Die Reproduktion sozialer Hierarchien im deutschen Jurastudium
The system tells you that you learned as much as you were capable of learning, and that if you feel incompetent or that you could have become better at what you do, it is your own fault. (…) Students internalize this message about themselves and about the world, and so prepare themselves for all the hierarchies that are to follow.
Duncan Kennedy, Legal Education as a Training for Hierarchy, 1992
„Die wissenschaftliche Ausbildung zum Juristen in Deutschland ist in der Gegenwart in stärkster kritischer Diskussion“. So beginnt ein Aufsatz von Gerhard Köhler aus dem Jahre 1971. Über 50 Jahre später ist die Diskussion nicht weniger kritisch, nicht zuletzt, weil sich seit der Veröffentlichung von Köhlers Aufsatz wenig getan hat. Dieser Stillstand ist auch das Ergebnis eines reaktionären Widerstands gegenüber jedweder Veränderung, der ein auf sozialen Ungleichheiten beruhendes Elitenverständnis in der juristischen Zunft bewahren will. Die juristische Ausbildung, wie sie heute in Deutschland angeboten wird, treibt Menschen beruflich, familiär, psychisch und physisch ins Elend. Darüber hinaus ist sie so strukturiert, dass sie sich längst nicht alle leisten können. Der gesellschaftliche Preis dieses Stillstands, sowie der persönliche Preis, den viele Jurastudierende zahlen, ist hoch. In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, inwieweit die Struktur des Jurastudiums dazu beiträgt, Personen aus gering verdienenden Einkommensschichten zu benachteiligen oder vom Studium abzuhalten. Zentrale Ausschlussfaktoren sind dabei aus meiner Sicht die Länge, die Kosten und die unsicheren Erfolgsaussichten des Jurastudiums. Ich zeige ferner auf, dass diese Charakteristiken des Jurastudiums das Resultat seiner theologischen Ursprünge sind und nicht etwa das unvermeidliche Nebenprodukt seiner Qualitätssicherung.
Lebenszeit als Kollateralschaden?
Im Jahr 2022 haben Studierende fächerübergreifend durchschnittlich 8,1 Semester bis zum ersten universitären Abschluss gebraucht. Ein Tempo, das im Jurastudium nur 26,9 % mitgehen konnten. Laut der Statistik des Bundesamts für Justiz für dasselbe Jahr studieren diese nämlich im Schnitt bestenfalls vier Jahre (Rheinland-Pfalz) bis schlimmstenfalls sechs Jahre (Bremen), um überhaupt zur ersten staatlichen Pflichtprüfung zugelassen zu werden. Von denen, die sich dieser Prüfung unterzogen, fiel 2022 bundesweit mehr als ein Viertel durch (26,2 %). In Sachsen lag die Durchfallquote bei 32,3 %, in Brandenburg sogar bei 41,8 %. In Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland brauchte rund ein Viertel aller Geprüften mehr als 16 Semester, um das Erste Staatsexamen erfolgreich abzulegen. In Sachsen, Thüringen, Niedersachsen und Bayern war rund ein Fünftel erst nach zwölf Semestern erfolgreich examiniert. Im Durchschnitt dauert es also sechs bis acht Jahre bis zum ersten universitären Abschluss. Oder bis zum Erhalt der Hiobsbotschaft, endgültig durchgefallen zu sein. Eine Nachricht, die im Jahr 2022 insgesamt 513 Personen ereilte. Für sich genommen, aber auch ins Verhältnis gesetzt mit den 8765 erfolgreich Examinierten ist dies eine bedenkenswerte Zahl. Für das Zweite Staatsexamen sind die Erfolgsaussichten zwar etwas besser, aber auch nicht rosig. Auch hier fiel rund ein Fünftel aller Geprüften in Bremen und sogar ein Viertel aller Geprüften in Schleswig-Holstein durch.
Zum Vergleich, im ebenfalls mit Staatsexamen abschließenden und mit einer durchschnittlichen Studiendauer von 13,9 Semestern bis zur universitären Abschlussprüfung ebenfalls langwierigen Studiengang Humanmedizin liegen die Durchfallquoten im Staatsexamen regelmäßig unter 10 %. Trotz einer ähnlich großen Menge an Inhalten und einer vergleichbaren Prüfungsform. Gleichzeitig ist die Studienabbruchsquote in Medizin mit zuletzt 6 % um ein Vielfaches niedriger als in Jura. Alles Indizien dafür, dass es durchaus möglich ist, einen Staatsexamensstudiengang so zu strukturieren, dass fast alle Personen, die ihn beginnen, auch erfolgreich abschließen können. Auch die große Variabilität bei der Studiendauer bis zum Ersten Juristischen Staatsexamen legt nahe, dass für die Länge des Jurastudiums nicht allein die Menge der Studieninhalte ausschlaggebend ist, sondern auch seinen strukturellen Charakteristiken Bedeutung zukommt.
Eine im Jahr 2020 veröffentlichte Studie etwa ergab, dass 70 % der befragten Jurastudierenden ihr Studium aufgrund der psychischen Belastung, welche es verursacht, nicht weiterempfehlen würden. Diese Belastung ist zweifellos unzureichender Lehrpädagogik und Lehrdidaktik geschuldet. Dies wird alleine daran deutlich, dass die meisten der Befragten sich methodische Schulungen zum effizienten Lernen und zum besseren Zeitmanagement wünschen. Dies zeigt, dass nicht nur offensichtliche Gründe, wie etwa der Stress der Vorbereitung auf die karrierebestimmenden Examina, Studierende lähmen, sondern auch die fehlende oder unzureichende Vermittlung von praktischen und methodischen Kompetenzen. Auch die auffällig hohe Zahl an Jurastudierenden, welche angeben, unter dem hohen Konkurrenzdruck mit anderen Studierenden sowie einer teils als willkürlich empfundene Notengebung zu leiden, ist ein Indiz dafür, dass Wissensvermittlung und Wissensprüfung in ihrer jetzigen Form Lernerfolge im Jurastudium tendenziell eher behindern als befördern. Darüber können auch Erklärungsversuche, dass Rechtswissenschaften für viele Abiturient:innen ein „Verlegenheitsstudium“ sei, dessen Anforderungen sie unterschätzt hätten, nicht hinwegtäuschen.
Nur ausgewählte Investierende bitte
Werbeslogans bezeichnen Bildung gerne als eine Investition in die Zukunft. Doch bei durchschnittlichen monatlichen Lebenshaltungskosten von 930 Euro und Gebühren von 150-175 Euro pro Monat für die von den meisten Jurastudierenden zumindest zeitweise besuchten privatwirtschaftlich angebotenen Repetitorien ist die Investition in juristische Bildung nicht nur langwierig und ungewiss, sondern auch teuer. Im Ergebnis führt das zu einer auffälligen Homogenität unter deutschen Jurist:innen, auf die Veröffentlichungen und Vereinigungen seit Jahren hinweisen. Die juristische Zunft in Deutschland ist fast ausschließlich weiß, hat zumindest ein Elternteil mit Hochschulbildung, und ist in ihrer hierarchischen Struktur von einem ausgeprägten Gendergefälle geprägt. Und dass, obwohl seit den 2010er Jahren als weiblich gelesene Personen jedes Jahr weit mehr als die Hälfte der erfolgreich Geprüften im Ersten Staatsexamen ausmachen. Für das Merkmal Geschlecht ist dieses Phänomen als „Leaky pipeline“ bekannt. Ein Begriff, der gleichermaßen zutreffend für die Karrierechancen von rassifizierten Menschen und Menschen aus „bildungsfernen“ Familien ist. Ronen Steinke, Cengiz Barskanmaz und andere haben Verbindungen zwischen der Homogenität der juristischen Zunft und strukturell verankerten sozialen Ungleichheiten in der deutschen Rechtswissenschaft und Praxis gezogen. Wie kann es bei so vielen nachweislich negativen Konsequenzen und hohen gesellschaftlichen Kosten also sein, dass die juristische Ausbildung in Deutschland so reformresistent ist?
Wie sie mir, so ich dir
Gründe dafür lassen sich in der Entstehungsgeschichte der juristischen Ausbildung in Deutschland finden. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt nämlich, dass das Jurastudium seit jeher praxisfern, langwierig und, angesichts des Stellenwerts von Repetitorien, in seiner Qualität auch von dem Vermögen einer Person mitbestimmt ist. Auch hier ist Köhlers historische Aufarbeitung aufschlussreich. Die universitäre juristische Ausbildung im deutschsprachigen Raum geht bis ins 14. Jahrhundert zurück und war lange dem Klerus vorbehalten. Zwar wurde sie an öffentlichen Universitäten angeboten, doch hat auch der Privatunterricht für diejenigen, die es sich leisten konnten, eine lange Tradition. Repetitorien lassen sich auf das 19. Jahrhundert zurückverfolgen, doch bereits ein Jahrhundert zuvor wurde festgestellt, dass Universitäten unzulänglich auf juristische Praxis vorbereiteten. So gibt es Hinweise, dass bereits 1713 eine preußische Anordnung zur Verbesserung des Justizwesens vorsah, dass in der Justiz tätige Personen zusätzlich zum Studium Praxiserfahrungen nachzuweisen hätten, um alle juristischen Tätigkeiten uneingeschränkt ausüben zu dürfen. Diese Verordnung war also nicht nur wegbereitend für das heutige zweistufige Ausbildungssystem, der Einführung des Referendariats, und der Unterscheidung zwischen Jurist:in und Volljurist:in, sondern eben auch ein Beleg dafür, dass die universitäre juristische Ausbildung auch damals schon unzulänglich auf juristische Berufe vorbereitete. Bemerkenswerterweise war bereits zu jener Zeit die übliche Lehrmethode das Vorlesen durch Lehrende und das Zuhören durch Lernende. Die Inhalte solcher Vorlesungen bestanden seit dem Mittelalter aus der Wiedergabe und Kommentierung von Rechtsquellen und gaben damit der Doktrin einen hohen Stellenwert. Praktische Übungen zu den Kerninhalten waren damit seit jeher für die außeruniversitäre Ausbildung bestimmt. Auch wenn heute Universitäten selbst meist von wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen durchgeführte Übungen anbieten, ist die mittelalterliche Dynamik der Lehr-Lernbeziehung zwischen Professor:innen und Studierenden bei der Vermittlung der Rechtsdogmatik an juristischen Fakultäten nach wie vor weit verbreitet. Und dass, obwohl die Effektivität der klassischen Vorlesung als Lehrmethode seit langem umstritten ist. Auch wenn sich die in Deutschland gängige Lehrmethodik von der US-amerikanischen in wichtigen Punkten unterscheidet, so ist doch die hierarchische Dynamik vergleichbar. Eine Dynamik, die Duncan Kennedy einst als „ideologisches Training auf die fügige Knechtschaft in den Hierarchien des unternehmerischen Sozialstaats“ bezeichnete. Selbst wem diese Diagnose zu weit geht, kann man von Kennedys Auseinandersetzung mit den Zielen des amerikanischen Jurastudiums lernen, denn Kennedy hat gezeigt, dass nicht nur Lehrinhalte gesellschaftspolitische Auswirkungen haben können, sondern auch die Art und Weise der Wissensvermittlung. Wichtiger noch, Kennedy stellt eine wichtige Frage in den Raum. Wem dient die juristische Ausbildung, und wem sollte sie dienen?
Der Blick zur Seite, der Blick nach vorne
Im Ergebnis tragen die hier angerissenen strukturellen Faktoren dazu bei, dass gesamtgesellschaftliche soziale Hierarchien in der juristischen Ausbildung in Deutschland widergespiegelt und reproduziert werden. Während in der Rechtssoziologie die soziale Reproduktion der juristischen Zunft schon lange Forschungsgegenstand ist (siehe etwa hier), beschäftigen sich juristische Fakultäten selbst nur selten mit der Frage, wie die juristische Ausbildung zur Aufrechterhaltung und Reproduktion sozialer Hierarchien beiträgt. Und noch seltener findet eine Reflektion darüber statt, wie diese Reproduktion sich auf die Rechtspraxis und ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Ordnung in Zeiten einer stetig weiter auseinanderklaffenden Wohlstandsschere auswirkt. Das dies so ist, ist bedenklich und auch zunehmend ungewöhnlich. Für die USA etwa benannte Duncan Kennedy und die von ihm mitbegründete einflussreiche Critical Legal Studies Bewegung die Lehrmethodik und die Prüfungsformen in der juristischen Ausbildung als instrumentell für den Beitrag der Rechtspraxis zur Aufrechterhaltung von sozialen und materiellen Ungleichheiten. In Großbritannien hat die Forderung, Lehrinhalte zu de-kolonialisieren, auch in juristischen Fakultäten zur kritischen Reflektion über die Ziele und gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Ausbildungsinhalten und Methoden geführt. Neben der nationalen Perspektive spielen hier auch aus dem Kolonialismus resultierende Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen eine wichtige Rolle, für die zukünftige Generationen von Jurist:innen sensibilisiert werden müssen. Hervorzuheben ist diesbezüglich etwa die Arbeit von Folúkẹ́ Adébísí (hier und hier). In Australien haben feministische Rechtswissenschaftler:innen die Verbindung zwischen einer fortdauernd maskulinen Rechtsepistemologie einerseits und dem Wohlstands- und Gerechtigkeitsgefälle zwischen männlich gelesenen Personen und allen anderen Personen andererseits aufgearbeitet. Dianne Otto etwa hat in ihrer bahnbrechenden Arbeit den Zusammenhang zwischen einer hierarchisch strukturierten Lehre und dem dadurch wegtrainierten Vorstellungsvermögen von Jurastudierenden, das Völkerrecht im Sinne sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit neu zu denken, hergestellt. In meinem eigenen Beitrag habe ich auf den weitverbreiteten Ableismus an juristischen Fakultäten, und den damit verbundenen systematischen Ausschluss von Menschen mit Behinderungen von der juristischen Zunft hingewiesen und einige der daraus resultierenden negativen gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen aufgezeigt.
In von Krisen und Unsicherheiten geplagten Zeiten, welche von extremen sozialen Ungleichheiten und Brüchen geprägt sind, muss die rechtswissenschaftliche Ausbildung und Praxis den Anspruch haben, die Gleichheit aller Menschen zu achten und die Würde jedes Menschen gleichermaßen zu schützen. Doch um künftige Generationen von Jurist:innen dazu zu befähigen, ist ein radikaler Bruch mit den Jahrhunderte alten Traditionen der juristischen Ausbildung nicht nur wünschenswert, sondern zwingend notwendig.
Vielen Dank für den lesenswerten Beitrag!
Bei wesentlichen Aspekten sehe ich mich gezwungen zu widersprechen.
In der Konklusion wird vorgetragen, dass “Gerechtigkeitsfragen eine wichtige Rolle [spielen], für die zukünftige Generationen von Jurist:innen sensibilisiert werden müssen. “ Diese These ist ihrem Kern nach falsch. Ein Richter, der das abstrakte Wesen der “Gerechtigkeit” spricht und nicht das Recht, ist kein Repräsentant des Rechtsstaates, sondern Philosoph. Der Rechtsstaat geht an vorübergehend – individuellen Gerechtigkeitsempfinden zugrunde. Reflexion über sozial- und gesellschaftlichen Strukturen ist in weiten Teilen nicht Inhalt der Arbeit des klassischen Juristen (Anwalt, Staatsanwalt und Richter), sondern ist Gegenstand der Arbeit des Gesetzgebers. Neben diesem eklatanten Missverständnis über den Inhalt der Tätigkeit eines Juristen, erschließt sich mir der Vergleich mit dem Medizinstudium nicht. Die Prüfungsform unterscheidet sich wesentlich. Die Anfertigung von Gutachten und das Ankreuzen in Multiple Choice Verfahren, prüfen jeweils unterschiedliches Wissen ab und können so nicht mit einander verglichen werden. Insbesondere spielt im Gutachten das Beherrschen der deutschen Sprache eine bedeutende Rolle, was zumindest für den von der Autorin ins Visier genommenen Personenkreis ein Problem darstellen könnte. Auch die Hohe Abbrecherquote lässt sich nicht ins Verhältnis setzen. Das Medizinstudium setzt bundesweit einen 1,0 Schnitt zusätzlich zu dem Medizinertest voraus. Das Jurastudium kann man vielerorts NC Frei studieren. Ein Vergleich der beiden Studiengänge bezogen auf die Abbrecherquote liegt demnach fern.
Nicht zuletzt kann ich den Vorwurf nicht nachvollziehen, dass das Jurastudium vornehmlich weiß geprägt ist. Dies trifft in Deutschland, welches vornehmlich von “weißen” (eine absurde Unterteilung) bewohnt wird, auf jeden Studiengang zu.
Bezüglich der Ausführung zu grundsätzlichen Benachteiligung von Menschen aus niedrigen Einkommensschichten in der Juristenausbildung werden überzeugend vorgetragen.
Vielen Dank für den Beitrag!
Der Vergleich von Jura- und Medizinstudium hinkt mMn an wesentlichen Stellen. Wer in Deutschland Medizin studiert, hat entweder sein Abitur mit 1,0 abgeschlossen, den anspruchsvollen Medizinertest absolviert oder lange Jahre auf den Studienplatz gewartet. Jura kann hingegen problemlos (wenn auch nicht an der Traumuni) jede/r studieren, der/die ein Abitur hat. Ist es da nicht irgendwie vorhersehbar, dass viel weniger Medizinstudierende ihr Studium nicht vollenden? Es kann nicht Anspruch der rechtswissenschaftlichen Ausbildung sein, jeder und jedem UM JEDEN PREIS zu einem Abschluss zu verhelfen. Hier sind die Unis aber gefragt, mit Bachelor of Law o.ä. Kombinationsangeboten schon im Studium sinnvolle Alternativen aufzuzeigen.
Zur Stresskomponente lässt sich nur eines sagen: Ja, das Jurastudium ist oft stressig. So wie das BWL, Medizin- oder Psychologiestudium (und im übrigen auch jeder juristische Job) manchmal stressig sind.