Nicht um jeden Preis
Verhältnismäßigkeit als Grenze des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts
Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten prägen unsere Gegenwart. Für viele symbolisieren sie die Auflösung der internationalen Rechtsordnung. Angesichts der Handlungsunfähigkeit des UN Sicherheitsrates erstarkt dabei das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 SVN mit seinen Schranken der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zum entscheidenden Maßstab für die Einhegung militärischer Gewalt. Was als Ausnahme vom UN Friedenssicherungssystem gedacht war, erwächst gegenwärtig zur Regel. An die Stelle des zentralisierten Systems kollektiver Sicherheit tritt ein dezentralisiertes Netz bi- und multilateraler Beziehungen, in dem die Bedrohungswahrnehmung des angegriffenen Staates über die erste Reaktion entscheidet. So wird die Wirksamkeit der Maßnahmen anderer Staaten schon dadurch geschwächt, dass sie einem fait accompli begegnen müssen. Zugleich treffen bei den Bewertungen in der Staatenwelt, dem öffentlichen, aber auch dem wissenschaftlichen Diskurs polarisierte Wahrnehmungen aufeinander, die es zunehmend erschweren, in rechtlich determinierten Kommunikationsprozessen zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen.
Kann der unbestimmte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in einem solchen dezentralen Rechtssystem überhaupt Steuerungswirkung entfalten? Daran lassen aktuelle Fragen zweifeln: Darf die Ukraine russisches Gebiet besetzen oder militärische Ziele auch weit entfernt von der Grenzregion angreifen? Hat Israel im Konflikt mit der Hamas aufgrund hoher Opferzahlen und immenser weiterer Schäden sein Selbstverteidigungsrecht eingebüßt (wobei bereits die grundsätzliche Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts in diesem Konflikt rechtlich umstritten ist)? Wer kann sich in den wiederholten Eskalationen zwischen Israel, dem Iran und der Hisbollah auf das Selbstverteidigungsrecht berufen? Anknüpfungspunkt für die Beantwortung dieser Fragen ist die gewohnheitsrechtlich verankerte Anforderung, dass Selbstverteidigungshandlungen gegen einen bewaffneten Angriff erforderlich und verhältnismäßig sein müssen (ICJ, para. 176).
Erforderlichkeit der Selbstverteidigungshandlung
Eine Selbstverteidigungshandlung ist erforderlich, wenn sie der Abwehr eines bewaffneten Angriffs dient und es hierfür „kein milderes, gleichwirksames Mittel“ gibt.1) Umstritten ist bereits, wie das Ziel der Abwehr des bewaffneten Angriffs zu verstehen ist. Geht es darum, einen Angriff zum Stillstand zu bringen und abzuwehren (Greenwood, para. 27) oder sind auch weitere unmittelbar bevorstehende Angriffe oder gar Interessen der Abschreckung oder Bestrafung erfasst? Da die territoriale Souveränität nachhaltig wiederhergestellt werden soll, bedeutet die Abwehr eines Angriffs im Einklang mit der Caroline Formel auch die Abwehr unmittelbar bevorstehender weiterer Angriffe. Alle Maßnahmen aber, die in erster Linie (Aust, Rn. 67) auf Abschreckung, Vergeltung, oder Rechtsdurchsetzung zielen, verlassen den begrifflichen und funktionalen Rahmen von Verteidigung (Tams, 379). Sie sind weder in der Staatenpraxis akzeptiert noch im dezentralen Rechtssystem praktikabel, weil etwa eine Einschätzung über erforderliche Abschreckung nicht mehr hinreichend auf öffentlich zugängliche Fakten gegründet werden kann. Damit wird das Kriterium der Erforderlichkeit zum zentralen Instrument, einen Missbrauch des Selbstverteidigungsrechts auszuschließen.
Daher sind die iranischen Luftangriffe auf Israel vom 1. Oktober 2024 nicht durch ein etwaiges Selbstverteidigungsrecht in Antwort auf die Tötung eines Hamasführers im Iran oder des Führers der Hisbollah im Libanon gerechtfertigt: Bereits die Erklärungen des Iran lassen einen Vergeltungscharakter erkennen. Zudem fehlt es an dem erforderlichen zeitlichen Zusammenhang (ICJ, para. 237) zwischen den Tötungen auf iranischem Boden und dem Vergeltungsschlag. Für eine kollektive Selbstverteidigung des Libanon mangelt es u.a. an einer formalen, öffentlich zugänglichen Bitte um Unterstützung. Im dezentralen Rechtssystem muss die Berufung auf ein kollektives Selbstverteidigungsrecht anhand offen nachvollziehbarer Merkmale überprüfbar sein.
Wie steht es demgegenüber mit den israelischen Luftschlägen gegen militärische Einrichtungen im Iran vom 25. Oktober 2024? Während die USA die Luftschläge in einer Erklärung als „proportionate self-defence response“ qualifiziert haben, sprachen Malaysia, Saudi-Arabien und die Türkei von einer Verletzung der iranischen Souveränität. Letztlich zeigt sich, dass in einem Rechtssystem ohne zentrale Letztentscheidungsinstanzen das Erforderlichkeitskriterium nur eingeschränkte Steuerungsfähigkeit entfaltet. Denn die Zulässigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen zur Abwehr eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs begünstigt die Eskalationslogik und eröffnet dem Argument Raum, dass der jeweils letzte Angriff ein Nachweis für eine unmittelbare Bedrohung ist, die eine erneute Selbstverteidigungshandlung rechtfertigt. Die Verständigung zu einem Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon vom 27. November 2024 scheint die Eskalationsspirale für den Moment unterbrochen zu haben.
Abgrenzung Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigungshandlung
Zu einer besseren Operationalisierung der Kriterien muss die Erforderlichkeit von der Verhältnismäßigkeit abgegrenzt werden. Vereinfachend gesagt beschreibt die Erforderlichkeit das „ob“ einer Verteidigungshandlung, die Verhältnismäßigkeit das „Wie“.2) Im ersten Fall geht es um einen Vergleich zwischen der gewaltsamen Selbstverteidigung und möglichen nicht-gewaltsamen oder im Falle der taktischen Erforderlichkeit weniger gewaltsamen Alternativen. Taktische Erforderlichkeit richtet sich dabei auf die konkrete Zielauswahl, während die strategische Erforderlichkeit die grundsätzliche Entscheidung für eine Anwendung militärischer Gewalt erfasst (Aust, Rn. 66). Gerade im Hinblick auf die taktische Erforderlichkeit ist die Abgrenzung zur Verhältnismäßigkeit nicht trennscharf (Kreß, 587; Luban/Cohen, 168). Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit zielt nämlich auf die gleichgelagerte Frage, ob die erforderliche Selbstverteidigung unverhältnismäßige Auswirkungen zeitigt. In welchem Umfang und Ausmaß darf der betroffene Staat auf den bewaffneten Angriff antworten?3)
Um die Auswirkungen der Ersteinschätzung durch den angegriffenen Staat aufzufangen, legt der IGH im Hinblick auf die Erforderlichkeit einen strengen Maßstab an, wonach dem Staat kein Ermessensspielraum zukommt (ICJ, para. 73). Das damit verbundene Risiko für den angegriffenen Staat wird insofern kompensiert, als dass die strategische Erforderlichkeit in der Regel anzunehmen ist, da die Schwelle des bewaffneten Angriffs sehr hoch ist (Tams, 381).
Diese knappe Zusammenfassung ist bereits das Ergebnis einer Reduktion von Komplexität, nämlich der Komplexität erheblicher Auslegungsunsicherheiten, die sich in zweifacher Weise verstärken: durch vorherrschende Wahrnehmungen der sich ändernden Formen der Konfliktführung und methodische Eigenheiten der dezentralen Rechtsordnung.
Perzeption und Interpretation
Die Interpretation von Art. 51 SVN ist von zwei unterschiedlichen Vorverständnissen geprägt. Einerseits scheint in den Auslegungen die Vorstellung eines „totalen Krieges“ im Clausewitzschen Sinne durch (vgl. Lieblich, 54ff.), die durch das Referenzbeispiel der beiden Weltkriege beeinflusst ist: Selbstverteidigung als extreme Ausnahmesituation, in der es um den staatlichen Bestand geht. Dem steht eine Wahrnehmung gegenüber, die durch die Debatten um die militärische Bekämpfung nicht-staatlicher Gewaltakteure geprägt ist (O’Meara, 1-4). Hier vermögen einzelne Militärschläge zwar die Schwelle des bewaffneten Angriffs zu erreichen, stellen aber in der Regel nicht die staatliche Selbsterhaltung in Frage. Es liegt nahe, dass die strengen Anforderungen an Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, die aus guten Gründen für die Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure formuliert worden sind, nun Behauptungen befördern, Art. 51 SVN verlange auch weiterreichende Beschränkungen bei Selbstverteidigungshandlungen gegen einen bewaffneten staatlichen Angriff (s.a. Luban/Cohen, 161; a.A.: Dinstein, Rn. 742/743/749), wie in der Ukraine.
Räumliche Beschränkungen hat der IGH im Armed Activities Case zwischen der DRC und Uganda bei der Abwehr von Angriffen nicht-staatlicher Gewaltakteure formuliert. Die Einnahme von Flughäfen und Städten hunderte von Kilometern von der ugandischen Grenze entfernt stand danach weder in einem angemessenen Verhältnis zu den Angriffen noch schien sie zu diesem Zweck erforderlich (para. 147). Derartige Feststellungen lassen sich angesichts der Kontextgebundenheit von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit aber nicht generalisieren. Ausschlaggebend sind vielmehr die Bedingungen des jeweiligen Konflikts. Die Feststellung des IGH ist durch den regional begrenzten Charakter des Konflikts bestimmt, in dem bewaffnete Gruppen einzelne Dörfer, Städte und Schulen angegriffen haben. In der Ukraine steht demgegenüber die Existenz des Staates auf dem Spiel, der von Stützpunkten auf russischem Gebiet u.a. mit Marschflugkörpern und Iskander-Raketen mit einer Reichweite von 500 km angegriffen wird. Hier erscheint das Bombardement von Stützpunkten in weiter entfernten Regionen sowie die Errichtung einer Pufferzone im angrenzenden russischen Staatsgebiet als eine erforderliche und verhältnismäßige Maßnahme.
Wahrnehmungen über vorherrschende Konfliktformen prägen auch den Streit, ob die Anforderungen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit über den gesamten Zeitraum der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gelten. Vor allem laut der älteren Literatur beschreiben beide Anforderungen nur eine Schwelle für das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage, sind aber irrelevant, sobald diese Lage besteht (Dinstein, S. 281ff.). Hier scheinen die beiden Weltkriege auf, in denen das Recht, die staatliche Existenz zu verteidigen, den Gedanken befördert hat, dass in einem solchen „totalen Krieg“ auch erheblichster Schaden keine Auswirkungen auf das ius ad bellum zeitigt. Diese Wahrnehmung wird aber den Bedingungen moderner Konflikte nicht gerecht, die sich oftmals als langandauernde Konflikte darstellen, in denen Gewalt auf- und abebbt und sich Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen fortwährend ändern können (Luban/Cohen, 170-173). Daher berücksichtigt die überwiegende Ansicht heute beide Anforderungen auch im weiteren Konfliktverlauf (Aust, Rn. 72; Luban/Cohen, 161/171), was der IGH (para. 253) in der Gutachtenentscheidung von 2024 zu den besetzen palästinensischen Gebieten bestätigt hat (s.a. Declaration Charlesworth, paras. 26f.).
Methode und Interpretation
Eine weitere Schwierigkeit bei der Auslegung von Art. 51 SVN folgt aus methodischen Eigenheiten des dezentralen Rechtssystems. Bislang hat der IGH nämlich nur in sechs Fällen Feststellungen zu Art. 51 SVN getroffen. In keinem der Urteile waren die Ausführungen zu Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entscheidungserheblich. Zudem ist die Rechtsprechung einzelfallorientiert und kaum in dogmatische Herleitungen eingebettet (O’Meara, 4-5). Daher finden sich keine fixierten Fallgruppen, die eine Anwendung der Standards auf den Einzelfall erleichterten (Tams, 389f.), so dass auch unklar ist, zu welcher Größe die Selbstverteidigungshandlung in Bezug gesetzt werden muss.
Laut IGH (Nicaragua, para. 237; Oil Platforms, para. 77) geht es um das Verhältnis von Umfang und Auswirkungen des bewaffneten Angriffs zu Umfang und Auswirkung der Selbstverteidigungsmaßnahmen. Da diese Abwägung an das Talionsprinzip erinnert (Luban/Cohen, 169), befürchten andere Stimmen eine Bevorzugung des Angreifers (Aust, Rn. 69) und fordern eine Abwägung, die die schädigenden Auswirkungen der Selbstverteidigung in Bezug zu ihren legitimen Zielen setzt (ILA Report 2018, 12). Versteht man den ersten Ansatz als Exzessverbot – die Reaktion des Verteidigers ist nur unverhältnismäßig, wenn sie im Verhältnis zum Angriff einen Exzess darstellt (Kreß, 590) – und stellt auch die noch unmittelbar zu befürchtenden Schäden ein, droht jedenfalls keine unangemessene Bevorzugung des Angreifers. Zumindest ist dieser Standard in einem dezentralen System für die Zwecke der Beurteilung insofern geeigneter, als dass er enger an der Tatsachenlage orientiert ist.
Durchbrechung von Eskalationsspiralen
In beiden Auslegungen bietet das Verhältnismäßigkeitserfordernis Potential, Eskalationsspiralen zu durchbrechen. Denn in die Gleichung sind in beiden Lesarten erhebliche Schäden einzustellen, die im angreifenden Staat durch die Selbstverteidigungsmaßnahmen verursacht werden (Chatham House Principle 5). Diese Abwägung erlaubt es, eine Gesamtbeurteilung des Konfliktes zu Opferzahlen und weiteren Schäden durchzuführen, die selbst das humanitäre Völkerrecht nicht ermöglicht, weil es jeweils auf die Auswirkungen der konkreten militärischen Maßnahme fokussiert (Luban/Cohen, 162). Hieraus folgt die für den Gazakonflikt entscheidende Frage: Können Selbstverteidigungsmaßnahmen, selbst wenn sie im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht stehen, dennoch aufgrund ihrer Wirkungen und ihres Ausmaßes Selbstverteidigung unverhältnismäßig machen und welche Rechtsfolgen ergeben sich daraus?
Weite Teile der Staatenwelt und zahlreiche Stimmen im internationalen akademischen Diskurs (z.B. Basalalli/Singh; Combe; Eboe-Osuji; Haque; Heinze, 81f.; Milanovic; Ulfstein) bezweifeln die Verhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens. Z.B. Irland hat bereits im Januar 2024 die israelischen Selbstverteidigungsmaßnahmen für unverhältnismäßig erklärt. Die Beurteilungen dazu mögen auseinanderfallen. Auf jeden Fall erfordert die Abwägung jedoch, beide Seiten in den Blick zu nehmen. Das sind einerseits die schweren Verluste, die Israel erlitten hat, sowie die unmittelbar drohenden Verluste, die ohne die Zerschlagung der militärischen Strukturen der Hamas zu befürchten (gewesen) sind. Das sind andererseits aber auch die hohen Opferzahlen und die weiteren erheblichen Zerstörungen in Gaza.4)
Welche Folgen zeitigt es, wenn die Abwehr eines bewaffneten Angriffs nicht verhältnismäßig ist? Schlagen solche militärischen Kampagnen selber in einen bewaffneten Angriff um, der seinerseits das Selbstverteidigungsrecht des ursprünglichen Angreifers auszulösen vermag? Gilt das Verhältnismäßigkeitserfordernis während des gesamten Konflikts, erscheint es konsequent, eine unverhältnismäßige Selbstverteidigung ihrerseits nach den konkreten Umständen als bewaffneten Angriff zu qualifizieren, was sich mäßigend auf den sich verteidigenden Staat auswirken mag. Umstritten ist allerdings, ob die Rechtsprechung des Nürnberger Tribunals im Wilhelmstraßenprozess, wonach es „keine Selbstverteidigung gegen Selbstverteidigung geben kann“, dieser Interpretation entgegensteht. Denn einerseits mag man die Aussage als „keine (erlaubte) Selbstverteidigung gegen (erlaubte) Selbstverteidigung“ verstehen. Andererseits nahm die herrschende Meinung zu dieser Zeit ohnehin nicht an, dass Verhältnismäßigkeitsanforderungen während des gesamten Konflikts gegolten hätten (Dinstein, Rn. 749), so dass sich die Frage nach den Rechtsfolgen einer Verletzung auch nicht gestellt hat. Jedenfalls vermag eine solche Spirale der Selbstverteidigung die ohnehin kaum einzuhegende Spirale der Eskalation weiter voranzutreiben.
Eine deeskalierende Wirkung kann sich vielmehr aus den eigentlichen Rechtsfolgen einer Verletzung völkerrechtlicher Normen ergeben: Führt die Selbstverteidigung zu ganz erheblichen Schäden beim Angreifer, muss der sich verteidigende Staat hinreichend belastbare Nachweise der Angemessenheit seiner Maßnahmen erbringen (Tams, 391). Es geht damit um Konsequenzen für die Argumentations- und Beweislast. Ist der Nachweis unmöglich, muss der sich verteidigende Staat den Rechtsverstoß beenden, muss nach den Umständen des Einzelfalls, seine Kriegsführung und ihre Zielsetzungen ändern oder ggf. sogar einem Waffenstillstand zustimmen.
References