Warum sich die mehrstufige Wahlprüfung bewährt hat
Anlässlich der Wahlfehler und deren Aufarbeitung bei den zusammengelegten Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 sind Diskussionen über eine Reform des Wahlprüfungsrechts aufgekommen. Während der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages nach derzeitigem Stand eine teilweise Wiederholung der Bundestagswahl in bestimmten Wahlbezirken präferiert, hat das Landesverfassungsgericht für die Abgeordnetenhauswahl zu erkennen ergeben, dass es für eine komplette Wiederholung votieren könnte. Es könnte daher sein, dass die Mandatsrelevanz der unstrittig vorliegenden Wahlfehlern bei der Bundestagswahl anders beurteilt wird als bei der Abgeordnetenhauswahl. Das Wahlprüfungsverfahren bei der Bundestagswahl sieht ein mehrstufiges Verfahren bestehend aus einer Vorprüfung des Wahlprüfungsausschusses, der Entscheidung des Bundestages und einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Beschwerde vor. Hingegen erfolgt die Wahlprüfung bei der Wahl des Abgeordnetenhauses einstufig vor dem Landesverfassungsgericht ohne Rechtsbehelfsmöglichkeit. Insbesondere nachdem das Landesverfassungsgericht den Hinweis auf eine komplette Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl erteilt hat, wird öffentlich diskutiert, ob auch bei der Bundestagwahl nicht gleich das Bundesverfassungsgericht entscheiden könnte? Diese Frage sollte vor den Hintergründen des Zwecks der Wahlprüfung, ihrer historischen Entwicklung und der Einbettung in den Gesamtzusammenhang einer Wahl betrachtet werden und ist meines Erachtens im Ergebnis zu verneinen.
Zweck der Wahlprüfung
In einer Demokratie werden in Wahlen die gewählten Vertreter des Volkes gewählt. Ordnungsgemäß durchgeführte Wahlen sind daher das erste Glied der demokratischen Legitimationskette vom Volk zu den Entscheidungen der Volksvertreter. Wahlen können nur dann Legitimation für die Volksvertretungen entfalten, wenn sie den vorher festgelegten Regeln des Grundgesetzes und der einfachen Wahlgesetze entsprechen. Kann eine Verletzung wahlbezogener Normen zu einer abweichenden Sitzverteilung führen, ist die Wahl in dem vom Wahlfehler betroffenen Umfang zu wiederholen. Die Wahlprüfung ist das notwendige Korrelat zum Wahlvorgang. Zweck und Ziel der Wahlprüfung ist es, das von den amtlichen Wahlorganen festgestellte Wahlergebnis auf sein rechtmäßiges Zustandekommen hin zu überprüfen und erforderlichenfalls zu korrigieren. Ebenso wie die Wahl als solches ist die Wahlprüfung daher ein Gebot des Demokratieprinzips. Die Wahlprüfung ist eingebettet in verschiedene andere Garantien des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips. So folgt aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit, dass hierfür die Gebote der Zügigkeit und der Substantiierung gelten. Die rechtsverbindliche Zusammensetzung der neugewählten Volksvertretung sollte zügig festgestellt sein, da die Wahlperiode des alten Parlamentes bereits abgelaufen ist. Das Gebot der Substantiierung soll sicherstellen, dass die Zusammensetzung der Volksvertretung nicht vorschnell in Frage gestellt und dadurch unberechtigte Zweifel an deren Legitimation geweckt werden. Maßnahmen der Wahlprüfungsorgane dürfen daher nur aus gebotenem Anlass erfolgen.
Des Weiteren hat die Wahlprüfung den Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs in den Bestand der Wahl zu beachten. Danach dürfen nur solche Entscheidungen der Wahlorgane geprüft und korrigiert werden, die mit dem Wahlfehler im kausalen Zusammenhang stehen. Würden die Wahlprüfungsorgane weitergehende Maßnahmen treffen, so würden sie in von Wahlfehlern unbeeinflusste Entscheidungen des Wahlvolks eingreifen. Dies würde zu einer Verletzung des aktiven Wahlrechts der Wähler und des passiven Wahlrechts der gewählten Volksvertreter führen.
Kernaufgabe der Wahlprüfung
Vor diesem Hintergrund sollte man über die derzeitigen gesetzlichen Regelungen hinaus nicht allzu weit gehende Erwartungen an das Wahlprüfungsverfahren richten. Das Wahlprüfungsverfahren dient unmittelbar dazu, die gesetzmäßige Zusammensetzung der Volksvertretung zu prüfen. Die Richtigkeit eines solchen Prüfungsergebnisses kann nur am Maßstab der gesetzlichen Regelungen beurteilt werden und keinesfalls danach, ob die Kandidaten, deren Anhängerschaft oder eine Teilöffentlichkeit das anders sehen. Es wäre etwa illusionär anzunehmen, dass jegliche unterlegene Wahlbewerber und ihre Anhängerschaften korrekt festgestellte amtliche Wahlergebnisse stets als solche anerkennen würden. Entscheidend ist vielmehr, dass die Wahlprüfungsorgane ihre originäre Kontrollaufgabe, die ordnungsgemäße Zusammensetzung der Volksvertretung zu prüfen, neutral und anhand der gesetzlichen Vorschriften gewissenhaft wahrnehmen.
Für die ordnungsgemäße Zusammensetzung der Volksvertretung sind dabei nur solche Wahlfehler relevant, die das Wahlergebnis mandatsrelevant beeinflussen können. Stellen die Wahlprüfungsorgane derartige mandatsrelevante Wahlfehler fest, so haben sie eine Wiederholungswahl in dem räumlichen Umfang anzuordnen, der vom Wahlfehler beeinflusst wird. Dies können einzelne Wahlbezirke, einzelne Wahlkreise oder gar das ganze Wahlgebiet sein. Die Anordnung einer nur beschränkten Wiederholungswahl ist folgerichtig, da eine Ausdehnung auf nicht fehlerbeeinflusste Gebietsteile gegen das verfassungsrechtliche Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs in den Bestand einer Wahl verstößt. Daher ist es für die Frage der Mandatsrelevanz zwingend, die Bundestags- und Abgeordnetenwahl differenziert zu betrachten und die Fehlerfolgen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Kandidaturen, Wahlsysteme und Wahlergebnisse gesondert zu bewerten. Es ist schon aus diesem Grund keinesfalls ungewöhnlich, dass etwaige Wiederholungswahlen bei unterschiedlichen Wahlen, die zeitgleich stattgefunden haben und gegebenenfalls sogar an denselben Wahlfehlern leiden, einen unterschiedlichen räumlichen Umfang annehmen können.
Bedeutung nicht mandatsrelevanter Wahlfehler
Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, nicht mandatsrelevante Wahlfehler hätten keine Relevanz für die Tätigkeit der Wahlprüfungsorgane. Für die Bundestagswahl hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren die Wahlprüfung stärker auf die Überprüfung der Rechte der einzelnen Wahlberechtigten ausgerichtet. Insbesondere ist mittlerweile die gesetzliche Möglichkeit geschaffen worden, dass der Bundestag im Falle eines Wahlfehlers die Verletzung der subjektiven Rechte des Einspruchsführers festzustellen hat, auch wenn er im Übrigen die Wahl nicht für ungültig erklärt (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Wahlprüfungsgesetz). Unabhängig hiervon werden von den Wahlprüfungsorganen etwaige Wahlfehler in einem ersten Schritt stets differenziert geprüft und festgestellt, bevor in einem zweiten Schritt deren mögliche Mandatsrelevanz untersucht wird.
Die bestehende Rechtslage hat sich in meinen Augen bewährt: Der Kernauftrag der Wahlprüfungsorgane besteht in der Prüfung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung der Volksvertretung, woraus folgt, dass sie sich auf mandatsrelevante Wahlfehler zu fokussieren haben. Angesichts der Bedeutung des aktiven Wahlrechts als grundrechtsgleiches Recht ist aber die ausdrückliche Feststellung einer Rechtsverletzung durch die Wahlprüfungsorgane auch bei nicht mandatsrelevanten Wahlfehlern zu begrüßen. Auch wenn letzteres mangels Mandatsrelevanz keine Auswirkung auf das festgestellte Wahlergebnis hat, so wird der Wahlrechtsverstoß durch die hoheitliche Feststellung manifest. Die ausdrückliche Feststellung der Wahlfehlers in einem Beschluss des Bundestages dient zum einen dem Interesse des Einspruchsführers und hat zum anderen eine erzieherische Wirkung auf den Verursacher des Wahlfehlers. Dem Einspruchsführer entstehen für diesen Fall selbst nach einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht keine Kosten (§ 19 Abs. 1 Satz 2 Wahlprüfungsgesetz) und er erreicht eine ausdrückliche amtliche bzw. gerichtliche Feststellung des von ihm gerügten Wahlfehlers.
Rechtsschutzerhaltendes mehrstufiges Verfahren
Art. 41 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes legt fest, dass die Wahlprüfung bei der Bundestagswahl „Sache des Bundestages“ ist. Der neu gewählte Bundestag entscheidet damit über seine Legitimation und Existenz. Diese Regelung einer Entscheidung in eigener Sache in einem justizförmlich ausgestalteten Verfahren kann man aber ohne Studium des Abs. 2 nicht angemessen verstehen. Danach ist gegen die Entscheidung des Bundestages die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig. Näheres ist nach Art. 41 Abs. 3 GG im Wahlprüfungsgesetz normiert. Diese Regelungsstruktur im Grundgesetz ermöglicht eine doppelte Kontrolle der Wahl durch ein parlamentarisches Verfahren mit der Möglichkeit höchstrichterlicher Nachprüfung bei umfassender Prüfungskompetenz. Das BVerfG hat daher das mehrstufige – zwei Bundesverfassungsorganen übertragene – Wahlprüfungsverfahren zu keinem Zeitpunkt beanstandet (vgl. etwa BVerfGE 63, 73, 76; 103, 111, 126 ff.).
Dadurch wurde eine in der deutschen Rechtstradition bislang einzigartige Wahlprüfungsdichte kodifiziert. In der Reichsverfassung von 1871 war in Art. 27 normiert, dass der Reichstag die Legitimation seiner Mitglieder prüft und darüber selbst entscheidet. Die Weimarer Reichsverfassung kannte demgegenüber in Art. 31 ein aus Mitgliedern des Reichstages und des Reichsverwaltungsgerichts bestehendes Wahlprüfungsgericht beim Reichstag. Die Regelung im Grundgesetz sieht hingegen eine doppelte, genau genommen sogar dreifache Kontrolle verschiedener Wahlprüfungsorgane vor. Die parlamentarische Selbstprüfung findet in einem justizförmlich ausgestalteten Verfahren vor einem besonderen Ausschuss des Bundestages statt, dem Wahlprüfungsausschuss statt. Dessen Mitglieder werden ohne Rückrufmöglichkeit der Fraktionen für die Dauer der Wahlperiode des Bundestages gewählt. Dem Wahlprüfungsausschuss stehen besondere justizähnliche Kompetenzen zu. Er kann ermitteln, Zeugen vernehmen und öffentliche mündliche Verhandlungen anberaumen. Mit der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses befasst sich sodann der Bundestag in öffentlicher Sitzung. Gegen dessen endgültige Entscheidung ist dann die Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht zulässig.
Dieses Verfahren hat aufgrund der Mehrfachkontrollen und der Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen Überprüfung deutliche Vorteile im Vergleich zu den Vorgängerverfassungen. Es ist auch im Vergleich zu teilweise anderweitigen Wahlprüfungsstrukturen auf der Landesebene vorteilhaft. Für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin ist zum Beispiel allein der Verfassungsgerichtshof für die Wahlprüfung zuständig. Das Abgeordnetenhaus wird damit nicht befasst. Die Wahlprüfung wird damit lediglich in einer Instanz abschließend entschieden. Gerade bei Wahlen sind jedoch oftmals zahlreiche Einsprüche zu sichten und zu prüfen sowie teilweise komplexe tatsächliche und wahlrechtliche Fragen und deren Auswirkungen zu klären. Die Möglichkeit einer Fehlerkontrolle durch ein zweites Wahlprüfungsorgan wird der besonderen Problematik deutlich besser gerecht. Die Einräumung einer Beschwerdeinstanz gegen eine Wahlprüfungsentscheidung ist bereits ein Wert an sich, den es zu schützen gilt. Dies gilt auch für gewählte Abgeordnete, die selbst keinen Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl erhoben haben, aber durch die Wahlprüfungsentscheidung erstmals belastet werden und ihren Sitz verlieren. Sie haben nur in der mehrstufigen Wahlprüfung die Möglichkeit eine eigene Beschwerde zu erheben und auf dieser Basis die für sie belastende Entscheidung noch einmal überprüfen zu lassen (vgl. § 48 Abs. 1 BVerfGG).
Gegen die nur im ersten Schritt folgende Selbstprüfung des Parlamentes wird teilweise der Vorwurf der möglichen Befangenheit erhoben. Hierbei muss aber bedacht werden, dass das Parlament die wahlprüfungsrechtlichen Entscheidungen in einem transparenten Verfahren unter den Augen der Öffentlichkeit durchführt und es keine in sich homogene Gruppe darstellt. Vielmehr kann etwa die bei der Wahl unterlegene Opposition ein Interesse daran haben, besonders kritisch zu prüfen. Die Mehrheit wird sich zudem kaum ohne stichhaltigen Sachgrund gegen die Minderheit durchsetzen können, da die Öffentlichkeit die Wahlprüfung überwacht. In der Praxis wurden seit den ersten Bundestagswahlen die meisten Wahlprüfungsentscheidungen daher einstimmig bzw. mit breiter Mehrheit getroffen, wie der Blick auf die Niederschriften der Wahlprüfungsorgane des Bundestages belegt.
Das parlamentarische Wahlprüfungsverfahren kann neben dem originären Prüfauftrag dabei helfen, aus dem Wahlvorgang zu lernen und anhand von wahrnehmbaren typischen Fehlerquellen zu Gesetzesänderungen zu kommen. Es kann daher auch einen gewissen „Selbstreinigungsprozess“ (Schreiber, KommPWahlen 2012, 28) anregen und einleiten. Beispielsweise wurde bei der Bundestagswahl 2009 im Wahlprüfungsverfahren des Bundestages Kritik daran geäußert, dass die Entscheidung des Bundeswahlausschusses zur Anerkennung von Parteien vor Durchführung der Wahl seinerzeit nicht gerichtlich überprüfbar war. Nur Parteien können Listenwahlvorschläge für die Bundestagswahl einreichen. Hierzu stellt der Bundeswahlausschuss vor der Wahl unter anderem fest, welche Vereinigungen als Parteien anzuerkennen sind. Die Lücke des Rechtsschutzes vor der Wahl hatte der Bundestag nach den gemachten Erfahrungen im Wahlprüfungsverfahren sodann durch die Einräumung einer Beschwerdemöglichkeit nach § 18 Abs. 4 und 4a BWahlG vor dem Bundesverfassungsgericht beseitigt. Diese Regelungen zur Durchsetzung wahlbezogener Rechte vor der Wahl haben den notwendigen Rechtsschutz der Betroffenen verbessert und die nachgelagerte Wahlprüfung entlastet.
Schlüssiges und entwicklungsoffenes Gesamtsystem
Auch der gerichtliche Rechtsschutz im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ist in den letzten Jahren erleichtert worden, in dem etwa das vormals geltende Beitrittstrittserfordernis anderer Wahlberechtigter zugunsten des Individualrechtsschutzes des Beschwerdeführers abgeschafft worden ist, vgl. § 48 Abs. 1 BVerfGG.
Diese verschiedenen Entwicklungstendenzen (teilweise vorgelagerter Rechtsschutz, Besetzung des Bundeswahlausschusses mit zwei Richtern, Erleichterung des Zugangs für die gerichtliche Wahlprüfungsbeschwerde und Stärkung des individuellen Rechtsschutzes bei nicht mandatsrelevanten Wahlfehlern) lassen in Kombination mit dem System der doppelten Kontrolle (parlamentarische Selbstkontrolle und gerichtliche Wahlprüfungsbeschwerde) eine funktionierende Wahlprüfung zu.
Die grundgesetzlich vorgesehene zweistufige Wahlprüfung ist hinsichtlich ihrer derzeitigen Struktur grundsätzlich stichhaltig. Für sinnvolle Ergänzungen an einzelnen Stellen des Wahlprüfungsrechts sollte man zwar, wie es in der jüngeren Vergangenheit auch praktiziert worden ist, offenbleiben. Am grundlegenden System der Wahlprüfung sehe ich jedoch keinen Änderungsbedarf.