Der lange Schatten von Art. 21 GG – Staatsferne, Staatsfreiheit und Machterhalt im ZDF-Staatsvertrag
Man könnte meinen, die ganze Debatte sei eigentlich von gestern. In Zeiten, in denen vor allen Dingen die Generation 50+ überhaupt noch fernsieht und der Altersdurchschnitt der Zuschauer des ZDF bei 61 Jahren liegt, wer interessiert sich da noch wirklich für die Zusammensetzung von Fernseh- und Verwaltungsrat? Gehören sie nicht ohnehin in die Mottenkiste der alten Bundesrepublik, wo sie zusammen mit dem Musikantenstadl und ‚Wetten Dass…?‘ ihrem friedlichen baldigen Ende entgegendämmern sollten? Trotz dieser leichten Angestaubtheit des Themas verdient die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den ZDF-Gremien aus mehreren Gründen der Aufmerksamkeit. Zum einen geht es natürlich um einen aus öffentlichen Geldern finanzierten Bereich. Vor allem fundamentale Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks führen dies gern an, um ihre Kritik zu untermauern. Zum anderen lässt sich an der Entscheidung natürlich auch der pauschale Verweis auf den Staat als Beute der politischen Parteien exemplifizieren. Man kann das Thema aber auch differenzierter sehen und anhand der Entscheidung interessante Beobachtungen anstellen zu sehr grundsätzlichen Fragen von Staat, Parteien, Gesellschaft und vor allen Dingen politischer Macht.
Dass das Bundesverfassungsgericht den ZDF-Staatsvertrag in seiner bisherigen Form verworfen hat, dürfte niemanden ernsthaft überraschen. Zu deutlich war die parteipolitische Besetzung der Gremien gerade auch im Vergleich zu den Regeln anderer Rundfunkanstalten. Interessant ist aber die Begründung, mit der das Gericht dem Gesetzgeber einen Gestaltungsauftrag mit auf den Weg gibt, dessen Ergebnis noch sehr offen ist.
Aufhorchen lässt insofern zunächst, dass das Argumentationstopos von Machterhalt und Machtgewinn die Entscheidung durchzieht. War dieser Aspekt bisher ausschließlich in der Rechtsprechung zu wahlrechtlichen Sperrklauseln präsent, lässt seine Übertragung auf das Rundfunkrecht nun eine neue Perspektive erkennen. An die Seite des altbekannten Risikos, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch fehlende Meinungspluralität einseitig den Ansichten einer „Gruppe“ auszuliefern, tritt nun die Gefahr der Instrumentalisierung und Manipulation der Medieninhalte durch Individuen im ureigenen Interesse. Diese Erwägungen könnten den vielversprechenden Anfang einer verstärkt akteursbezogenen Wahrnehmung im Staatsrecht bilden, der die stark institutionell geprägte Perspektive seit langem sinnvoll ergänzen könnte.
Ebenfalls bemerkenswert ist darüber hinaus die in der Geschichte der Rundfunkentscheidungen neue Postulation von Transparenzpflichten im internen Entscheidungsprozess der Gremien, für die sich innerhalb des Senats nur eine Mehrheit von 5:3 Stimmen fand. Sie reiht sich ein in eine Entwicklung, in der Information zunehmend als Gegenmittel für die abnehmende Kraft von Instrumenten direkter Verhaltensteuerung entdeckt wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieses Mittel nun gerade dort Anwendung finden muss, wo es in der ursprünglichen Konzeption maßgeblich um die Versorgung der interessierten Öffentlichkeit mit Informationen und um die Überbrückung der Informationskluft zwischen politischen Akteuren und Bürgern geht.
Vor allen Dingen aber verdient Aufmerksamkeit, was das Gericht zur Bedeutung der Gruppenpluralität in den Anstaltsgremien ausführt. Aus ihnen lassen sich sehr grundlegende Positionierungen zum einen zur Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zum anderen zur Rolle der Parteien im Zwischenfeld von Staat und Gesellschaft entnehmen. Mehr oder weniger deutlich verabschiedet sich die Senatsmehrheit insofern von der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als einem Bereich staatsfreier gesellschaftlicher Selbstregulierung. In seinem Konzept der Staatsferne, das deutlich und mit neuen Akzenten von demjenigen der Staatsfreiheit abgegrenzt wird, hat die Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen in den Rundfunkräten alleine eine funktionalistische Bedeutung zur Realisierung dieser Staatsferne.
Nachdrücklich betont das Gericht insofern zutreffend, dass es sich bei den Vertretern gesellschaftlicher Gruppen gerade nicht um deren Repräsentanten im engeren Sinne, sondern um Sachwalter der Allgemeinheit handelt. Ihre Auswahl sei insofern auch ein qualitativ anderer Prozess als eine repräsentative Abbildung der Bevölkerung, wie sie sich durch Wahlen vollzieht. Warum aber nun gerade aus diesem qualitativen Unterschied ein besonders weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers folgen soll, erklärt das Gericht nicht. Es scheint insofern etwas gefangen in der eher unreflektierten Übertragung der Pluralitätskonzepte hinsichtlich der medialen Inhalte auf die Pluralitätskonzepte hinsichtlich der Gremienzusammensetzung. Damit droht in gewisser Weise die Konstruktion einer „Repräsentation von oben“, bei der nicht mehr nur die Entscheidung im Allgemeininteresse dem politischen System übertragen wird, sondern auch Katalogisierung der Allgemeinheit nach zu berücksichtigenden Interessengruppen.
Letztlich sind diese Gedanken jedoch wiederum nur Ausdruck eines Dilemmas: Um den staatsfernen, gruppen- und meinungspluralen öffentlich-rechtlichen Rundfunk praktisch zu realisieren, ist eine Auswahl gesellschaftlicher Vertreter erforderlich, die in einem weiten Sinne bestimmte Anforderungen von Repräsentation erfüllen muss, in Deutschland aber letztlich kein gefestigtes gesellschaftliches Instrument jenseits des Parteienwettbewerbs für eine derartige Aufgabe besteht. Auch wenn die normative Bedeutung von Art. 21 GG in der Entscheidung an keiner Stelle erwähnt wird, ist sein langer, mittlerweile gesellschaftlich verwurzelter Schatten an den zentralen Stellen der Entscheidung doch prägend. Dies zeigt sich gerade an den – insofern neuartigen – Ausführungen zu den Inkompatibilitätsregeln, die auch Inhaber von Parteiämtern erfassen sollen. Gerade über die Brücke der machtsoziologischen Perspektive wird damit den Parteien im Konzept der Staatsferne eine neue Rolle zugewiesen, die ihre gesellschaftliche Stellung erstmals auf diese Weise reflektiert. Was also auf den ersten Blick wie eine Niederlage für die politischen Parteien aussieht, könnte mittelfristig sogar zu einer weiteren verfassungsrechtlichen Stärkung ihrer Position führen.
Nur am Rande sei bemerkt, dass trotz alledem aus medienspezifischer, nicht machtpolitischer, Sicht das Ergebnis der Entscheidung weit weniger Auswirkungen haben dürfte, als es zunächst den Anschein hat. Insofern ist es kein Wunder, dass der Anlass für die Normenkontrolle ein originär machtpolitischer Vorgang, nämlich die Wahl des ZDF-Chefredakteurs war. Die seit langem schwelende Inhalts- und Qualitätsdebatte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk scheint davon merkwürdig unberührt. Maßgeblicher Grund dafür dürfte sein, dass Produktion und Ankauf der Sendeinhalte als eigentlich zentrale Seite der Inhalts- und Meinungspluralität zunehmend an private Unternehmen ausgelagert werden, die der Kontrolle der Rundfunkräte gerade nicht mehr unterstehen. Ein viel wichtigeres Thema wäre insofern die Frage, was die Rundfunkräte unabhängig von ihrer Zusammensetzung überhaupt noch kontrollieren können. Dass das (verfassungs-)politische Interesse an diesem Problem außerordentlich gering ist, sagt vielleicht mehr über den Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als die parteipolitische Zusammensetzung seiner Entscheidungsgremien.
Der Hinweis auf das Transparenzgebot ist interessant – und m.E. auch geboten.
… allerdings könnte dann auch die Überlegung aufkommen, ob angesichts der beträchtlichen politischen Implikationen der Rechtsprechung Gleiches nicht auch für die Beratungen der beiden Senate des BVerfG gelten müsste. 😉
Dafür haben wir ja Spezialisten, die hinter den Schleier des Beratungsgeheimnisses blicken.