Geschlossene Gesellschaft: “Staatsrechtslehre als Mikrokosmos”
Die wunderbare Welt der deutschen Staatsrechtslehre ist ein kleiner Kosmos ganz eigener Konventionen, Rituale und Traditionen. Staatsrechtslehre ist besonders nah an der Politik – und damit an der Macht. Sie ist die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts, zugleich aber auch die soziale Wissenschaftsgemeinschaft der Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer – also derer, die in einem streng reglementierten, jahrelangen Ausbildungs- und Kooptationsprozess die Voraussetzung zur Aufnahme in die 1922 gegründete Staatsrechtslehrervereinigung erworben haben. Grundsätzlich ist dies eine Habilitation für Staatsrecht und mindestens ein weiteres öffentlich-rechtliches Fach. Unter den mehr als 700 Mitgliedern sind 97 Prozent der Professorinnen und Professoren des Öffentlichen Rechts in Deutschland vertreten; annähernd 50 Prozent der Mitglieder nehmen an den alljährlich Anfang Oktober stattfindenden Staatsrechtslehrertagungen teil. Für die haben sie oft schon früh bei den ebenfalls jährlich stattfindenden Assistententagungen geübt. Denn die Kunst der gehobenen öffentlich-rechtlichen Diskussion will ebenso erlernt sein wie der leichtfüßige Auftritt auf dem glatten Parkett der Reputationshierarchien.
Der 2012 in den Ruhestand getretene Würzburger Staatsrechtslehrer Helmuth Schulze-Fielitz, in den Jahren 2008 und 2009 Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer e.V., hat nun einen Band teils bereits veröffentlichter und mitunter – wie die Texte über das staatsrechtliche Festschriften(Un-)wesen, die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung und “Staatsrechtslehre als Wissenschaft” – bereits zu Klassikern gewordener Beiträge vorgelegt, die die Welt der Staatsrechtslehre aus der Perspektive teilnehmender Beobachtung (zu den ethnographischen Beobachtungsrollen knapp hier) erschließen. Worum geht es? Prägnanter als der Autor selbst es unlängst getan hat kann ich es nicht sagen. Darum spare ich mir das Paraphrasieren und lasse Helmuth Schulze-Fielitz selbst zu Wort kommen:
Die teils vor-, teils unveröffentlichten Abhandlungen kreisen um zwei Themenfelder, die nicht im Zentrum der alltäglichen Arbeit des Wissenschaftlers im Öffentlichen Recht stehen und selten in ihren wechselseitigen Bezügen betrachtet werden – um die wissenschaftssozialen Rahmenbedingungen der universitären Staatsrechtslehre und den Status der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts als rechtswissenschaftlicher Teildisziplin. Einerseits wird die akademische Sozialisation von Staatsrechtslehrern im Spiegel der für die Professionalisierung an Universitäten typischen Literaturgattungen und institutionalisierten Diskussionsforen analysiert; andererseits werden Besonderheiten und Qualitätsstandards der Staatsrechtslehre als Wissenschaft im Verhältnis zu den eigenen theoretischen Traditionen sowie zur höchstrichterlichen Praxis herausgearbeitet.
Es handelt sich um schriftlich niedergelegte Selbstreflexionen im Kontext aktueller Wandlungsprozesse in Wissenschaft und Praxis, die sich als Bausteine zu einer Soziologie und Theorie der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts verstehen lassen. Sie umschreiben die deutsche Staatsrechtslehre als eine eigengeartete Wissenschaftskultur, die sich gegenüber dem Makrokosmos institutionalisierter Wissenschaftlichkeit sozial und wissenschaftlich deutlich abzuheben scheint. Eine Übersicht im Anhang (auf 26 Seiten Ausklapptafeln) sucht die Tausendschaft der deutschen Staatsrechtslehrer aus hundert Jahren soweit möglich den jeweiligen Hauptgutachtern in ihren Habilitations- oder Promotionsverfahren individuell zuzuordnen.
Da sind sie also, die von vielen mit Spannung erwarteten und auf den Stand Ende 2012 aktualisierten “Stammbäume” (entstanden aus einer privaten Geburtstagsgabe des Autors an seinen Lehrer Peter Häberle, und erstmals gedruckt als Festgabe für die Teilnehmer der Leipziger Staatsrechtslehrertagung 2000), die die akademische Herkunft der deutschen Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer entschlüsseln. Bis zu Kelsen, Schmitt, Nawiasky, zu Triepel, Anschütz, Jellinek und Otto Mayer reichen die Genealogien, die sich freilich, wie Schulze-Fielitz in einem vorangestellten “relativierenden Kommentar” selbst einräumt, nur mit ergänzenden Vorkenntnissen im Hinterkopf gewinnbringend lesen lassen – und mit präzisen Fragen, die zu materiellen Einsichten führen. Einige schlägt der Autor vor, etwa die nach Schulen, Netzwerken und institutionell-wissenschaftspolitischen Pfadabhängigkeiten. Ich würde weiter gehen und mehr wissen wollen über materiell-inhaltliche Pfadabhängigkeiten, thematische Prägungen, methodische Traditionen. Antworten darauf werden sich mitunter nur jenseits und in Ergänzung der Genealogien finden lassen, beispielsweise in Erfahrungen, die Dieter Grimm, Anne Peters und Heinhard Steiger in Harvard machten, Dieter H. Scheuing in Paris und Brüssel, Christoph Möllers und Oliver Lepsius in Chicago, Susanne Baer und Jochen Abr. Frowein in Ann Arbor.
Solche externen Irritationen jedoch haben in der geschlossenen Welt des Schulze-Fielitz’schen Staatsrechts-Mikrokosmos keinen Raum und scheinen eher als Bedrohung empfunden zu werden denn als Bereicherung und Möglichkeit zur Konturierung der eigenen disziplinären Identität, die doch gerade in der rechtswissenschaftlichen Teildisziplin des Öffentlichen Rechts (die neben dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht auch das Völker- und Europarecht umfasst) offenkundig so bedeutsam ist. Der Autor fürchtet, dass “nur scheinbar äußerliche Konzessionen an die Wissenschaftskultur vor allem des Common-Law-Rechtskreises unter dem Einfluss der führenden US-amerikanischen Universitäten” zu “empfindlichen systematisch-wissenschaftlichen Substanzverlusten der deutschen Staatsrechtslehre führen” könnten, für die – nicht nur nach eigenem Selbstverständnis – das dogmatische Arbeiten am Rechtsstoff “Markenzeichen und Gütesiegel” (Friedrich Schoch) geworden sei. Helmuth Schulze-Fielitz (der neuerdings aber, wie die Fussnoten seines aufschlussreichen Beitrags “Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht – prozedural gesehen” belegen, auch gelegentlich Cass Sunstein und Richard Posner liest) geht es um die deutsche Rechtsdogmatik, die Wissenschaft und Rechtsanwendungspraxis verbindet und auch die Staatsrechtslehre als Wissenschaft des Öffentlichen Rechts prägt. In der Diskussion um interdisziplinäre und rechtsvergleichende Grenzgänge und Öffnungen trägt der Autor, selbst auch studierter Sozialwissenschaftler, keine Scheuklappen. Ihm geht es um eine reflexive Disziplinarität, die die eigenen Möglichkeiten und Grenzen kennt – gerade in Zeiten des Wandels und der Veränderung. Auch darum sind die hier versammelten Beiträge in der aktuellen Diskussion um die “Perspektiven der Rechtswissenschaft” eine unentbehrliche Lektüre.
In die Eigenheiten und Besonderheiten der deutschen Staatsrechtslehre, diese persönliche Randbemerkung sei erlaubt, wurde ich selbst einst im Würzburger Seminar von Helmuth Schulze-Fielitz eingeführt, einem der rückblickend prägendsten Lernorte meiner Studienzeit (dass ich mich bald mehr und mehr für Europäisches und Internationales interessierte, vermerkte Professor Schulze-Fielitz mit freundlichem Befremden – ihm deuchte da vielleicht auch schon, dass mit meiner Leidenschaft für das Öffentliche Recht intellektuelle Abenteuerlust und die Freude an feuilletonistischen Verlockungen konkurrierten). Zunächst wurden im Seminarraum des Lehrstuhls in der Alten Universität “Aktuelle Probleme des demokratischen Rechtsstaats” verhandelt, anschließend erschloss uns Professor Schulze-Fielitz beim Frankenwein im “Johanniterbäck” die geheimnisvolle Welt der Staatsrechtslehre. Wie deren Protagonisten, die wir im Laufe der Semester immer besser kennen lernten (Protagonistinnen, oder, in der Diktion des Autors: “weibliche Staatsrechtslehrer”, kamen nicht vor – mit Ausnahme von Jutta Limbach, die als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts als eine Art Staatsrechtslehrerin ehrenhalber erschien), hatte auch das Seminar selbst seine Genealogie: es folgte dem Beispiel von Peter Häberles Marburger (später Bayreuther) Seminar, in dem Helmuth Schulze-Fielitz selbst zu Füßen seines Lehrers gesessen hatte – und die beste Seminararbeit jeden Semesters wurde mit einem Buch Häberles belohnt. Wer sich durch ein ordentliches Referat bewährt hatte, durfte im nächsten Semester wieder kommen und dann die Arbeiten der Neulinge kommentieren. Die daraus resultierende Kontinuität des Seminars diente der Einübung jenes professionellen Habitus, den die Beiträge des vorliegenden Buches zum Gegenstand haben. Neben solider wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit stets klug und anregend gewählten aktuellen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Themen wurde staatsrechtliche Wissenschafts- und Diskussionskultur erlernt. Inmitten tradierter Konventionen entfaltete sich dabei eine intellektuelle Freiheit, in der sich das beste Argument durchsetzte, die genaue Interpretation gewann und die genau geprüfte These prämiert wurde. Viele der Beobachtungen, Thesen und Hypothesen des nun vorliegenden Bandes sind mir zuerst in diesem Seminar (und in seinen Fortsetzungen im “Johanniterbäck”) begegnet, dazu noch manche, die nun ungedruckt blieben – wie die Feststellung, dass grundsätzlich alle großen Staatsrechtslehrer des zwanzigsten Jahrhunderts Männer von kleinem Wuchs seien.
Eindrücklicher – und hoffentlich prägender – sind mir die Qualitätsmaßstäbe geworden, die Helmuth Schulze-Fielitz an Projekte und Erträge öffentlich-rechtlicher Forschung anlegt. In den Beiträgen dieses Bandes werden sie im Detail entfaltet. Dass der Autor den eigenen strengen Anforderungen zu genügen versteht, belegt unter anderem eindrucksvoll der hier nachgedruckte große Rezensionsaufsatz über die neun Teilbände des von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebenen Handbuchs des Staatsrechts (1. Auflage), mit dem nicht nur eine überaus sorgfältige, detailgenaue und urteilsfreudige Besprechung dieses monumentalen Gesamtwerks vorgelegt wurde, sondern auch ein nuanciertes Tableau der deutschen Staatsrechtslehre der 1990er Jahre, das die maßgeblichen “Konfliktlinien im verfassungstheoretischen Grundansatz” skizziert. Nebenbei werden den Herausgebern “teilweise unverständliche Polemik”, “sich selbst mitreißende polarisierende Rhetorik” und das “fröhliche Hissen von Gesinnungswimpeln” bescheinigt.
“Staatsrechtslehre als Mikrokosmos” ist das Buch eines nicht nur leidenschaftlichen, sondern auch ungemein informierten Staatsrechtslehrers. Geschrieben aus einer Innenperspektive, die die Traditionen des eigenen Faches an keiner Stelle grundsätzlich in Frage stellt, ist es ein Buch für Staatsrechtslehrer und Staatsrechtslehrerinnen – und solche, die es werden wollen (und die deswegen die Beiträge über Assistententagung, Habilitationsschrift, Habilitationsvortrag, Staatsrechtslehrerreferat und Reputationshierarchie mit größter Aufmerksamkeit studieren sollten). Aber es ist auch ein Buch für alle, die sich als Bürger und Beobachter für die Welt des Öffentlichen Rechts interessieren. Aus der Innenperspektive erlebt der Leser eine “Zunft”, deren Angehörige ihre professionelle Verantwortung für das Gemeinwesen in aller Regel mit großem Ernst und in langen Ausbildungsjahren erlernter Selbstdisziplin wahrnehmen. Noch das kleinste Detail wird mit aufmerksamer Seriosität behandelt, und schon Wochen vor dem Staatsrechtslehrervortrag macht man sich Gedanken darüber, wie die Akustik in der Stadthalle Greifswald ist und ob es riskant sein könnte, ein Wasserglas aufs Pult zu stellen.
Was ich bei der Lektüre vermisst habe, ist die abgeklärte, kritische Perspektive eines fremden Blicks, wie ihn die französische Soziologin Dominique Schnapper in den zehn Jahren ihrer Mitgliedschaft im Conseil Constitutionnel schweifen ließ. Die Verfassung sei “zu wichtig, um sie allein Verfassungsrechtlern … zu überlassen”, so zitiert Schulze-Fielitz Gunther Teubner aus dessen 2012 erschienen “Verfassungsfragmenten“. Vielleicht ist auch die Staatsrechtslehre zu wichtig, um sie allein Staatsrechtslehrern zu überlassen. Die von Staatsrechtslehrern (auch dem Autor) intensiv rezipierten Forschungen von Frieder Günther und Uwe Kranenpohl belegen, dass “fremde” disziplinäre Perspektiven durchaus einen für die “Zunft” relevanten Erkenntnisgewinn vermitteln können. Gern würde man darum die nun vorgelegten “Bausteine zu einer Soziologie und Theorie der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts” unter das Mikroskop nichtjuristischer Soziologen, Ethnologinnen oder Wissenschaftstheoretiker gelegt sehen. Das könnte auch das Problembewusstsein der Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer schärfen. Denn die Abhandlungen dieses Bandes beschreiben und analysieren zwar mit großer Detailgenauigkeit und Präzision die akademische Sozialisation von Staatsrechtslehrern und die Besonderheiten der Staatsrechtslehre als rechtswissenschaftlicher Teildisziplin. Die Probleme und Herausforderungen, die sich damit gegenwärtig verbinden, werden jedoch nur verhalten angesprochen.
Helmuth Schulze-Fielitz: “Staatsrechtslehre als Mikrokosmos”. Bausteine zu einer Soziologie und Theorie des Öffentlichen Rechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2013, geb., VIII, 504 Seiten. + 26 S. Ausklapptafeln. 49 Euro.