Wie EGMR und nationale Gerichte gemeinsam den Menschenrechtsschutz verbessern können
Im europäischen Menschenrechtsschutz ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) der zentrale Akteur. Dabei ist er aber, stärker noch als der EuGH, darauf angewiesen, konstruktiv mit den nationalen Gerichten zusammenzuarbeiten – denn nur so kann er seine Rechtsprechung durchsetzen. Dass das immer wieder mal schwierig wird, hat sich in letzter Zeit insbesondere im Verhältnis zwischen Großbritannien und dem EGMR gezeigt.
Wie durchsetzungsfähig die Straßburger Rechtsprechung sein kann, ist aus einem weiteren Grund von starkem Interesse: Nach den Erfahrungen mit Ungarn und anderen steht auch die Europäische Union vor der Frage, inwieweit sie eigenständig in der Lage ist, einen hinreichenden Grundrechtsschutz in ihren Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Das politische Sanktionsverfahren nach Art.7 EUV scheint nicht zu funktionieren. Manche wollen den EuGH ins Spiel bringen, um die Grundrechte der Unionsbürger effektiver zu schützen. In jedem Fall aber bleibt die Europäische Union auf die Durchsetzungsfähigkeit der Straßburger Rechtsprechung angewiesen. Sie bedarf insoweit mit anderen Worten eines „externen Inputs“.
Einen großen Beitrag zur Diskussion über die Reform des Straßburger Systems leistete am vergangenen Wochenende eine Konferenz in der Göttinger Paulinerkirche, die von Anja Seibert-Fohr, Professorin in Göttingen und Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses, und dem EGMR-Richter Mark E. Villiger organisiert worden war. Unter der Überschrift „Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation“ wurden in transnationaler Perspektive neue Wege diskutiert, wie das Zusammenspiel zwischen der Rechtsprechung des Gerichtshofes und ihrer innerstaatlichen Durchsetzung verbessert werden kann.
Ihren besonderen Reiz bezog die Konferenz aus der Referentenliste: Unter den Vortragenden befanden sich neben Wissenschaftlern und Praktikern sowohl Richter mitgliedstaatlicher Höchstgerichte, als auch fünf amtierende Mitglieder des EGMR. Zudem sollte die britische Perspektive zu Wort kommen. Diese Zusammensetzung führte bisweilen zu einem direkten richterlichen Dialog über „gute“ und „schlechte“ Urteile. Handelte es sich bei der Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung zur deutschen Sicherungsverwahrung tatsächlich um eine „cooperation at its best“? Hier blieben die Meinungen im Ergebnis geteilt.
Die Vorträge behandelten entsprechend voraussetzungsreich aktuelle Rechtsprechungslinien des EGMR und den aktuellen Reformprozess des Konventionssystems. Erst in der vergangenen Woche hatte das „Steering Committee for Human Rights“ (CDDH) – ein Expertengremium, das seinerseits mit der Reform des Gerichtshofes befasst ist – diskutiert, ob effektivere Maßnahmen notwendig sind, falls Mitgliedstaaten Urteile des Gerichtshofes nicht in einem angemessenen Zeitraum umsetzen würden. Der Beitrittsprozess der EU zur EMRK war demgegenüber aus dem Konferenzprogramm ausgeklammert worden.
Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt zunächst die Frage, inwieweit der EGMR verurteilte Staaten zu konkreten Maßnahmen verpflichten kann. Prinzipiell wirken seine Urteile zwar nicht unmittelbar gestaltend, aber in jüngster Zeit hat der Gerichtshof immer öfter selbst festgelegt, auf welche Weise der Staat den Verstoß gegen die EMRK beseitigen soll. Sofern man es mit einem systematischen und strukturellen Defizit zu tun hat, fordert der EGMR den betreffenden Mitgliedstaat über den Einzelfall hinausgehend auch dazu auf, das zugrunde liegende Problem zu lösen. Hierdurch sollen Parallelverfahren vermieden werden.
Dean Spielmann, Präsident des EGMR, bezeichnete diese Rechtsprechungslinie in seiner Eröffnungsrede als durchaus innovativ und betonte zugleich, dass diese so genannten Pilotverfahren nur anleitenden Charakter hätten und somit im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip stünden. Von politischer Seite gebe es regelmäßig positive Reaktionen. Andere Teilnehmer wiesen demgegenüber darauf hin, dass die Deklaration von Brighton auch die Entscheidungsfreiheit der Mitgliedstaaten betont, wie sie den Verpflichtungen aus der Konvention nachkommen wollen.
Was die Rolle der nationalen Gerichte betrifft, so stand das Stichwort Rechtsgutachten im Mittelpunkt der Diskussion. Um solche können mitgliedstaatliche Höchstgerichte den EGMR anrufen, sobald das 16. Zusatzprotokoll in Kraft getreten sein wird. Das Verfahren wurde positiv bewertet, soweit es um politisch sensible Fragen geht. Allerdings wurde auch hier Kritik angemeldet: Ist eine solche gutachterliche Stellungnahme nicht weniger bindend im Sinne des Art. 46 EMRK als Urteile? Werden identische Streitfälle zukünftig zweimal vor den EGMR getragen werden und ihn zusätzlich belasten?
Villiger trat solcher Skepsis entgegen. Der Gerichtshof werde keine abstrakte Rechtsfrage, sondern den Einzelfall nach Aktenlage entscheiden. Eine Parallele zum Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH liegt nahe: Dessen Erfolg ist auch darauf zurückzuführen, dass zwischen abstrakter Vertragsauslegung und konkreter Vertragsanwendung in der Rechtsprechung praktisch nicht unterschieden wird. Ob mitgliedstaatliche Höchstgerichte vom Gutachtenverfahren Gebrauch machen werden, steht freilich auf einem anderen Blatt. Villiger verglich diese so genannten „Advisory Opinions“ mit einem Produkt im Supermarkt: Die Frage sei, ob sie von den mitgliedstaatlichen Höchstgerichten gekauft werden. Der EGMR jedenfalls werde in diesem Fall vorbereitet sein.
Dass es auch tieferliegende Meinungsverschiedenheiten über die Aufgabe des EGMR gibt, wurde vor allem in der Diskussion um die Rolle des Subsidiaritätsprinzips deutlich sichtbar. „Subsidiarität“ war durch den britischen Vorsitz im Ministerkomitee auf der Konferenz in Brighton in den Fokus des Reformprozesses gerückt worden. Durch das 15. Zusatzprotokoll soll das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich in der Präambel der EMRK verankert werden. John Laws, Lord Justice des Court of Appeals for England and Wales, warf die Grundsatzfrage auf, die hinter der britischen Initiative steht: „Are Human Rights Undemocratic?”. Er zitierte zur Illustration John Dunn: „The idea of justice and the idea of democracy fit very precariously together.” Andere wandten daraufhin ein, dass Menschenrechte als Minderheitenrechte verstanden werden sollten.
Kritisch bewertete Laws die Tendenz des EGMR, im Bereich der „politischen“ Menschenrechte der Art. 8-12 EMRK zunehmend auf Kosten der Politik aktiv zu werden. Auch machte er dem EGMR zum Vorwurf, in der Rs. Greens and M.T. vs. UK die Schwelle zur Politik überschritten zu haben, während Spielmann zuvor seine „brennende Sorge“ darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass das vorgenannte Urteil nicht hinreichend umgesetzt werde.
Derek Walton, Legal Counsellor für das Foreign and Commenwealth Office in London, unterstrich die britische Position, wonach sich der Gerichtshof als ein Berater und weniger als ein Kritiker verstehen sollte. Richterlicher Aktivismus sei der Legitimität des Gerichtshofes abträglich. Abseits der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut von Art.46 EMRK könne es regelmäßig gute Gründe für Abweichungen von der Rechtsprechung des EGMR geben. Thomas Giegerich stellte eine gegenläufige Prognose auf: Je zuverlässiger die Mitgliedstaaten bereit seien, die Urteile des EGMR umzusetzen, umso größere Beurteilungsspielräume werde der EGMR den Mitgliedstaaten einräumen können.
Insbesondere für mehrpolige Grundrechtsverhältnissen wurde entsprechend der Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichtes angemahnt, mitgliedstaatliche Mehrheitsentscheidungen und Kontexte stärker zu beachten. Angelika Nussberger, Richterin am EGMR, betonte, dass auch aus Sicht des EGMR „wichtige Gründe“ vorliegen müssten, um in einer solchen Konstellation vom Urteil eines nationalen Gerichts abzuweichen. Nach Ansicht von Bundesverfassungsrichter Andreas Paulus sollte sich der EGMR allerdings noch stärker auf die klassische Gefährdungslage im Grundrechtsverhältnis Bürger-Staat konzentrieren. Während einige Mitgliedstaaten durchaus präzise Vorgaben durch den EGMR wünschten, erwarteten andere eine größere Zurückhaltung. In Zukunft gehe es daher weniger um eine „implementation“ der EGMR-Rechtsprechung im Sinne einer 1:1-Umsetzung, sondern eher um eine „translation“ derselben in die nationalen Rechtsordnungen.
Die Rspr. des EGNR zu begrenzen mag ja auf den ersten Blick und aus der Sicht der nationalen Gerichte atttraktiv erscheinen, hat aber einen gravierenden Nachteil: Gerade im HInblick auf die EU und den EuGH bedarf es des Grundrechtsschutzes, denn man kann kaum ernsthaft behaupten, dass der EuGH einen Grundrechtssschutz gewährleistet, der demjenigen der nationalen Verfassungsgerichte vergleichbar ist. Den Grund kann man darin sehen, dass der EuGH eben kein vorrangig oder gar auschließlich dem Grundrechtsschutz verpflichtetes Gericht ist und schon deshalb nicht auf eine weitreichende Auslegung derselben angewiesen ist, um selbst Geltung zu gewinnen. Auch ist der EuGH kein Gericht des Individualrechtsschutzes. Diese Funktionen muss hinsichtlich der Unions-Justiz der EGMR übernehmen, und das wird wegen der zunehmenden Bedeutung des Unionsrechts und des EuGH von großer Wichtigkeit sein. Und da diskutieren wir (Selbst-)Beschränkungen des EGMR?
Ich weiß selbstverständlich, dass der EGMR oftmals allzu sehr ins Detail geht, dass er gelegentlich die nationale Rechtslage in ihrer Bedeutung nicht erkennt und dass manchmal keine Linie erkennbar ist. Geschenkt: Wollen wir trotz vordringenden Unionsrechts und zurückweichender Bedeutung der nationalen Verfassungen einen den bisherigen Standards vergleichbaren Grundrechtsschutz brauchen wir den EGMR, und zwar mit seiner Tendenz zur Ausweitung der Maßstäbe und mit zunehmender Aktivität. Der EGMR muss noch viel mehr in das Bewusstsein der nationalen Gerichte gerückt werden! Auch wen ich nicht selten Zweifel an den Entscheidungen habe: Weiter so!