Der Strafprozess vom Opfer her gedacht
Als Frau W. 18 Jahre alt war, wurde sie von sieben Männern vergewaltigt. Als sechs der Täter deswegen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, war Frau W. Anfang 30. Sie musste so lange auf die Bestrafung ihre Peiniger warten, weil die slowenische Justiz das Verfahren verbummelte. Dies hat Slowenien jetzt eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingetragen: Der Staat, so der EGMR in einer am Donnerstag veröffentlichten Entscheidung, verletzt seine Pflicht, seine Bürger vor unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) zu schützen, wenn er Vergewaltiger so lange nicht bestraft. Jetzt muss Slowenien Frau W. mit 15.000 Euro entschädigen.
Einig waren sich die Klägerin und die slowenische Regierung darüber, dass sich die Justiz viel zu viel Zeit gelassen hatte. Dabei hatte das Verfahren zunächst relativ zügig begonnen: Fünf Monate nach der Tat im April 1990 begann ein erster Prozess gegen die Täter vor einem Gericht in Maribor – und endete mit einem Freispruch. Frau W. habe sich nicht genug gewehrt, befand das Gericht, außerdem sei auf ihre Aussagen kein Verlass.
Als das Urteil ein halbes Jahr später in der nächsthöheren Instanz aufgehoben und der Fall an das Gericht zurückverwiesen wurde, waren einige der Beschuldigten längst über alle Berge – und die Richter, die in den folgenden zehn Jahren mit dem Fall befasst waren, zeigten wenig Ehrgeiz, die mutmaßlichen Täter aufspüren zu lassen und den Prozess neu aufzurollen. Erst im Mai 2001 wurde ein internationaler Haftbefehl gegen die Flüchtigen beantragt; im November 2001 begann ein neuer Prozess gegen einige der Beschuldigten, von denen zwei freigesprochen, alle anderen aber im Jahr 2002 zu Haftstrafen verurteilt wurden.
Immerhin: Auf der Grundlage des slowenischen “Gesetzes zum Schutz des Rechts auf ein zügiges Verfahren” sprach ein Gericht Frau W. eine Entschädigung in Höhe von 5.000 Euro für die psychische Belastung zu, die mit der überlangen Verfahrensdauer verbunden war – die Höchstsumme, die das Gesetz vorsieht. Eine Beschwerde von Frau W. gegen die Begrenzung der Entschädigung auf 5.000 Euro wies das slowenische Verfassungsgericht als unzulässig ab.
So hatte der EGMR über zwei Fragen zu entscheiden: Hat Slowenien durch die Langsamkeit seiner Justiz gegen die EMRK verstoßen? Und: War Frau W. mit 5.000 Euro bereits ausreichend entschädigt?
Beide Fragen beantwortete das Gericht zugunsten der Klägerin: Artikel 3 EMRK verpflichte die Vertragsstaaten, unverzüglich und zügig die nötigen Schritte zur Strafverfolgung eines Verbrechens zu unternehmen. Im Falle von Frau W. habe die slowenische Justiz eindeutig zu wenig unternommen, um den Strafprozess voranzutreiben. Deren extreme Langsamkeit lege “mangelndes Interesse der kompetenten Gerichte, die verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen”, nahe und habe Frau W. unnötiges Leid zugefügt. Dies wiege besonders schwer, weil Frau W. wegen einer geistigen Behinderung besonders verletzlich sei. Zudem sei es wegen der Verzögerung notwendig geworden, die Verfahren gegen einige der Angeklagten abzutrennen, so dass Frau W. mehrmals damit belastet wurde, vor Gericht aussagen zu müssen. Slowenien habe so gegen seine Schutzpflichten aus Art. 3 EMRK verstoßen.
Die 5.000 Euro Entschädigung, die Frau W. erhalten hatte, sah der Gerichtshof angesichts der Schwere des Falles nicht als ausreichend an, und sprach der Klägerin mit Hinweis auf seine Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen weitere 15.000 Euro zu.
Vergleicht man das Urteil im Fall W. / Slowenien mit der bisherigen Rechtsprechung des EMRK zum Recht eines Verbrechenopfers auf Bestrafung der Täter, so ergibt sich wenig Neues: Schon lange leitet der EGMR aus Artikel 3 EMRK eine Schutzpflicht des Staates ab, dafür zu sorgen, dass auch Privatpersonen die Rechtsgüter des Artikel 3 EMRK nicht verletzen. Speziell im Hinblick auf Sexualdelikte hatte der Gerichtshof bereits im Fall M. C. ./. Bulgarien aus Artikel 3 EMRK eine Pflicht für den Staat abgeleitet, “Strafvorschriften zu erlassen, die Vergewaltigung effektiv bestrafen und sie in der Praxis durch effektive Ermittlung und Strafverfolgung durchzusetzen.” Auch dass dies so zügig wie möglich zu geschehen hat, hat der Gerichtshof bereits vorher klar gestellt.
Bemerkenswert ist das Urteil im Fall W. ./. Slowenien dennoch: Es verdeutlicht die Bereitschaft des EGMR, den Strafprozess von Recht des Opfers auf Bestrafung der Täter her zu denken. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt nach wie vor der 1979 formulierte Satz, dass es “grundsätzlich keinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Strafverfolgung eines anderen durch den Staat” gibt (BVerfGE 51, 176, 181). Eine Subjektivierung des Strafprozessrechts, wie er in der Sache W. ./. Slowenien zum Ausdruck kommt, wäre aus Karlsruhe also eher eine Neuigkeit als aus Straßburg.
Dieser Blogpost ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.
Denkt man diese Gedanken nur ein ganz klein wenig weiter, kann man zu dem Schluss gelangen, dass der Bundesgesetzgeber die StPO dringend im Sinne einer Straffung des Verfahrens reformieren muss, will er nicht erfolgreiche Beschwerden der Opfer riskieren. Vielleicht kann man hier ansetzen, um verzögerlichen Ostruktionsversuchen entgegenzuwirken, die weniger der effektiven Verteidigung des Angeklagten dienen als vielmehr die mit der Verfahrensdauer verbundene Höhe der Verteidiger-Vergütung beeinflussen sollen. Mal sehen, wann der EGMR sich die StPO vornimmt und die Aussichten auf eine dringend gebotene Reform befördert.
Ich bin mir nicht sicher, ob man “verzögerliche Ostruktionsversuche” mit dem – hier wohl eher vorliegenden – schlichten “Nichtstun” staatlicher Organe vergleichen kann. Es ist also die Frage, ob der Gesetzgeber wirklich die StPO reformieren muss, um unter dem hier angesprochenen Blickwinkel erfolgreiche Beschwerden zu vermeiden.
@Matthias: Wer an Umfangsverfahren beteiligt gewesen ist, wird um die mangelnde Eignung der StPO im Sinne einer auch nur ansatzweise zügigen Verfahrensförderung in Fällen der Konfliktverteidigung wissen. Selbstverständlich ist der Gesetzgeber dafür verantwortlich, dass es im Strafverfahren um Tat, Täter und Opfer geht und nicht um Vergütungsinteressen, die einer zügigen Verfahrensförderung entgegenstehen. Nicht die Obstruktionsversuche sind das Problem, sondern das jahrzehntelange, bewusste Unterlassen des Gesetzgebers in Sachen Strafprozess!
@Rensen: Ich räume gern ein, dass insbesondere eine Reform des Beweisantragsrechts wünschenswert wäre. Ich will hier auf keinen Fall Kollegenschelte betreiben. Aber nach meiner Erfahrung (die Gott sei Dank nur ein Großverfahren umfasst) scheinen manche Probleme auch deshalb so akut zu sein, weil die Kenntnisse des Prozessrechts (und der Akten!) bei manchen Kollegen – um es vorsichtig zu sagen – ausbaufähig sind. Ich erinnere mich an eine Fortbildung von Ottmar Breidling zum “Umgang mit Konfliktverteidigung”. Danach hatte man doch zumindest das Gefühl, dass einen die StPO in solchen Fällen nicht immer im Regen stehen lässt…
@Matthias: Den Umgang mit Beweisanträgen kann man zwar durchaus erlernen. Sie müssen mir aber verraten, wie Sie das “tröpfchenweise” Stellen der Anträge effektiv verhindern wollen und wie Sie sich den Umgang mit den nachfolgenden Ablehnungen unter Berücksichtigung der §§ 26a, 29 StPO insbesondere dann vorstellen, wenn das Beweisprogramm des Gerichts abgearbeitet ist. Glauben Sie mir bitte, dass es sehr wohl in der StPO liegende Gründe hat, dass an manchen Großstadtgerichten nur noch Haftsachen verhandelt werden können. Nicht überall fehlen Kenntnisse, und manche Dinge kann man als Strafkammer nur noch “absitzen”. Was aber das Schlimmste ist und ganz unabhängig von der Qualität richterlicher Arbeit feststeht: Der Strafprozess dreht sich in der Praxis zu einem nicht unerheblichen Teil nicht mehr um Tat, Opfer und Täter, sondern um eine Konfliktverteidigung, deren einzig denkbares Motiv die Verfahrensverzögerung und eine damit einhergehende Einkommenssteigerung ist! Dem leisten die mangelnde Struktur der Hauptverhandlung einerseits und die Notwendigkeit, Anträge nicht erst mit dem Urteil zu bescheiden, andererseits Vorschub. Verzögerungen, die auch darauf beruhen, sollten für Art. 3 EMRK ausreichen.
Die slowenische Justiz hat das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert, indem sie zehn Jahre lang weder einen (internationalen) Haftbefehl gegen zwei Beschuldigte erlassen noch das Verfahren gegen die übrigen Beschuldigten abgetrennt und sodann betrieben hat. Damit betrifft das EGMR-Urteil gerade nicht das Verfahren zur Tatsachen- und Rechtsfindung und das dortige Spannungsfeld von Opfer- und Beschuldigtenrechten.
Zu “Obstruktionsversuchen”: Ich bezweifle, dass denen häufig Vergütungsinteressen zugrunde liegen (und nicht etwa die Provokation von Verfahrensfehlern). Seine Vergütungsinteressen dürften den Verteidiger eher umgekehrt in die “Kuschelverteidigung” drängen. Heutzutage wird zu schnell von Konfliktverteidigung gesprochen.
Von einem jahrzehntelangen “Unterlassen des Gesetzgebers in Sachen Strafprozess” kann zumindest in dieser Allgemeinheit bei ca. 120 StPO-Änderungsgesetzen allein seit der Wiedervereinigung kaum die Rede sein.
@AX: 1. Bzgl. des konkreten Verfahrens habe ich nichts anzumerken.
2. Im Übrigen: “Kuschelverteidigung” gibt es in der hiesigen Praxis insbes. im Falle eines Deals, der einem die Schamesröte in das Gesicht treibt. Was glauben Sie, steckt hinter dem praktischen Bedürfnis insbes. der Gerichte nach “Deals” einerseits und den Bedenken der Strafjustiz gegen “Deals” andererseits? Glauben Sie wirklich, dass die in den großen Strafkammern tätigen Richter keine hinreichende Kenntnisse von der StPO haben und dass die betreffenden Verteidiger einfach nur unter Ausnutzung überlegener Sach- und Fachkunde im Interesse des Angeklagten berechtigte Anträge anbringen? Wollen Sie etwa außerdem in Abrede stellen, dass Verfahrensverzögerung aus der Sicht des Verteidigers wegen der Struktur des Vergütugnsrechts lukrativ ist und dass eine “Neuauflage” erst recht das Einkommen erhöht?
Dass ich zu schnell von einer “Konfliktverteidigung” spreche, hat mir bis jetzt noch niemand gesagt. Ich nehme das zur Kenntnis, darf aber anmerken, dass ich von bestimmten Verteidigern von frei erfundenen Geschichten, über Beleidigungen bis hin zu Geldangeboten im Sitzungssaal schon alles gehört habe. Wie würden Sie das nennen?
3. Die bloße Zahl der Änderungsgesetze ist schon deshalb bedeutungslos, weil es hier um das Recht der Hauptverhandlung geht, nicht um die zahlreichen Anpassungen der StPO an die neuen technischen Möglichkeiten der Ermittlung usw. Leider eine Nebelkerze!
@Rensen
Bei der Stellung der Anträge geht es um Wahrheitsfindung. Das Stellen (auch nachträglich) von Anträgen ist letztendlich bedingt durch die Gewährung rechtlichen Gehörs. So kann nach das tröpfchenweise Anbieten von Anträgen durchaus sachliche Gründe haben. Das diese u.U. von manchen Verteidigern missbraucht wird (erfolgt u.U. auch von StA), mag sein, aber das muss man m.E. in Kauf nehmen. Da in Strafsachen die Folgen für den Angeklagten in der Regel sehr hoch sind, muss hier in höherem Maße versucht werden die Wahrheit zu ermitteln. Wahrheitsfindung muss immer eine höhere Priorität haben als die Reduktion der Prozessdauer.
Auch das Opfer hat ebenso Anspruch auf die Wahrheitsfindung und die auch für das Opfer höher wiegen muss, als die reine Prozessdauer. Bei Untätigkeit – wie im vorliegenden Fall, welche nicht der Wahrheitsfindung dient, dürfen dann solche Beschwerden sinnvoll und vermutlich auch erfolgreich sein. Bei allen anderen dürfte es einzelfallabhängig zu beurteilen sein. Hier mit der Gesetzeskeule zu kommen, dürfte kaum den Einzelfällen gerecht werden können.
Eine Aburteilung ohne ausreichend versuchte Wahrheitsfindung kann daher niemals das Ziel in einem Rechtsstaat sein.
Wie stellen Sie sich denn eine Änderung der StPO vor, die hier rechtsstaatlichen Grundsätzen ausreichend gerecht wird?
Ich weise hin auf die Entscheidungen des BVerfG in den Fällen
– Tennessee Eisenberg vom 26.6.2014
– Gorch Fock vom 6.10.2014
– Münchner Lokalderby vom 23.3.2015 und
– Luftangriff bei Kundus vom 19.5.2015.
Danach besteht in bestimmten, klar umrissenen, Fallgruppen ein Rechtsanspruch des Verletzten auf effektive Strafverfolgung des Täters. Bis zur Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 hatte der Verletzte generell lediglich ein sog. “Reflexrecht” inne.
Der Unterschied zwischen Rechtsanspruch und Reflexrecht zeigt sich vor allem im Klageerzwingungsverfahren gem. §§ 172 ff StPO: Während der Verletzte bis zur Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 als lästiger Bittsteller behandelt werden konnte, haben sich die Dinge seit dem 26.6.2014 geändert: Nunmehr führt der Verletzte bei einem Verfahren nach den §§ 172 ff StPO – seiner Struktur nach – eine Art Verwaltungsprozess gegen die StA: Der Verletzte will die StA im Verfahren nach den §§ 172 ff StPO dazu zwingen, dass die StA Anklage gegen den Täter erhebt.
Da der Verletzte im Verfahren nach den §§ 172 ff StPO auf vollwertige eigene prozessuale Rechte pochen kann, kann er auch verlangen, dass ihm richterliche Hinweise gem. § 86 III VwGO, Art. 103 I GG erteilt werden, sollte seine Antragsschrift lückenhaft gewesen sein.
Das Opfer einer schweren Straftat hat also seit der Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 ungleich bessere Aussichten, eine effektive Strafverfolgung des Täters vor Gericht erzwingen zu können.
Alles, was ich Ihnen hier erzähle, können Sie übrigens auch, viel besser und viel genauer beschrieben, in dem einschlägigen Wikipedia-Artikel mit dem Titel “Anspruch_auf_Strafverfolgung_Dritter” nachlesen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Anspruch_auf_Strafverfolgung_Dritter