14 November 2023

#MPIL100 – Beginn einer Spurensuche

für die Herausgeber von Philipp Glahé und Alexandra Kemmerer

Am Anfang steht in der Wissenschaft oft ein Zufall. Oder, um genauer zu sein: ein Moment der serendipity, jener glücklichen Gelegenheit, die im scheinbar absichtslosen Zusammenfallen von Konstellation und Ereignis Erkenntnis ermöglicht und hervorbringt. Im Winter 1924/25 kam es für die Völkerrechtswissenschaft zu so einem Glücksfall. Viktor Bruns, seit 1912 Professor für Staats- und Völkerrecht an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, hatte, so notierte es seine Frau Marie später in ihrem Tagebuch, „in den vergangenen Jahren oft und reiflich den Plan eines deutschen Lehrbuchs für Völkerrecht erwogen“. Er las Bücher und Broschüren, „ließ sich von Frau Wolff und juristischen Assistenten oder Studenten über den Inhalt von Büchern berichten, damit er nicht alles selbst durchlesen mußte“. Bald schon sei ihm aber klar gewesen, dass es für den Gesamtüberblick, der ihm vorschwebte, mehr brauchen würde als ein paar kluge und fleißige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nötig war: ein Institut. Einige Wochen vor Weihnachten, so schildert es Marie Bruns, ließ er diesen Gedanken beiläufig in ein Gespräch mit Friedrich Glum, dem Generaldirektor der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, einfließen. „Sofort nahm ihn Glum sehr lebhaft auf. ‚Das ließe sich aber sehr gut machen‘, so der einflussreiche preußische Wissenschaftsmanager; „voriges Jahr hat unsere Gesellschaft zu viel Geld bewilligt bekommen. Den Überschuß können wir für Ihr Institut verwenden. Aber wir müssen rasch handeln, denn sonst kommen uns andere mit törichten Unternehmungen zuvor. Da wird z.B. ein Institut für Theaterkunde geplant – was hat das für einen praktischen Nutzen?‘“

So also hat, wenn man der eifrigen Chronistin Marie Bruns trauen darf, an einem Wintertag in den mittleren, den oft verklärten goldenen Jahren der Weimarer Republik,  alles begonnen. Natürlich waren noch einige Kämpfe zu bestehen. Es brauchte Verbündete in Wissenschaft und Politik und ein tatkräftiges advance team, angeführt von Marguerite Wolff, „Hausfrau des neuen Instituts“ und zugleich mit einem juristischen Referat betraut. Es brauchte eine Gründungsgruppe mit Bibliothekar und Bibliothekarin, fünf Assistenten und fünf Sekretärinnen, die dem Direktor Bruns in den Institutsräumen im Berliner Schloss zur Seite standen. Doch das „Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht“, zu dem sich 1926 ein privatrechtliches Schwesterinstitut gesellte, war Realität geworden – ein juristisches Kompetenzzentrum ersten Ranges, gut ausgestattet mit Büchern, Zeitschriften, Dokumenten und klugen Köpfen. Ort der Grundlagenforschung und völkerrechtspolitischer think tank, Elfenbeinturm und Advokatur.

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL), das seit 1949 in Heidelberg die Tradition der Berliner Gründung fortführt, kann 2024 auf eine 100-jährige Geschichte zurückblicken. Als Institution der Grundlagenforschung im Völkerrecht, im Recht der Europäischen Union und im vergleichenden öffentlichen Recht ist The Institute weit über die deutschsprachige Rechtswissenschaft hinaus ein Begriff.  Über seine Auseinandersetzung mit aktuellen Rechtsproblemen leistet das MPIL nicht nur einen Beitrag zur theoretischen Fortbildung des Rechts, es berät auch nationale, europäische und internationale Institutionen. Im Laufe seiner Geschichte waren das Institut und seine Mitarbeitenden an wegweisenden juristischen und politischen Entwicklungen beteiligt und schrieben vielfach selbst (Rechts-) Geschichte. Gute Gründe also, um anlässlich des Jubiläums die historische Entwicklung des Instituts und seinen Beitrag in Wissenschaft und Praxis zu erinnern und zu reflektieren.

Geschichte als Problem? Zum historischen Wissensstand

Geschichte, so scheint es, war für das Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht immer ein Problem. Geschichte war Dissens, denn Geschichte, das war für das MPIL für lange Zeit die über allem schwebende Gretchenfrage um die Positionierung des Instituts und seiner Mitarbeiter zum Dritten Reich. Es hatte seinerzeit alles gegeben: überzeugte Bejaher, skeptische Beobachter, schweigende Ablehner und einen, der es wagte, unter Einsatz seines Lebens am Ende doch gegen das System aufzubegehren. Es gab die nach 1933 Ausgestoßenen und Verfolgten, es ab die nach 1945 als „belastet“ Geltenden und die rasch „Entlasteten“, es gab jene, die das Institut über alle Systemwechsel und Brüche hinweg am Leben hielten und verkörperten. Mitunter gab es gute Gründe zum Vergessen, Vieles verlor sich im Verlauf der Jahrzehnte jedoch eher nebenbei. Seit seiner Neugründung in Heidelberg 1949 schaute das Institut vor allem nach vorne, betrieb Rechtswissenschaft am Puls der Zeit, thematisierte sich selbst und seine Geschichte, wie die gesamte deutsche Gesellschaft seinerzeit, jedoch nur ungern.1) Nicht die Vergangenheit stand im Vordergrund, sondern die großen Aufgaben der Gegenwart, die von der juristischen Begleitung des Wiederaufbaus der Bundesrepublik bis zur Westintegration reichten.

Dennoch haben sich immer wieder einmal Wissenschaftler mit der Geschichte des Instituts beschäftigt. An einer weitgespannten historiographischen Darstellung fehlt es aber bislang. Die wechselhafte Geschichte des Berliner KWI von 1924 bis 1945 ist mit Ausnahme eines Aufsatzes von Ingo Hueck aus dem Jahr 2000 praktisch nicht bearbeitet worden.2) Rudolf Bernhardt und Karin Oellers-Frahm, selbst über Jahrzehnte wichtige Akteure der Institutsgeschichte, haben 2018 eine Chronik vorgelegt, die entlang direktoraler Forschungsagenden und Outputs die Institutsgeschichte seit der Wiedergründung in Heidelberg dokumentiert.3) Felix Lange hat mit seiner Biographie Hermann Moslers und diversen Einzelstudien erste wesentliche Beiträge geleistet.4) Vieles aber war bislang unerforscht und unerzählt, viel ist verloren und verdrängt, viele sind vergessen.

Ein kritischer Blick in die Institution:

Erinnerungskultur, Netzwerke und Kanonisierungsprozesse

Der Blog MPIL100 möchte hier ansetzen, historische Leerstellen identifizieren und füllen aber auch weitere Fragen anregen. Er wird aktuelle Fachfragen der Forschungsfelder des MPIL in ihrer historischen Dimension neu denken, auch Akteurinnen und Akteure, die in den vergangenen 100 Jahren am Institut gewirkt haben, in den Blick nehmen. Von großer Bedeutung werden auch die formalisierten wie informellen Netzwerke des Instituts sein, lokal und national, europäisch und global. Ein besonderes Augenmerk legen wir auf die Erinnerungskultur und Kanonisierungsprozesse innerhalb des Instituts, sodass auch Personen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, religiösen oder politischen Orientierung, insbesondere durch Verfolgung im Dritten Reich und im Zuge der demokratischen Transition nach 1945 in Vergessenheit geraten sind, wieder in den Fokus gerückt werden. Hierbei wird eine große personelle Bandbreite abgedeckt, die auch Protagonistinnen und Protagonisten umfasst, die als nicht-wissenschaftliches Personal in der Verwaltung, Haustechnik oder Bibliothek das Institut teils über viele Jahrzehnte geprägt und seine wissenschaftliche Arbeit mitermöglicht haben.

Altes neu gelesen: disziplinengeschichtliche Aspekte

Aus der historischen Distanz möchten wir auch die Forschungsleistung des Instituts neu und kritisch würdigen. Dies betrifft die inhaltliche Vielfalt und Breite der Forschungsthemen der letzten hundert Jahre, die mit der Auseinandersetzung um den Versailler Vertrag 1924 beginnen, über den Völkerbund, das Kriegsrecht im Zweiten Weltkrieg, die europäische Integration in den 1950ern über die deutsche Wiedervereinigung bis zur Gründung der Europäischen Union reichen. Ob vergleichendes Verfassungsrecht, Völker- und Europa-Recht, Menschen-, Tier- und Umweltrechte – diese zahlreichen wissenschaftlichen Entwicklungen werden innerhalb ihres Entstehungs- und Wirkungskontextes nachvollzogen. Dies bezieht auch eine Untersuchung der Positionierung des Instituts und seiner Mitarbeitenden zu historisch kritischen Themen und politischen Kontexten mit ein, wie die Haltung gegenüber dem Dritten Reich und der Ideologie des Nationalsozialismus oder zur Kolonialisierung. Ein Zugriff hierzu kann die Auseinandersetzung mit den zahlreichen Veröffentlichungen und Editionen sein, die vom Institut verantwortet werden und wurden. Seit 1927 sind in den „Beiträgen zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht“ mehr als 300 Bände erschienen, seit 1929 hat die „Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht“ mehr als 80 Ausgaben herausgebracht. Beide sind die zentralen und langlebigsten Publikationsorgane und Spiegel der wissenschaftlichen Produktion des Instituts. Der Blog gibt Gelegenheit und Forum, diese Publikationen mit dem heutigen Blick und unseren Fragen an die Geschichte neu zu lesen und zu kommentieren.

Vom Fachaufsatz zum Tagebuch: die Quellen

Jenseits der wissenschaftlichen Publikationen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Quellen, die Aufschluss über die Geschichte des Instituts geben können. Im Zuge erster Recherchen wurden zahlreiche bislang unerschlossene Dokumente aufgefunden, die auf dem Blog erstmals wissenschaftlich untersucht werden. Hierzu zählen Rechtsgutachten und -auskünfte des Heidelberger Instituts, die Zeugnis geben von seiner rechtsberatenden Tätigkeit für Ministerien, Behörden und Gerichte. Akten zur Selbstorganisation, wie historische Personal- und Verwaltungsakten ermöglichen sozialgeschichtliche Analysen der Mitarbeiterschaft des Instituts, Korrespondenzen und bislang verschollene Nachlässe bedeutender Institutspersönlichkeiten helfen bei der Rekonstruktion wissenschaftlicher Netzwerke. Nicht zuletzt neu aufgefundene Ego-Dokumente wie die Tagebuch-Aufzeichnungen von Marie Bruns eröffnen persönliche Perspektiven auf die Einrichtung und ihr wissenschaftliches Schaffen. Komplettiert wird dies durch eine Vielzahl überlieferter Fotografien und auch frühen Ton- und Filmaufnahmen, denen der Blog ein Forum bieten wird. Verbunden wird dies mit Interviews von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ebenso auf dem Blog erscheinen sollen.

Ein Kaleidoskop der Perspektiven

MPIL100 möchte eine inklusive, dynamische und vernetzte Form der multiperspektivischen Historiographie und ihrer Vermittlung ermöglichen. Wir laden Forschende verschiedener Disziplinen ein, sich an unserem Projekt zu beteiligen. Aktive und ehemalige Angehörige des Instituts sind ebenso willkommen wie externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Unser Blog möchte bisherige Narrative und Deutungsweisen zur Arbeit und Geschichte des Instituts hinterfragen und setzt auf eine Vielzahl fachwissenschaftlicher und interdisziplinärer Perspektiven aus dem In- und Ausland. Um der offenen und global vernetzten Struktur des Instituts und seiner Vielsprachigkeit Rechnung zu tragen, werden die Beiträge des Blogs auf Deutsch und Englisch erscheinen, teilweise zusätzlich auf Spanisch und Französisch. Die Reflexion einer Institution und ihrer Akteure in der Zeit soll auch eine Auseinandersetzung mit heutigen Protagonistinnen und Bedingungen juristischer Wissensproduktion anregen und ermöglichen. Dazu laden wir ein und freuen uns auf engagierte Beitragende und ein lesefreudiges Publikum.

References

References
1 Hermann Mosler, Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, in: Heidelberger Jahrbücher XX (1976), 53-78.
2 Ingo Hueck, Die deutsche Völkerrechtswissenschaft im Nationalsozialismus. Das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, das Hamburger Institut für Auswärtige Politik und das Kieler Institut für Internationales Recht, in: Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, Bd. 2, 490-528.
3 Rudolf Bernhardt/ Karin Oellers-Frahm, Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Geschichte und Entwicklung von 1949 bis 2013 (Berlin, Heidelberg: Springer 2018). Ferner: Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft) / Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, in: Eckart Henning/ Marion Kazemi (Hrsg.), Handbuch zur Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm- /Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911– 2011. Daten und Quellen, Bd. 2, (Berlin: Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft 2016), 1619-1645.
4 Felix Lange, Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. Hermann Mosler als Wegbereiter der westdeutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945 (Berlin, Heidelberg: Springer 2017). Ferner u.a. Ders., Carl Bilfingers Entnazifizierung und die Entscheidung für Heidelberg – Die Wiederbegründung des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht nach 1945, ZaöRV 74 (2014), 697-732; Ders. Kolonialrecht und Gestapo-Haft. Wilhelm Wengler 1933-1945, ZaöRV 76 (2016), 633-659; Ders., Zwischen völkerrechtlicher Systembildung und Begleitung der deutschen Außenpolitik – Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1945-2002), in: Thomas Duve/Jasper Kunstreich/Stefan Vogenauer (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Max-Planck-Gesellschaft 1948-2002, Göttingen 2023, 49-90.

SUGGESTED CITATION  Glahé, Philipp; Kemmerer, Alexandra: #MPIL100 – Beginn einer Spurensuche, VerfBlog, 2023/11/14, https://verfassungsblog.de/mpil100-beginn-einer-spurensuche/, DOI: 10.59704/6b998430b6e6c5c3.

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