Schutzverantwortung: Ein politikwissenschaftlicher Blick auf den Völkerrechtsteil des Koalitionsvertrags
Dieser Beitrag wirft einen politikwissenschaftlichen Blick auf die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD angestrebte Ausweitung völkerrechtlicher Normen, insbesondere im Hinblick auf die Implementierung der „Schutzverantwortung“ (S. 171 Koalitionsvertrag). Momentane Analysen des Koalitionsvertrages beziehen sich verständlicherweise meist auf innenpolitische Fragen, dort wo es um Außenpolitik geht, ist meist Europa und hier insbesondere die Finanzpolitik gemeint. Die Zustimmung der SPD Mitglieder vorausgesetzt, wird dieser Vertrag die nächsten vier Jahre als Leitlinie für die Außenpolitik und die Politik bezüglich der Vereinten Nationen dienen. Die anvisierten Ziele sind ernst zu nehmen, denn im Kapitel über globale Politik im Koalitionsvertrag finden sich – aus politikwissenschaftlicher Sicht und insbesondere aus Sicht der Disziplin Internationale Beziehungen – einige Formulierungen, die eine kritische Betrachtung erfordern. Nicht zuletzt, um für Normalbürgerinnen nachvollziehbar zu machen, wie bestimmte Konzepte und Ideen, die in der Wissenschaft diskutiert werden, in die Politik Eingang finden.
Im Folgenden machen wir daher diesen Transfer und die potenziellen Probleme damit beispielhaft am Abschnitt im Koalitionsvertrag über „Vereinte Nationen, globaler Dialog und strategische Partnerschaften“ (S. 171 Koalitionsvertrag) deutlich. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der so genannten Schutzverantwortung oder Responsibility to Protect (R2P). Dort heißt es u.a.: „(E)ine Weiterentwicklung des Völkerrechts muss dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen einen wirksameren Beitrag zur weltweiten Durchsetzung von Freiheit und Menschenrechten leisten. Das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) bedarf der weiteren Ausgestaltung und einer völkerrechtlich legitimierten Implementierung. Dabei gilt es vor allem die präventive Säule der Schutzverantwortung international zu stärken“ (S. 171 Koalitionsvertrag). Spannend ist hier zunächst, dass die Responsibility to Protect (R2P) als „Konzept“ verstanden wird. Ein Blick in die aktuelle Literatur zeigt nämlich, dass sich hier durchaus verschiedene Zuschreibungen finden lassen. Während für die einen R2P eine Norm darstellt, sehen andere R2P als „politisches Konzept“ und wieder andere plädieren dafür die einzelnen Bestandteile der R2P unterschiedlich zu benennen (so beispielweise Alex J. Bellamy in seinem Buch „Global Politics and the Responsibility to Protect: From Words to Deeds“, Routledge, 2011).
Drei Fragen stellen sich aus unserer Sicht bei dem oben zitierten Absatz. Erstens: Wie sähe eine weitere Ausgestaltung aus? Zweitens: In welcher Art und Weise würde eine weiter ausgestaltete Schutzverantwortung völkerrechtlich implementiert werden? Drittens muss darüber hinaus gefragt werden, ob es mit einer solchen völkerrechtlichen Implementierung der Norm getan wäre. So weist u.a. die anhaltende Systemkrise in Syrien über die theoretische Relevanz hinaus auf die politische Brisanz dieser Fragen hin. Hier sei nur am Rande erwähnt, dass im Koalitionsvertag eine „politische Lösung“ für den Konflikt in Syrien vorgesehen ist (S. 172 Koalitionsvertrag). Wie dies mit dem Bekenntnis zur Schutzverantwortung einerseits und mehr als 125 000 Toten und Millionen von Flüchtlingen andererseits einhergeht, wäre eines eigenen Beitrages würdig.
Wie sähe eine weitere Ausgestaltung aus?
Was den vereinbarten Inhalt der R2P betrifft kann hier zur Zeit lediglich auf §138 und §139 des Abschlussdokuments der UN Generalversammlung von 2005 verwiesen werden. Dort findet sich der Verweis auf vier Kernverbrechen: Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Versuche, den Geltungsraum der R2P zu erweitern, beispielsweise im Rahmen von Naturkatastrophen (etwa durch Frankreich nach dem Zyklon Nargis in Burma/Myanmar 2008), sind bisher gescheitert. Auch das prozedurale Vorgehen, ausschließlich fallweise durch den UN-Sicherheitsrat – bei Bedarf nach Kapitel VII UN-Charta – zu entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden, ist relativ unumstritten. Einzige Ausnahme stellt der Verweis auf die „United for Peace Resolution“ dar, auf die im Übrigen auch Louise Arbour unlängst in der ZEIT verwiesen hat. Auf die damit verbleibende Möglichkeit der Ausgestaltung verweist der Text im Koalitionsvertrag mit der Stärkung der präventiven Säule. Die Aufteilung der R2P in drei Säulen: „Eigenverantwortung“ (Säule 1), Prävention (Säule 2), und Eingriff der internationalen Gemeinschaft (Säule 3) geht auf einen Bericht des UN Generalsekretärs Ban Ki-Moon von 2009 zurück. Inwieweit aber ein solcher Fokus sinnvoll ist, bleibt in der wissenschaftlichen Literatur hierzu zumindest umstritten (beispielhaft Aidan Hehir in seinem Buch „The Responsibility to Protect Rhetoric, Reality and the Future of Humanitarian Intervention“, 2012, MacMillan). Es bleibt also abzuwarten, welche Art der Ausgestaltung die Bundesregierung hier im Sinn hat.
Wie könnte eine völkerrechtliche Implementierung aussehen?
Rechtlich stellt der verabschiedete Beschluss der Generalversammlung kein völkerrechtlich bindendes Dokument dar. Lediglich die UN-Sicherheitsresolution 1973 zum Libyen-Einsatz, in welcher der Sicherheitsrat unter Kapitel VII handelte, hat diesen Status. Sie bezieht sich aber auf einen konkreten Fall. Die nicht-konsistente Anwendung der R2P seit 2005 muss völkerrechtlich dahingehend gedeutet werden, dass eine für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht notwendige Staatenpraxis kaum vorhanden ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Teile der R2P unter Umständen bereits kodifiziertes Völkerrecht darstellen. So ist zum Beispiel das Genozid Verbot seit 1946 völkerrechtlich bindend verankert und hat mittlerweile zweifelsohne den Status einer ius-cogens-Norm einhergehend mit Verpflichtungen erga omnes erlangt, wie nicht zuletzt die IGH Entscheidung aus dem Jahr 2007 zur Genozid-Konvention verdeutlichte. Eine rechtliche Kodifizierung der anderen drei Verbrechen in ähnlicher Form wie die Genozid-Konvention entspräche zwar einer völkerrechtlichen Implementierung, deren Sinn jedoch fraglich bliebe. Denn weder konnte die Genozid-Konvention beispielsweise den Genozid in Rwanda zu verhindern, noch war sie in Darfur tatsächlich wirksam.
Es geht daher weniger um eine weitere umfängliche Verrechtlichung der globalen Governance als vielmehr darum, ein Konzept der Umsetzung von Normen durch Einbindung von Stakeholdern zu entwickeln.
Wäre es mit einer solchen völkerrechtlichen Implementierung getan?
Entsprechend stellt sich die dritte – aus politikwissenschaftlicher Sicht – interessanteste Frage: Wäre es mit einer solchen völkerrechtlichen Implementierung getan? Der obige Ansatz hat in gewisser Weise die Antwort darauf schon vorweggenommen. Mit einer Implementierung auf der Ebene des Völkerrechts ist es eben gerade nicht getan. Warum dem so ist, zeigt ein Blick in die aktuelleren theoretischen Arbeiten zu Normen in internationalen Beziehungen, die sich mit der – für die Politik relevanten – Frage der Umsetzung völkerrechtlicher Normen beschäftigen. In Abwesenheit einer Weltregierung geht die Politikwissenschaft von der Annahme einer Weltgemeinschaft aus, deren Mitglieder – also die Mitgliedstaaten der UN – sich der Beachtung der Völkerrechtsnormen verpflichtet fühlen. Während einerseits gemeinsame Konventionen, Verträge und Resolutionen die Legitimitätsgrundlage dieser Normen bilden, weisen andererseits konstitutionelle (Stichwort: Vetostaaten im Sicherheitsrat), sowie sozio-ökonomische Unterschiede (Stichwort: Vertretung in Gruppen durch die G77 oder die G20) auf die politischen Schieflage des UN-Modells hin. Unter diesen Rahmenbedingungen stellt die Umsetzung von Völkerrechtsnormen eine besondere Herausforderung dar. Um hier gestalterisch mitwirken zu können – wie es der Koalitionsvertrag anstrebt – sind zwei Perspektiven der Politikwissenschaft als Orientierungshilfe für die Erarbeitung von Regierungsmaßnahmen der neuen Bundesregierung zentral. Daher sollen sie abschließend kurz skizziert werden.
Die liberaldemokratische Perspektive geht von der durch das Völkerrecht legitimierten Aufgabe der Umsetzung geteilter moralischer Werte von der globalen Umgebung der UN in die mitgliedstaatliche Umgebung hinein auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips aus. Die radikaldemokratische Perspektive hingegen geht von der Vielfaltsprämisse aus, die als Legitimitätsgrundlage globaler Normen die Möglichkeit zum Widerspruch durch die Mitgliedstaaten voraussetzt. Beide Perspektiven werden durch die aktuelle Normentheorie aufgegriffen. Auf der einen Seite wird von dem Prozess der Normdiffusion ausgegangen. Das heißt, die Umsetzung von Völkerrechtsnormen wird als Zyklus konzipiert, der vorsieht, dass die Umsetzung von Normen durch politische Akteure stufenweise die Übersetzung der im Völkerrecht formalisierten Legitimität vorantreiben (Stichwort: top-down Modell).
Dem gegenüber steht das Konzept der Kontestation, das davon ausgeht, dass die Legitimität von Völkerrechtsnormen durch die Möglichkeit regulären Widerspruchs gestärkt wird. Hier wird vorgeschlagen, durch reguläre Kontestationsforen die Teilhabe betroffener Akteure zu ermöglichen (Stichwort: bottom-up Modell). Dies wäre zum Beispiel durch das Recht auf die Einberufung von ad-hoc-Kontestationen zu etablieren. Diese Foren würden ähnlich wie die Institution der Ombudsperson im Falle des Sanktionskomitees fallbedingt und durch unabhängige Experten geleitet aktiviert. Eine transparente Mitgestaltung solcher Foren stellt unseres Erachtens insbesondere in Anbetracht der um sich greifenden Umgehung der UN Verfahren – sei es durch die BRICS oder andere Staatsgruppen – die sich nicht im liberaldemokratischen Modell wiederfinden, eine vielversprechende Gestaltungsmöglichkeit für die Zukunft der Schutzverantwortlichkeit und anderer Normen dar. So verweist Louise Arbour im bereits erwähnten ZEIT-Artikel unter anderem auf die G20.
Abschließend lässt sich unserer Auffassung nach festhalten, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehene Strategie der völkerrechtlichen Implementierung nicht Endpunkt von Bestrebungen zur Wahrung des Weltfriedens darstellen, sondern den Ausgangspunkt von notwendigen Debatten und Kontestationen bedeuten. An deren Ende könnte dann eine Schutzverantwortung stehen, die als tatsächlich demokratisch legitim verstanden werden könnte.
“Abschließend lässt sich unserer Auffassung nach festhalten, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehene Strategie der völkerrechtlichen Implementierung nicht Endpunkt von Bestrebungen zur Wahrung des Weltfriedens darstellen {müsste wohl heißen: “darstellt”, weil es sich auf Strategie bezieht}, sondern den Ausgangspunkt von notwendigen Debatten und Kontestationen bedeuten {s.o., sprachlich Überarbeiten vor einer Veröffentlichung!}.
Der Koalitionsvertrag ist also tatsächlich nicht “Endpunkt von Bestrebungen zur Wahrung des Weltfriedens”??? Wenn das die SPD-Mitglieder erfahren, werden sie bestimmt dagegen stimmen!
“Während für die einen R2P eine Norm darstellt, sehen andere R2P als „politisches Konzept“ und wieder andere plädieren dafür die einzelnen Bestandteile der R2P unterschiedlich zu benennen”
Was ist daran so spannend? Nur weil man ein Konzept als Norm implementiert, ändert sich doch nichts daran, dass es ein Konzept war/ist/bleibt. Es ist halt anschließend ein “Konzept, das man in eine Norm gegossen hat (und das deswegen gilt)”. Die juristische Welt ist voll davon.
Beispiele:
(1) Konzept, das man (noch) nicht in eine Norm gegossen hat: Veggie Day.
(2) Konzept, das man (schon) in Normen gegossen hat: Cap-and-Trade-System, z.B. beim Emissionshandel oder beim Atomausstieg.
Lieber “Aufmerksamer Leser”
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Zunächst einmal schreiben wir ja nicht, dass der Koalitionsvertrag irgend etwas sei oder nicht, sondern beziehen uns auf die darin enthaltene bzw. beschriebe Strategie: “Abschließend lässt sich unserer Auffassung nach festhalten, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehene Strategie der völkerrechtlichen Implementierung nicht Endpunkt von Bestrebungen zur Wahrung des Weltfriedens darstellen, sondern den Ausgangspunkt von notwendigen Debatten und Kontestationen bedeuten.”
Was die Differenz zwischen Norm und Konzept betrifft: Dieser Unterschied ist aus unserer – politikwissenschaftlichen – Perspektive gerade wichtig. Normen sind auf ontologischer Ebene in der Tat etwas anderes als Konzepte. Normen enthalten nämlich eine Verhaltenserwartung der jeweils anderen Akteure. Eine solche Erwartung in Bezug auf Verhalten beinhalten Konzepte in der Regel nicht. Genau das macht den Unterschied aber spannend. Denn wenn die R2P als Norm verstanden wird impliziert sie eine Verhaltenserwartung der anderen (Staaten, internationale Gemeinschaft, UN Sicherheitsrat, etc.). Als Konzept mag sie einen Bezugspunkt in Diskursen darstellen, enthält aber keine explizite Verhaltenserwartung.
Darüber hinaus sind Normen nicht gleich Normen. So unterscheidet die konstruktivistisch informierte Normenforschung zwischen verschiedenen Normtypen, die in ihren Eigenschaften durchaus differieren. Damit ist nicht der häufig gemachte Unterschied zwischen legalen und sozialen Normen gemeint. Vielmehr geht es um den Unterschied zwischen Fundamentalnormen, Organisationsprinzipien und standardisierten Verfahren. Hier möchte ich auf die theoretischen Arbeiten zur Normenforschung verweisen – u.a. derer meiner Co-Autorin – die sich damit beschäftigen, um nicht den Rahmen von Blogkommentaren zu sprengen.
@Gholiagha: Klar. Verhaltenserwartungen sollte man nicht anstellen, solange Konzepte noch nicht gelten, also in Normen gegossen sind. Wer also jetzt die Verhaltenserwartung hat, jeden Freitag werde seine Kantine einen Veggie Day abhalten, wird enttäuscht. Umgekehrt gilt aber nicht unbedingt das Gegenteil: Nur weil etwas normiert ist, kann man nicht unbedingt erwarten, dass sich alle daran halten (Stichwort: pull to compliance). Mein Punkt war ein anderer: es schließt sich nicht aus, Norm und Konzept gleichzeitig zu sein – normierte Konzepte sind beides zugleich (daran ändert auch “Ontologie” nichts, über die wir zur Not gerne diskutieren können).
Liebe Antje Wiener, lieber Sassan Gholiagha,
Danke für diesen Beitrag. Ich finde die Initiative Empfehlungen zur Politikgestaltung an aktuelle Entwicklungen der Normenforschung anzuknüpfen hoch begrüßenswert. Leider bleibt Ihr Beitrag eine eindeutige Konzeption von Umstrittenheit schuldig. Zudem bleiben Sie eine Antwort schuldig, welche Foren geeignet sind, um internationale Normen wie die R2P mittels „radikaldemokratischer“ Kontestation breitestmöglich zu legitimieren.
Da mein Kommentar etwas länger geworden ist, habe ich Ihn im Bretterblog veröffentlicht (Entschuldigung für die Eigenwerbung 😉 ): http://bretterblog.wordpress.com/2013/12/11/umstrittene-umstrittenheit-welches-forum-fur-welche-form-der-anfechtung-der-r2p-ein-kommentar-zu-gholiagha-und-wiener/
Ich freue mich auf die weitere Debatte!
Viele Grüße
Gregor Hofmann
Lieber Gregor Hoffmann,
vielen Dank für diese ausführliche Replik in Form eines eigenen Beitrages. Ich habe den Beitrag mit großem Interesse gelesen.
Ich denke Teil des Problems der Debatte besteht in der konzeptionellen Unklarheit darüber, was eigentlich die R2P genau ist. Handelt es sich um eine “singuläre” Norm? Dann stellen sich für die klassischen Normenforscherinnen und Normenforscher fragen der Umsetzung. Für kritische Normenforschende die Frage der Kontestation in Bezug die Bedeutung in jeweiligen Kontexten und Anwendungsfällen. Spannende Einblick darüber was die R2P eigentlich ist und wo das Problem liegt hat unlängst Jennifer Welsh in einem Interview erläutert (www.theglobalobservatory.org/interviews/641-the-responsibility-to-protect-principle-is-not-the-problem-interview-with-jennifer-walsh.html). Wiederum Dritte (Alex J. Bellamy beispielsweise) sehen in Teilen der R2P eine Norm, andere Teile sind eher Prinzipien.
Was die von Ihnen vorgeschlagene Unterteilung zwischen “Bedeutungskontestation” und “Anwendungskontestation” betrifft, ist diese aus meiner Sicht nur auf den ersten Blick vielversprechend. Denn aus einem kritischen Normenverständnis heraus ergibt sich ja die Bedeutung einer Norm aufgrund von ständigen Kontestationen stets Anwendungsbezogen, das ist mit “meaning-in-use” (vgl. Saco/Weldes 1996; Milliken 1999; Wiener 2009) gemeint. Alles andere „verdingtlicht“ ein Stückweit wieder die Norm als etwas festes das zwar umstritten ist aber – einmal geklärt – nur noch in der Anwendung umstritten bleibt. Hier sind wir also doch wieder bei Fragen der Ontologie.
Offen bleibt aber tatsächliche die Frage vorhandener Foren bzw. die Notwendigkeit neue zu schaffen. Der Verweis auf die United for Peace Resolution ist in der Tat spannend (ich erlaube mir an dieser Stelle auf meinen eigenen Beitrag hier im Verfassungsblog dazu zu verweisen https://verfassungsblog.de/de/r2p-responsibility-to-protect-syrien-sicherheitsrat-voelkerrecht/). Die Generalversammlung ist also in der Tat ein denkbares Forum.
Ein anderer Vorschlag ist von Aidan Hehir in seinem Buch zur R2P gemacht worden (http://us.macmillan.com/theresponsibilitytoprotect/AidanHehir). Hehir schlägt die Einrichtung eines “judicial body” vor, welcher in Fragen der massiven Menschenrechtsverletzungen (Genozid, etc) anstelle des UN Sicherheitsrats Entscheidungen fällt – allerdings auch nur in diesen Fragen. Hier stellt sich jedoch aus meiner Sicht nicht nur die Frage nach der Durchsetzbarkeit eines solchen Vorschlages, sondern auch nach der von Hehir angenommen Neutralität eines solchen Gremiums. Die aktuelle Debatte um den IStGH als “Gericht für Afrika” gibt hierauf sicherlich einen Vorgeschmack.
Mit besten Grüßen,
Sassan Gholiagha
@”Ich denke Teil des Problems der Debatte besteht in der konzeptionellen Unklarheit darüber, was eigentlich die R2P genau ist. Handelt es sich um eine “singuläre” Norm?”
Ich versuche es nochmals: Sie müssen sich zuerst überlegen, ob Sie über eine Norm (wenn ja: welche) reden wollen oder über ein Konzept (wenn ja: welches). Dann zeigen Sie drauf und sagen: DARÜBER will ich reden. So verschwindet schon eine ganze Menge “konzeptionelle Unklarheit in der Debatte”.
Es ist ein leerer Streit um Worte, wenn Sie sagen: ich will über R2P reden und wissen, was das ist. Denn: Wenn Sie es mit jemandem zu tun haben, der eine konkrete Norm mit diesem Etikett versieht, müssen das berücksichtigen, sonst verstehen Sie den nicht.
Sie versuchen aber etwas anderes: Im Koalitionsvertrag sehen Sie ein Wort, das Sie offenbar fasziniert (“R2P”). Nun wollen Sie “erforschen”, was dieses Wort “in Wahrheit” heißt. Der Koalitionsvertrag hat aber nicht den Inhalt, den Sie ihm mit einer solchen “Erforschung” unterschieben, sondern Sie können höchstens versuchen, zu verstehen, was die Koalitionäre an dieser Stelle ausdrücken wollten (ich gebe Ihnen den folgenden Tipp: man wollte ein bisschen wohlklingendes hinschreiben, was unschädlich ist und niemanden verärgert).
Es sind halt Juristen.
Lieber “Aufmerksamer Leser”,
der Beitrag von Antje Wiener und mir versucht doch lediglich den vorhandenen Text im Lichte politikwissenschaftlicher Erkenntnisse zu interpretieren. Dazu gehört eben auch die Frage nach der “Natur der Sache”, also erst einmal zu Fragen um was es sich bei der R2P handelt. Hier verweisen wir lediglich auf die Debatte um R2P als Sache (z.B. als Norm, Konzept, Policy, oder als Idee), um dann im Folgenden in Bezug auf die Normenforschung weitergehende Fragen zu stellen, die über eine Debatte über die „richtige“ Art und Weise der Implementation hinaus gehen.
Mir bleibt auch etwas unklar was genau Sie mit “leerer Streit um Worte meinen”. Natürlich muss ich mir bewusst sein was mein Gegenüber meint wer er oder sie von der R2P spricht. Der Koalitionsvertrag als der “Gegenüber” unseres Beitrages schweigt hierzu, lediglich der Begriff der “Implementierung” im Völkerrecht verweist auf ein Verständnis der R2P als Norm. Dann aber ist der von uns gemachte Unterschied zwischen verschiedenen Ansätzen der Normenforschung Bedeutungsvoll. Genau diese Darstellung der Debatte ist also wichtiger Teil eines “Fremdverstehens” (inwiefern das überhaupt möglich ist, ist ja aber auch umstritten).
Vielen Dank auch für Ihren Tipp, man “[…] wollte ein bisschen wohlklingendes hinschreiben, was unschädlich ist und niemanden verärgert).”
Nun, mit Wörtern verhält es sich aber so – zumindest aus einer konstruktivistischen Sicht – dass sich Bedeutungen eben erst in Anwendung und im Austausch miteinander (sprich durch das herstellen von intersubjektivem Verstehen) ergibt. Das wusste auch schon Lewis Caroll, wo er in “Through the Looking-Glass” (1872)
Alice und Humpty Dumtpy folgenden Dialog führen lässt:
“I don’t know what you mean by ‘glory,’ ” Alice said.
Humpty Dumpty smiled contemptuously. “Of course you don’t—till I tell you. I meant ‘there’s a nice knock-down argument for you!’ ”
“But ‘glory’ doesn’t mean ‘a nice knock-down argument’,” Alice objected.
“When I use a word,” Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, “it means just what I choose it to mean—neither more nor less.”
“The question is,” said Alice, “whether you can make words mean so many different things.”
“The question is,” said Humpty Dumpty, “which is to be master—that’s all.” ”
Wer also der Meister oder die Meisterin über die Wörter ist, ist hier die Frage für Humpty Dumpty. Es gibt also um die Geltungshoheit, anders gesagt um Macht. Sie schreiben zum Schluss – “Es sind halt Juristen.”
Das mag sein, aber Juristinnen und Juristen streiten doch auch über die Bedeutung von Wörtern, oder nicht? Und was die angeblich wohlklingende, harmlose R2P betrifft. Völkerrechtliche Verantwortungen erga omnes und ius cogens Normen (wie Sie sich in Teilen der R2P beispielsweise im Genozid Verbot wiederfindet) sind sicherlich nicht einfach harmlos, oder? Dann könnte man ja gleich auf sie verzichten.
Darüber hinaus vermögen ja auch Juristinnen und Juristen über de lega lata und de lege ferenda diskutieren. Ob R2P oder Teile von R2P zur ersteren oder letzteren Kategorie gehören ist doch sicherlich aus juristischer Sicht doch sicherlich auch interessant, oder?
Ich würde mich jedenfalls freuen, ihre Sicht auf die R2P in einer etwas ausführlicheren Variante als das in Blog-Kommentaren möglich ist zu lesen, vielleicht sogar hier auf dem Verfassungsblog?
Mit freundlichen Grüßen
Sassan Gholiagha
@Gholiagha: Sie haben – das möchte ich völlig ironiefrei sagen – eine entwaffnende Freundlichkeit. Es freut mich auch zu lesen, dass Sie mit Humpty Dumpty vertraut sind (ich hatte selbst erwogen, diesen Text zu erwähnen, hielt aber die Gefahr für groß, dass Sie sich veralbert fühlen könnten). In der Sache bin ich mir freilich nicht ganz sicher, ob Sie aus Humpty Dumty (schon) die richtigen Schlüsse gezogen haben, denn Alice hat Recht. Nicht Humpty Dumpty (wie aber viele glauben).
Lieber Sassan Gholiagha,
Vielen Dank für die Antwort. Ich werde mir Saco/Weldes 1996 und Weldes 1996 nochmal vornehmen 🙂
Ich stimme zu, dass die R2P keine singuläre Norm ist, sondern ein eher ein Netz von Normen und Konzepten darstellt. Als Kernnorm, auf die sich im Diskurs meist bezogen wird, kann man allerdings die Verantwortung des Einzelstaates für seine Bevölkerung sehen, die, bei Zustimmung des Sicherheitsrates, auf die internationale Gemeinschaft übergehen kann, auch ohne die Zustimmung des Einzelstaates.
Des weiteren stimme ich ebenfalls zu, dass die Unterscheidung zwischen Geltungs- und Anwendungsdiskursen mitunter schwierig sein kann; insbesondere dann, wenn eine Norm vage formuliert ist. Anwendungsdiskurse können meiner Meinung nach immer auch in Geltungsdiskurse umschlagen, wenn sich z.B in der Debatte über ihre Anwendung Versuche der Unterhöhlung der grundsätzlichen Bedeutung einer Norm finden oder alternative Normen vorgeschlagen werden.
Nichtdestotrotz halte ich diese Unterscheidung für analytisch sinnvoll. Die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Norminterpretationen – also anwendungsbezogene Kontestation – setzt schließlich voraus, dass die Norm bereits existiert und bis zu einem gewissen Grad Anerkennung findet. Es muss also zuvor ein Geltungsdiskurs stattgefunden haben, in welchem die Norm überhaupt erst entstanden ist. Die Norm muss ja irgendwie Einzug gehalten haben in die intersubjektiv geteilte Bedeutungsrepertoire der Akteure. Dafür ist meiner Meinung nach ein grundsätzlicher Geltungsdiskurs notwendig, welchen wir grundsätzlich im Rahmen des Weltgipfels 2005 finden können und welche, wenn auch primär affirmativ, 2009 und in den interaktiven Dialogen fortgeführt wurde.
Viele Grüße
Gregor
@Aufmerksamer Leser
Lieber “Aufmerksamer Leser”,
vielen Dank für dieses Kompliment (ich nehme mal an es ist eins).
Was Humpty Dumpty betrifft (ich bin im übrigen großer Fan Einsichten aus Kunst, Musik und Literatur in die Wissenschaft einfließen zu lassen), so bin ich mir selbst auch nicht sicher wer Recht hat. Mir stellt sich vielmehr die Frage ob das was wir in diesem Dialog sehen nicht dass ist was man im Sinne von Gregor Hoffmann als “Bedeutungskontestation” bezeichnen könnte. Und dann stellt sich am Ende eben doch die Frage auf die Humpty Dumpty hinweist: “”Who is the master?”
@Gregor
Danke für die Rückantwort. Die Analytische Unterscheidung mag Sinn machen, da stimme ich zu. Ich frage mich hier nur ob diese theoretische Unterscheidung sich dann im empirischen verliert. Ganz ähnlich ist es ja der Habermas’schen Unterscheidung zwischen “bargaining” und “arguing” gegangen. Diese lässt sich zwar ganz wundebar theoretisch machen, empirisch aber scheint es fasst unmöglich zu sein diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Da bleibt dann nur die – in meinen Augen erfolgreiche Fluch nach vorne – in dem man sich auf die Rolle von Überzeugungen konzentriert (vgl. Deitelhoff 2006, 2009).
Mit besten Grüßen
Sassan
Lieber Sassan Gholiagha,
schwer verdaulich wie Sie „R2P“ (im Koalitionsvertrag) versuchen zu verstehen. Zum Weihnachtsfest sollten Sie schwer Verdauliches eher vielleicht auf Gänsebraten beschränken.
Um zu verstehen, was die Koalitionäre dazu ausdrücken wollten, müssen Sie auch nichts „erforschen“. Fragen Sie die Koalitionäre. Freilich, deren Antworten könnten auch nicht dazu beitragen, „R2P“ zu verstehen.
Allerdings ebenso wenig zu verstehen mit einer Auseinandersetzung mit den ebenfalls beliebig zu verstehenden Worten „Norm“ und „Konzept“.
In Deutsch übersetzt „Verantwortung zum Schutz“ des Menschen, der Menschen. Wer ist verantwortlich dafür? Also welcher Verantwortliche ist von wem wodurch/ womit in Haft zu nehmen, wenn dieser Verantwortliche nicht schützt?
Das sind keine „politikwissenschaftlichen“ Fragen, und keine von „Politikwissenschaft“. Es sind Fragen nach Macht und nach dem Verständnis „Mächtiger“ zu „R2P“.
Ihnen wünsche ich noch ein besinnliches, freudiges Weihnachtsfest, das Sie sich nicht durch dieses Verständnis stören lassen sollten.
Mit besten Gruß
Blickensdörfer
Lieber Herr Blickensdöfer,
der Beitrag ist ja von Anfang Dezember, von daher war sicherlich ausreichend Zeit vor dem Weihnachtsfest ihn zu “verdauen”, und als Vegetarier bin ich darüber hinaus kein Freund des Gänsebratens. Aber ich möchte mich gerne ihrer Kritik an der Sache und nicht am Veröffentlichkeitsdatum bzw. Lesedatum annehmen.
Ich bin nicht jedoch nicht ganz sicher ob ich Sie in Ihrer Kritik richtig verstehe. Sie schreiben “Das sind keine „politikwissenschaftlichen“ Fragen, und keine von „Politikwissenschaft“. Es sind Fragen nach Macht und nach dem Verständnis „Mächtiger“ zu „R2P“.”
Meine Replik hierauf lautet: Gerade aber das macht es doch zu einer politikwissenschaftlichen Frage, denn Politikwissenschaft dreht sich auch und immer um Fragen der Macht. In diesem Falle geht es um die Macht oder die Deutungshoheit im Diskurs über die Bedeutung von R2P im Kontext ihrer jeweiligen spezifischen Anwendung. Das ist, da bin ich sehr überzeugt, natürlich eine politikwissenschaftliche Frage.
Ihnen alles Gute für das neue Jahr!
Mit freundlichen Grüßen
Sassan Gholiagha
Und es muss natürlich
“Blickensdörfer” heißen, entschuldigen Sie bitte diesen Faux-Pas.
Danke, lieber Sassan Gholiagha, für Ihre freundlichen Grüße.
„Wenn es um das Verhältnis von Macht und Recht und um die Quellen des Rechts geht, muss auch das Phänomen der Macht selbst näher in den Blick genommen werden. Ich möchte nicht versuchen, das Wesen von Macht als solcher zu definieren, sondern die Herausforderungen skizzieren, die aus den neuen Formen von Macht resultieren, die sich im letzten halben Jahrhundert entwickelt haben“ (Joseph Kardinal Ratzinger im Disput über Glaube und Vernunft, Moral und Gemeinsinn -2004)
Vielleicht wollte Joseph Kardinal Ratzinger, mit der Hoffnung auf eine Definition des Wesens der Macht durch die Wissenschaft, eine eigene Definition nicht versuchen. Vielleicht hatte er dabei auch den Glauben, dass sich „Politikwissenschaft“ nicht nur um Fragen der Macht „dreht“, sondern sie auch beantwortet.
Worin unterscheiden sich „politikwissenschaftliche“ „Auffassungen“, „Debatten“ und „Kontestationen“ zum Verhältnis von Macht und Recht von der Skizzierung der „Herausforderungen“, „die aus neuen Formen von Macht resultieren“?
Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch „sehr überzeugt“ sind, diese Frage beantworten zu können – ob mit oder ohne „Politikwissenschaft“.
Dass Sie diese Frage beantworten könn(t)en, davon bin ich überzeugt.
In diesem Sinne auch Ihnen alles Gute für das neue Jahr.
Mit freundlichen Grüßen
Blickensdörfer