist eine globale Verantwortung für die internationale Sicherheit unseres Planeten, und deren Prinzip kann nicht Exklusion, sondern nur Inklusion bedeuten. Am Anfang steht ein respektvoller Umgang. Es ist, wie ich im Ausgangsext dieser Diskussion erklärt habe, die Anerkennung des Anderen, Fremden, durch die dessen Selbstachtung und damit so etwas wie Wechselseitigkeit entsteht.
In der aktuellen heutigen Kriegssituation ist das natürlich kein hilfreiches Prinzip. Ich behaupte nicht, dass es heute darum geht, dass jemand, der seit Wochen schwere Kriegsverbrechen befiehlt, in seiner Selbstachtung gestärkt werden muss, um ihn zum Frieden zu nötigen. Ich behaupte aber, dass es die verfehlte Politik „des Westens“ gegenüber der zusammengebrochenen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaa¬ten gewesen ist, welche zu dem heutigen Leidensweg des ukrainischen Volkes beigetragen hat.
Lieber Ulrich,
ich glaube, man sollte zwei Ebenen der Argumentation auseinanderhalten. Eine ist politologisch/völkerrechtlich (bei Dir: “realistisch” iSd der “Int. Beziehungen”). Da müsstest Du aber noch präzisieren, welches der Akteur sein soll, der zu wenig Anerkennung erfahren haben soll: das Herrschaftspersonal und die veröffentlichte Meinung? Der Diktator und seine Clique? Der Staat, und wenn dieser es sein soll: passt der sozialpsychologische Begriff der „Anerkennung“ auf eine juristische Person? Selbst wenn er aber für ein staatsförmiges Gebilde passt, ist Anerkennung doch wohl nur ein Faktor unter einer großen Menge anderer Faktoren, die das Verhalten eines solchen Gebildes erklären kann – Verteidigung und Ausdehnung eines Herrschaftsmodells, Eroberung von Ressourcen, Außenpolitik bis zum Krieg als Bekämpfung innerer Krisen, usw.
Die andere Ebene ist soziologisch, dh auf die Gesellschaften bezogen. Mangelnde Anerkennung ist vermutlich das Hauptmotiv von Wladimir Wladimirowitsch, aber er ist nicht das Kollektiv der RussInnen. Dieses Kollektiv ist in sich sehr gespalten, und viele in ihm wollen ein anderes Gesellschaftsmodell, vor allem aber die UkrainerInnen. Es gab Millionen von gesellschaftlichen Verbindungen zwischen dort und hier, die keineswegs von mangelnder, sondern von gegenseitiger Anerkennung geprägt waren. Sie sind nun alle gefährdet. Diese Verbindungen zu halten und gerade jetzt zu fördern, ist das Gebot der Stunde, nicht die kontraproduktive Politik zB mancher Universitäten, den wissenschaftlichen Kontakt abzubrechen. Aber dieser Meinung wirst Du wohl auch selbst sein.
Die Frage, wer der Akteur ist, der zu wenig Anerkennung erfahren haben soll, führt in das – JuristInnen ja nicht unbekannte – Problem der Zurechnung. Dazu einige Bemerkungen nach der Klärung einer Vorfrage.
Begriffe wie „Demütigung“, „Missachtung“, „Anerkennung“, die ich in dem Ausgangstext dieser Diskussion verwendet habe, sind nicht auf Abstrakta wie den Staat anwendbar – sie beziehen sich erkennbar auf Subjekte, die Empfindungen haben, Erscheinungsformen des Gemüts, insbesondere auch moralische Empfindungen. Wie kann man dann aber von der „Missachtung“ oder der „Anerkennung“ eines Staates sprechen? Im Völkerrecht bedeutet die Anerkennung eines Gebildes durch einen Staat dessen bindende Zusage, dieses Gebilde als Staat nach den geltenden Regeln des Völkerrechts zu behandeln. Dazu gehört die Erfüllung eines Achtungsanpruchs derjenigen Personen, durch die der Staat repräsentiert wird. Dadurch wird nicht nur dem Repräsentanten bzw. der Repräsentantin Achtung entgegengebracht, sondern auch den Repräsentierten. Das wiederum ist nicht nur das Abstraktum „Staat“, sondern das in und durch den Staat repräsentierte Volk. Daraus folgt für die Frage nach dem Adressaten von Achtung, Missachtung, Demütigung: die unmittelbaren Adressaten sind diejenigen Personen, die den Staat in der internationalen Sphäre (Institutionen, int. Öffentlichkeit) repräsentieren. Die vorläufige Antwort also: Ja, „Der Diktator und seine Clique“ sind die Adressaten von Achtung und Missachtung durch andere Staaten bzw. deren Akteure.
Man muss aber noch einen Schritt weiter gehen und akzeptieren, dass auch das Staatsvolk Adressat des Respekts und der Achtung ist ebenso wie auch des Gegenteils, der Missachtung durch die Repräsentanten anderer Staaten. In meinem Eingangstext dieser Diskussion erwähnte ich als Beispiel für Missachtung in den internationalen Beziehungen den Angriffskrieg – er ist die intensivste Form der Missachtung eines Staates. Denn die durch kriegerische Handlungen ausgeübte Gewalt missachtet die völkerrechtlich anerkannte Souveränität und territoriale Unversehrtheit des Staatskörpers, sinnbildlich mit der Gewalt durch Folter und Vergewaltigung von Menschen zu vergleichen, wenn nicht gar gleichzusetzen. Das Staatsvolk ist integraler Bestandteil des Staatskörpers. Es kommt hinzu, wie am Beispiel der Ukraine gegenwärtig zu erleben, wie im Angriffskrieg die Zivilbevölkerung durch die unterschiedslose Wirkung der Kriegswaffen für das Verhalten ihrer politischen Führung, oder gar – wie Äußerungen Putins nahelegen – für das bloße Sosein ihrer Existenz einer Art Kollektivhaftung unterworfen werden. Mit anderen Worten: das Staatsvolk ist mittelbarer Adressat von Achtung oder Missachtung durch einen anderen Staat, auch wenn diese üblicherweise unmittelbar nur auf der Ebene der politischen Repräsentanten um Ausdruck gebracht wird.
Diese Wirkung beruht auf der sozialen Technik der Zurechnung. Abstrakt gesprochen ist Zurechnung dadurch gekennzeichnet, dass ein kausales Geschehen zum Gegenstand einer normativen Bewertung gemacht wird, indem für die Kausalität und ihre Wirkungen eine Verantwortung oder Haftung autoritativ festgelegt wird. Die „Haftung“ der Zivilbevölkerung für die im Krieg angerichteten Schäden an Menschen und Sachen beruht auf der, wie Kelsen zu Recht feststellt, noch heute geltenden Vorstellung primitiver Entwicklungsstufen der Menschheit, in denen alles sowohl kausal-natürliche als auch das soziale Geschehen in den Kategorien von Belohnung und Bestrafung durch höhere Wesen gedeutet wurde. Alles Geschehen, das natürlich-kausale und das sozial-normative beruhte auf Zurechnung. Kelsen schreibt, dass es „mehr als wahrscheinlich (ist), dass das Gesetz der Kausalität aus der Norm der Vergeltung hervorgegangen ist“ . Erst mit der wissenschaftlichen Begründung der Natur als eine kausale Ordnung verschwand diese, wie Kelsen sagt, „animistische“ Welthaltung und ermöglichte die Trennung der Kausalität von der normativen Bewertung ihrer Folgen.
Umgekehrt kann man vermuten, dass dort, wo die Kausalität eines komplexen Geschehens aus einer unübersehbaren Zahl von Wirkungsmechanismen besteht, eine Zurechnung auf Kollektive erfolgt, die irgendwie in das Geschehen involviert sind. In dem Rechtsinstitut der Gefährdungshaftung kommt diese Entwicklung zur Geltung. Die Haftung für Kriegsschäden wird seit jeher der Bevölkerung der Verlierer des Krieges aufgeladen und fungiert als eine Art von Kollektivbestrafung – wofür genau, ist dabei allerdings unklar. Meist wird das Volk als eine „Schicksalsgemeinschaft“ umdefiniert, um seine Kollektivhaftung für die Taten ihrer politischen Führung zu begründen.
Ein gravierendes Problem, das in der Frage von Gerd Winter (und in Einwänden anderer Teilnehmer dieser Diskussion) angesprochen ist, besteht mit Bezug auf Staaten, in denen mangels elementarer Einrichtungen freier demokratischer Willensbildung die politische Führung zwar den Staat, aber nicht das Volk repräsentiert. Gerd Winter spricht von dem „Kollektiv der RussInnen. Dieses Kollektiv ist in sich sehr gespalten, und viele in ihm wollen ein anderes Gesellschaftsmodell …“ Damit ist die Sphäre der unorganisierten und vielfältigen Zivilgesellschaft angesprochen, die gerade in Russland einen schweren Kampf um die Wahrung einer eigenständigen, institutionell abgesicherten Freiheitssphäre kämpfen muss. Also stellt sich die Frage der Achtung und Missachtung als Element internationaler Sicherheit und im Angesicht der immer repressiveren Putin’schen Autokratie: Wo bleibt das Volk? Viele Russinnen und Russen haben vermutlich gar kein Interesse daran, dass ihr Herrscher von demokratischen Regierungen mit besonderer Achtung behandelt wird. Vermutlich wird es aber auch andere geben, die, obwohl sie die Putin’sche Autokratie ablehnen, dennoch aus Gründen nationaler Selbstachtung erwarten, dass die Repräsentanten ihres Staates, der ihnen immerhin die international geachtete Identität eines russischen Staatsbürgers verleiht, mit Achtung und Respekt behandelt wird.
Es stimmt. Russland ist nicht Putin, Putin ist nicht Russland. Kann man einer korrupten Kleptokratie Achtung nach den Regeln und Gepflogenheien des völkerrechtlich geordneten Verkehrs der Staaten erweisen? Ja, das kann man, das muss man sogar. Auch autoritäre Staaten oder regelrechte Diktaturen sind Teil der internationalen Ordnung. Seit der Französischen Revolution und den damals erworbenen Erfahrungen mit Volksbefreiungen im Namen universeller Werte und Rechte hat sich als Erkenntnis durchgesetzt, dass die Befreiung eines Volke von dem Joch seiner Herrscher durch einen anderen Staat – statt durch das unterdrückte Volk selbst – sich als keine gute Idee erwiesen hat. Und so muss man es auch hinnehmen, dass die den Staatsrepräsentanten geschuldete und erwiesene Achtung kraft Zurechnung auch dem Staatsvolk gilt. Denn schließlich hat es überhaupt nur durch den Staat eine Existenz als politisches Subjekt, als Volk. Auch die Zivilgesellschaft existiert sowohl als Kategorie wie auch in der sozio-politischen Realität nur im Rahmen von Staatlichkeit.
Wie dem auch sei, in den für die internationale Sicherheit relevanten Faktoren spielen auch heute noch die Staaten die dominante Rolle. Sie entscheiden über Krieg und Frieden, insbesondere über die Bedingungen des Friedens im Alltag ihrer Völker. Gerade die Herrscher autokratisch regierter Staaten, die wenig Rücksicht auf die Meinungen und politischen Ideale ihrer BürgerInnen zu nehmen brauchen, sind besonders sensibel für Zeichen von Achtung und Missachtung in den internationalen Beziehungen. Aufgrund fehlender demokratischer Infrastruktur besitzen sie außer ihren Repressionsapparaten keine verlässliche institutionelle Gewissheit ihrer Macht. So reagieren sie meist auf tatsächliche oder auch nur empfundene Zeichen von Missachtung mit größter Empfindlichkeit – Zeichen der Unsicherheit ihrer Herrschaft aufgrund unzulänglicher innerstaatlichen Legitimation. Mehr als politische Führer demokratischer Staaten sind sie darauf angewiesen, durch die Mobilisierung von Volksmassen so etwas wie nationale Solidarität zu produzieren. Nationaler Stolz ist dann häufig das einzige Bindemittel, das die soziale und politische Zersplitterung der Bevölkerung vorübergehend vergessen lässt. So desorganisiert und desorientiert die Menschen in Autokratien und Diktaturen sind, so sehr sind deren Herrscher auf plebiszitäre Akklamationen angewiesen, die sie auch immer wieder organisieren können. Es ist paradox, aber selbst in Hinsicht auf die internationale Sicherheit ist auch diese scheinhafte Legitimität eine soziale Realität, geradezu definierendes Element vieler autokratischer Regime. Denn es gibt genügend historische Beispiele dafür, dass unter innerstaatlichen Legitimationsdruck geratene Autokraten die Heilung dieses Mangels in riskanten außenpolitischen Manövern suchen.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zu Gerd Winters Hinweis, dass das von mir in den Mittelpunkt der Analyse gestellte Problem der Anerkennung nur ein Faktor unter einer großen Menge anderer Faktoren sei, die das Verhalten eines Staates erklären können. Ich stimme mit folgender Einschränkung zu: die Dimension der Anerkennung betrifft den Bereich, in dem wesentliche Elemente der Motivation von politischen Führern von Staaten gebildet werden. Zweifellos verfolgen Staaten in ihrem internationalen Handeln vielfältige strategische, wirtschaftliche und Ansehensinteressen. Doch die konkrete Wahl der verfolgten Interessen wird maßgeblich von der Wahrnehmung der internationalen Stellung des Landes durch deren politische Eliten geprägt. Anerkennung ist gewissermaßen ein Meta-Interesse, eine – wohl nicht die einzige, aber eine wichtige – Motivationsquelle für die konkreten Interessen und Ziele, die die Staatsführungen verfolgen.