One Size Does Not Fit All
Zur Debatte um den Umgang mit syrischen Geflüchteten
Bereits wenige Tage nach dem Sturz des bisherigen syrischen Machthabers Baschar al-Assad ist eine Diskussion entbrannt, in der Forderungen nach sofortiger Rückkehr aller Syrer:innen laut werden. In europäischen Nachbarstaaten wird gar über Abschiebepläne nachgedacht. Daneben hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Reaktion beschlossen, bis auf weiteres alle anhängigen Asylverfahren mit syrischen Staatsangehörigen auszusetzen (wie auch etliche weitere europäische Staaten). Davon betroffen sind in Deutschland ca. 47.000 Anträge. Oft aus den Augen gerät dabei das Erfordernis einer einzelfallbezogenen Prüfung, was sowohl das Verfahren selbst, die Anerkennung als Flüchtling als auch den Widerruf einer Aufenthaltserlaubnis betrifft. Beim genaueren Hinsehen spricht hier einiges gegen ein pauschales Vorgehen.
Ebenen im Asylsystem auseinanderhalten
In einer bereits stark emotionalisierten und aufgeheizten Debatte mit dem Dauerbrennerthema „Flucht und Migration“ vermischt der nunmehr gestartete Diskurs mehrere Ebenen und Stadien des gesamten Asyl- und Aufenthaltssystems und trägt dazu bei, dass eine undurchsichtige Rechtsmaterie in der öffentlichen Wahrnehmung verzerrt und mitunter falsch wahrgenommen wird. Es gilt die unterschiedlichen Gruppen von Betroffenen zu unterscheiden, die von den Maßnahmen betroffen wären.
Die erste große Gruppe bilden diejenigen, bei denen das BAMF in der nächsten Zeit keine Entscheidung treffen wird, also die ca. 47.000 Personen, die zwischen Antrag und abschließender Entscheidung stecken. Des Weiteren werden Stimmen laut, die auch darüber hinaus anerkannten Geflüchteten aus Syrien eine Rückkehr nahelegen. Dies umfasst all diejenigen, die das Asylverfahren durchlaufen haben und einen positiven Bescheid erhielten. Insgesamt handelt es sich um ca. 624.000 Personen, die basierend auf dem Ergebnis des Asylverfahrens Inhaber:innen eines Aufenthaltstitels sind. Eine dritte Gruppe stellen die besonders schutzbedürftigen Geflüchteten im Sinne von Art. 21 RiLi 2013/33/EU Aufnahmerichtlinie (für eine Definition siehe auch hier, wobei die Liste nicht abschließend ist) dar. LSBTI* Geflüchtete fallen unter diese Kategorie, ebenso wie schwer erkrankte Personen oder solche, die aufgrund traumatisierender Erfahrungen stark psychisch belastet sind (siehe für letztere Gruppe insbesondere hier). Bei eben diesen besonders vulnerablen Personen muss der aktuelle Machtwechsel nicht zwangsläufig zu einer anderen Bewertung ihrer Eigenschaft als Geflüchtete führen. Die Verfahrensaussetzung bedeutet für sie eine noch stärkere Unsicherheit.
Verfahrensstop – Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und Verfahrensgarantien
Die Verfahrensaussetzung betrifft jedes Verfahrensstadium und damit alle Personen, über deren Antrag noch nicht entschieden worden ist. Diese Aussetzung kann ambivalent beurteilt werden. Zum einen, so wie auch aus der Mitteilung des BAMF ersichtlich, soll die Aussetzung dazu dienen, der dem BAMF durch § 24 Abs. 1 AsylG auferlegten Amtsermittlungspflicht bei nun unklarer Tatsachengrundlage gerecht zu werden. Rechtsgrundlage für eine derartige Aussetzung bietet § 24 Abs. 5 AsylG (basierend auf Art. 31 Abs. 4 Asylverfahrensrichtlinie), wonach die Entscheidung abweichend von den sonst in Abs. 4 normierten Fristen aufgeschoben werden kann, wenn aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage besteht. Im Sinne der Rechtssicherheit ist der Schritt vertretbar und laut UNHCR akzeptabel. Die Formulierung „akzeptabel“ legt aber auch schon nahe, dass eine Aussetzung für ausnahmslos alle Verfahren von Syrer:innen nicht unbedingt der ideale und differenzierteste Weg ist.
Da die Aussetzung jedes einzelne Verfahren mit dem Herkunftsstaat Syrien erfasst, stimmt es andersherum eben auch, dass dieser „one size fits all“ Ansatz nur bedingt der Realität von allen Geflüchteten gerecht wird. Da es aufgrund des aktuellen Machtwechsels nun möglich erscheint, dass Gegner:innen des Assad-Regimes nunmehr keine (staatliche) Verfolgung droht, ist der Verfahrensstopp hier nachvollziehbar, um die neue Tatsachengrundlage zu ermitteln. Soweit die Flüchtlingseigenschaft nach den §§ 3 ff. AsylG auch Personen zuerkannt wird, die aufgrund einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit Verfolgung ausgesetzt sind, sei es wegen der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder einer anderen sozialen Gruppe (siehe für eine derartige Forderung zur Verfahrensweiterführung hier), ist dies schon deutlich heikler.
Unabhängig vom Regime und der aktuellen Umwälzung kann für Kurd:innen, Angehörige von religiösen Minderheiten oder LSBTI* Geflüchtete anhand der Länderinformationen durchaus weiterhin eine begründete Entscheidung getroffen werden. Art. 4 Abs. 3 lit. c) Qualifikationsrichtlinie schreibt vor, dass stets die „individuelle Lage und die persönlichen Umstände der antragstellenden Person“ zu berücksichtigen sind. Für die Kurd:innen in Nordsyrien bedeutet der Machtwechsel keine Entspannung. Ganz im Gegenteil, denn zwischen ihnen und der Miliz HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) bestehen ideologische und politische Gegensätze. Gerade jetzt kommt es wieder zu Gefechten in Nordsyrien. Und auch für die LSBTI* Geflüchtete besteht weiterhin die reale und nicht zu leugnende Gefahr einer Verfolgung. Schaut man in jüngere Urteile zur Schutzgewährung von LSBTI* Geflüchteten (z.B. hier und hier), wird dies deutlich. Die Begründungen basieren darauf, dass „Homosexualität in nahezu allen Volks- und Religionszugehörigkeiten geächtet wird“, willkürliche Verhaftungen drohen und Folter und Gewaltanwendung durch sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure zu befürchten sind. Die Bedrohungslage ist tief gesellschaftlich verwurzelt und mit einer schnellen Änderung ist nicht zu rechnen.
Normativer Anknüpfungspunkt für eine Ausnahme von der Aussetzung für besonders schutzbedürftige Gruppen kann Art. 31 Abs. 7 lit. c) der Verfahrensrichtlinie liefern, wonach eben auch in die andere Richtung Anträge vorgezogen werden können, wenn die betroffenen Personen besonders schutzbedürftig im Sinne von Art. 22 Aufnahmerichtlinie sind. Wenn das Recht eine mögliche Priorisierung und Flexibilität für besonders Schutzbedürftige kennt, sollte dies auch in der jetzigen komplexen Situation angewandt werden. Denn wie aufgezeigt wird eine komplette Verfahrensaussetzung besonders vulnerablen Personen und deren Bedarfen nicht gerecht. Vielmehr noch bedeutet die Ungewissheit nun eine weitere Belastung. Die Aussetzung, so könnte man sagen, führt zu noch mehr Vulnerabilität.
Wohlgemerkt muss ein solcher Bedarf ermittelt werden. In Fällen, in denen bereits die Anhörung stattgefunden hat, wäre dies ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich. Ist dieser ermittelt, schreibt Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 3 RiLi 2013/33/EU zudem vor, dass den ermittelten Bedürfnissen während des gesamten Verfahrens Rechnung getragen werden soll. Das könnte sich auch darin niederschlagen kann, bestimmte Gruppen von der Aussetzung auszunehmen und damit zum Beispiel der Retraumatisierung bei Opfern psychischer Gewalt vorzubeugen.
Widerruf des Schutzstatus – Stets individuelle Prüfung
Aber nicht nur bei Antragsteller:innen herrscht Unsicherheit. Tatsächlich evozieren einige Aussagen aktuell den Eindruck, als ob mit einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in Syrien auch automatisch das Bleiberecht für syrische Geflüchtete erlösche. Auch hier ist zu differenzieren. Der Schutzstatus muss zunächst erlöschen und kann daran anschließend nur nach den Möglichkeiten des § 73 AsylG widerrufen oder zurückgenommen werden kann. Je nach Zuerkennung der Asyl- oder Flüchtlingseigenschaft auf der einen oder des subsidiären Schutzes auf der anderen Seite müssen die Änderungen der Umstände entweder „erheblich und nicht nur vorübergehend“ (Abs. 1 S. 3) oder „wesentlich und nicht nur vorübergehend“ (Abs. 2 S.2) sein. Ein Umsturz oder Machtwechsel kann durch Wegfall des repressiven Systems eine derartige erhebliche Änderung darstellen (siehe hier, Rn. 29 und hier) Dennoch ist der Ausgang der Situation aktuell noch komplett ungewiss sodass das weitere Tatbestandsmerkmalschon rein begriffslogisch zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht erfüllt sein kann. Dauerhaftigkeit liegt nur vor, wenn ein Akteur auftritt, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (BVerwG, NVwZ 2011, 944 Rn. 17). Gerade dies bleibt abzuwarten. Dabei handelt es sich bei dem Widerrufsverfahren genau wie bei der Zuerkennung um eine einzelfallbezogene Prüfung (zu der zu erwartenden Überlastung von Behörden und Gerichten siehe auch Thym).
Widerruf ist nicht gleich Widerruf
Doch auch an dieser Stelle würde ein entsprechendes Widerrufsverfahren noch nicht dazu führen, dass eine Person mit Schutzstatus das Bleiberecht verlöre. Hinzu kommt ein weiterer Verwaltungsakt auf zweiter Stufe, die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG, die wiederum im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde nach § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG widerrufen werden kann. Vorstöße, dass eine Änderung des § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG dahingehend lauten könnte, dass bei Widerruf nach § 73 AsylG auch automatisch der darauf basierende Aufenthaltstitel erlischt, berücksichtigen in keiner Weise die Integrationsleistungen von Geflüchteten. Dass es sich bei der Widerrufsprüfung der Ausländerbehörde um eine Ermessensentscheidung handelt, hat dabei gute Gründe.
Zwar kommt dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft in der Abwägung unter § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonderes Gewicht zu, dennoch müssen stets die individuellen Interessen der betroffenen Person berücksichtigt werden. Dazu gehören die wirtschaftliche und soziale Integration, Vertrauensschutz und auch Grundrechtspositionen, wie zum Beispiel der Fortbestand der familiären Gemeinschaft über Art. 6 GG. Da bei einer etwaigen Widerrufsentscheidung tiefgehend in den Rechtskreis der Betroffenen eingegriffen wird, muss schon allein vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig abgewogen werden. Ein Automatismus ohne Einzelfallsensibilität wird dem nicht gerecht.
Gerade auch die individuelle Integrationsleistung zieht sich durch eine Vielzahl von Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes. Zuletzt umgesetzte Vorhaben wie das Chancenaufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG zeigen, dass das Aufenthaltsrecht gerade bei der Titelerteilung Integrationsleistungen berücksichtigt. Konsequenterweise sollte diese Wertung dann auch in den Widerrufstatbeständen spiegelbildlich Anwendung finden. Laut Rechtsprechung sollen auch nachhaltige Bemühungen der Integration Berücksichtigung finden, selbst wenn diese noch nicht vollständig zum Erfolg geführt haben (VGH Mannheim, ZAR 2006, 414ff.). Instruktiv dürften auch die Berliner Verwaltungsvorschriften (Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin) sein, wonach bei Inhaber:innen einer Niederlassungserlaubnis das Ermessen grundsätzlich zugunsten der Betroffenen auszuüben sei. Dies gelte auch für diejenigen, die noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind. Des Weiteren soll die Ermessensausübung dann beschränkt werden, wenn ein Anspruch auf andere Titel vorliegt (zum Beispiel diejenige aus dem Abschnitt „Aufenthalt aus familiären Gründen“, siehe hier).
Schließlich kommt hinzu, dass es allen Inhaber:innen einer Aufenthaltserlaubnis jederzeit möglich ist, bei Vorliegen der Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltstitels den sogenannten „Spurwechsel“ zu vollziehen und einen entsprechenden Antrag zu stellen. Nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums während des Aufenthalts und anschließender Berufstätigkeit kommen etwa § 18a oder § 18b AufenthG in Betracht. Rechtliche Sicherheit im Sinne einer sich verfestigenden Bleibeperspektive verschafft auch der Umstand, dass mehrere Aufenthaltstitel nebeneinander beantragt und nebeneinander erteilt werden können (siehe hier).
Kernbegriff „Einzelfallprüfung“
Abschließend lässt sich festhalten: Ein allgemeiner Stopp des Verfahrens wird den Bedarfen von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten nicht gerecht. Jede Anerkennungsprüfung und auch jeder mögliche Widerruf bleibt eine einzelfallbezogene Prüfung. Umfassend sowohl das Schicksal und die Beweggründe des Individuums als auch die Situation im Herkunftsland in den Blick zu nehmen lässt sich nicht pauschalisieren. Gerade bei der ungewissen Lage in Syrien sollte regelmäßig reevaluiert werden, ob die Verfahren nicht weiterzuführen sind. Bei Gruppen, für die der Tatbestand des § 73 AslyG nicht erfüllt ist, weil ihnen auch unabhängig vom Machtwechsel weiter Gefahr droht, sollte bereits jetzt das Verfahren wieder aufgenommen werden. Hier steht der Verfahrensstopp im Widerspruch zu den Bedarfen besonders Schutzbedürftiger. Darüber hinaus steht anerkannten Geflüchteten rein aufenthaltsrechtlich mehr Handlungsspielraum zur Verfestigung des Bleiberechts zu, als man dies vielleicht vermuten würde. Unabhängig von Stadium des Asylverfahrens oder weitergehenden Debatten um eine Rückkehr lautet der Kernbegriff im Aufenthaltsrecht stets „Einzelfallprüfung“.