Wahllos im Ausland
Auslandswahlkreise als Lösung für die Wahlteilnahme der Auslandsdeutschen?
Am kommenden Sonntag findet die vorgezogene Bundestagswahl statt. Eine bedeutende Wahl, bei der schon wenige Stimmen einen entscheidenden Unterschied machen könnten. Doch zahlreiche Stimmzettel von im Ausland lebenden Deutschen werden nicht rechtzeitig ankommen. Ebenso wie Berichte über frustrierte Wählerinnen und Wähler kursieren inzwischen vermehrt Vorschläge, wie sich dieser Zustand beheben ließe. Diskutiert wird dabei unter anderem die Einführung von Auslandswahlkreisen. Auslandswahlkreise lösen jedoch keineswegs alle Probleme und schaffen zahlreiche neue. Die Teilnahme an Wahlen von im Ausland lebenden Deutschen kann und muss verbessert werden, doch hierfür ist an anderer Stelle anzusetzen.
Wer sind die Deutschen im Ausland und wie viele sind es?
Zu unterscheiden sind zunächst zwei Gruppen: Auf der einen Seite stehen Deutsche im Ausland, die in Deutschland gemeldet sind und sich beispielsweise im Urlaub befinden. Sie sind zwar ebenso von möglichen Verzögerungen bei der Briefwahl betroffen, da auch sie sich die Briefwahlunterlagen ins Ausland schicken lassen müssten. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich ein nicht unerheblicher Teil dieser Personen die Unterlagen an die deutsche Meldeadresse schicken lässt und dort von jemand anderem ausfüllen lässt. Dies ist jedoch nicht erlaubt. Ein Stellvertreterwahlrecht, wie etwa in Frankreich, kennt das deutsche Wahlrecht nicht (vgl. explizit § 14 Abs. 4 S. 2 BWahlG).
Die zweite Gruppe sind diejenigen Deutschen, die nicht mehr in Deutschland gemeldet sind, die sog. Auslandsdeutschen. Wie viele Personen dieser Gruppe es gibt, ist nicht bekannt, da sich diese nirgendwo melden müssen. Ihre Zahl wird auf rund drei Millionen geschätzt. Auslandsdeutsche sind im Grundsatz nicht wahlberechtigt, es sei denn, sie erfüllen eine der Ausnahmen des § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG. Gem. Nr. 1 der Norm ist wahlberechtigt, wer bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten hat und wenn dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegt; nach Nr. 2, wer bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik erworben hat und von ihnen betroffen ist. Die heutige, nicht unumstrittene, Rechtslage beruht auf einer Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012.
Anders als in Deutschland gemeldete Personen stehen die Auslandsdeutschen nicht automatisch im Wählerverzeichnis. Sie mussten sich gem. § 16 Abs. 2 Nr. 2 BWO zunächst in dieses eintragen lassen, Antragsfrist hierfür war der 2. Februar 2025. Trotz berechtigter Kritik an der deutschen Verwaltung hat sich insoweit 2024 eine erhebliche Vereinfachung ergeben: Wer nach § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BWahlG wahlberechtigt ist, darf den Antrag auf Eintragung in das Wählerverzeichnis seit einer Änderung der Bundeswahlordnung auch elektronisch übermitteln (vgl. § 18 Abs. 1, Abs. 4 S. 2 BWO). Dies könnte ein Grund dafür sein, dass sich für die Wahl 2025 so viele Auslandsdeutsche wie noch nie in das Wählerverzeichnis haben eintragen lassen. Stand 19.02.2024 waren dies 210.000 Personen, wobei Nachmeldungen noch möglich sind – ein Anstieg um 60 % im Vergleich zu 2021. Die im Ausland lebenden Deutschen werden einem Wahlkreis im Inland zugeordnet und haben Erst- und Zweitstimme. Der Wahlkreis ist im Normalfall derjenige der letzten Meldeadresse in Deutschland. Für die Auslandsdeutschen steht nur die Briefwahl für die Wahlteilnahme zur Verfügung. Theoretisch ist es außerdem möglich, mit dem Wahlschein in Person im Wahllokal des Wahlkreises zu wählen (§ 14 Abs. 3 b) BWahlG). Einige Auslandsdeutsche, die die Briefwahlunterlagen zu spät erhalten haben, setzen sich angeblich nun ins Flugzeug, um doch noch ihre Stimme abgeben zu können.
Dass es extrem knapp werden wird, war absehbar. Aufgrund der auf § 52 Abs. 3 BWahlG beruhenden Rechtsverordnung des Bundesinnenministeriums wurden zahlreiche Fristen stark verkürzt. So wurde die Frist, bis wann über Einsprüche gegen die Zulassung der Landeslisten entschieden werden muss, von zweiundfünfzig Tagen vor der Wahl (vgl. § 28 Abs. 2 S. 5 BWahlG) durch die Rechtsverordnung auf vierundzwanzig Tage verkürzt. Erst danach konnten die Stimmzettel gedruckt werden, was dazu führte, dass die Stimmzettel in einigen Bundesländern erst ab dem 10. Februar versendet wurden. Die Botschaften und Konsulate boten zwar an, den Kurierweg mit zu nutzen, was aber in vielen Fällen nicht geholfen zu haben scheint. Wie viele Wahlunterlagen zu spät ankommen werden, ist nicht bekannt. Die Bundeswahlleiterin sagte der F.A.Z. auf Anfrage, sie habe „leider keine Erkenntnisse“, wie viele Wahlberechtigte keine Wahlunterlagen erhalten hätten. Auch die Zahlen der bei den Wahlämtern zu spät ankommenden Stimmzettel wird wohl unbekannt bleiben. Die Gemeindebehörden erheben, so jedenfalls Stand 2010, keine Daten darüber, wie viele Stimmzettel verspätet eingehen (vgl. BT Drs. 12/1883 S. 7).
Auslandswahlkreise als Lösung?
Welche Alternativen gäbe es? Der Landeswahlleiter von Berlin hat eine Verlängerung von 60 auf 90 Tagen zwischen Auflösung des Bundestages und der Neuwahl vorgeschlagen. Das würde sicherlich für eine Verbesserung sorgen. Aber gibt es auch Möglichkeiten ohne diese Verlängerung? In solchen Fällen kann ein Blick ins Ausland helfen, wie er auch auf dem Verfassungsblog unlängst vorgenommen wurde. Eine Idee ist die Einführung von Auslandswahlkreisen, wie es sie in Frankreich oder Italien bereits gibt. Die Idee ist nicht neu, sie wurde auch bereits von der Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit diskutiert (S. 56) und war auch schon Gegenstand politischer Forderungen. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der vorgezogenen Bundestagswahl werden sie erneut vorgeschlagen und von Medien aufgegriffen. So schlägt etwa ein Spiegel-Artikel vor: „Dabei könnten wir einfach das System der Franzosen kopieren.“ Gemeint ist die Abstimmung in Auslandsvertretungen und die Einführung von Auslandswahlkreisen. Auslandswahlkreise seien „problemlos auch in Deutschland möglich“. Aber ist es wirklich so einfach und welche Vorteile würde es bringen?
Für Auslandswahlkreise werden zwei Argumente vorgebracht: Erstens, eine verbesserte Interessenrepräsentation der Auslandsdeutschen. Zweitens, die Ermöglichung einer Urnenwahl in deutschen Auslandsvertretungen. Denn die Begründung der Bundeswahlleiterin gegen die Einführung einer Abstimmung in den deutschen Auslandsvertretungen lautet unter anderem, dass aufgrund der Zuweisung der Auslandsdeutschen zu den Wahlkreisen in Deutschland jedes Wahllokal in den Auslandsvertretungen genügend Stimmzettel aller 299 Wahlkreise bereithalten müsste, was ein unverhältnismäßig hoher Aufwand wäre. Auslandswahlkreise könnten dieses Problem lösen.
Hierbei stellen sich jedoch mehrere Probleme. Die französischen Regelungen können nicht einfach auf Deutschland übertragen werden: Erstens bleibt unklar, wie die Auslandswahlkreise zugeschnitten werden sollten. So wird in einem Interview gefordert, aufgrund der drei bis vier Millionen Deutschen im Ausland fünf bis sechs Auslandswahlkreise zu bilden. Wie genau man auf diese Anzahl der Auslandswahlkreise kommt, bleibt unklar. Die wohl zugrunde gelegten drei bis vier Millionen sind aber lediglich eine Schätzung und einberechnet sind auch Deutsche, für die § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG nicht greift und die daher gar nicht wahlberechtigt sind. Auch einberechnet werden Deutsche, die zwar dauerhaft im Ausland leben, aber unerlaubterweise in Deutschland gemeldet bleiben und damit doppelt verwertet würden. Eine valide Größe für die Bildung der Auslandswahlkreise wären damit nur die im Wählerverzeichnis eingetragenen Auslandsdeutschen. Dabei stellt sich jedoch das Problem, dass diese Zahl erstens schwankt und sich zweitens bei 210.000 Eintragungen (2025) nicht einmal ein Auslandswahlkreis ergäbe (in Deutschland entspricht ein Wahlkreis 240.000 Staatsangehörigen). Zwar ließe sich argumentieren, dass durch die Wahlrechtsreform die Bedeutung der Wahlkreise erheblich geschwächt wurde und man daher die Auslandswahlkreise auch großzügiger bilden könnte. Diese sollten aber dennoch jeweils aus ähnlich vielen Staatsangehörigen pro Wahlkreis bestehen – unabhängig davon, ob sie sich im In- oder Ausland befinden.
In Frankreich sind dagegen über 1,7 Millionen Menschen im Registre des Français établis hors de France und über 1,6 Millionen Menschen auf der Liste électorale consulaire (LEC) eingetragen (Stand 1. Januar 2025), sodass die darauf beruhenden Wahlkreise in etwa mit denen in Frankreich vergleichbar sind. Die französischen Auslandswahlkreise weisen jedoch immense geografische Unterschiede auf: in Asien leben beispielsweise vergleichsweise wenige Französinnen und Franzosen, in den Benelux Staaten dagegen sehr viele. In Deutschland bestünde dieses Problem genauso. Von den Eintragungen in das Wählerverzeichnis 2021 waren 85,2 % aus Europa (EU und Nicht-EU) und nur 1,2 % aus Afrika.
Selbst wenn man trotz dieser Schwierigkeiten Auslandswahlkreise einführen würde, sind zwei weitere Aspekte zu bedenken, die Deutschland von Frankreich unterscheiden und dazu führen, dass die französischen Regelungen gerade nicht einfach kopiert werden können: Deutschland hat anders als Frankreich kein reines Mehrheitswahlrecht, sondern ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Die Zweitstimmen sind dabei nicht nur für die endgültige Sitzverteilung, sondern auch für die Landeslisten von Bedeutung. Denkbar wäre, diese an ein deutsches Bundesland anzuknüpfen, ausgehend vom letzten Meldewohnsitz in Deutschland und ansonsten dem Bundesland der engsten Verbundenheit. Der Aspekt wird in jedem Fall bisher vernachlässigt.
Der zweite Punkt, der bei einem Vergleich mit Frankreich zu bedenken ist: Frankreich sieht nicht nur die Möglichkeit der Urnenwahl in den Auslandswahlkreisen vor, sondern zudem die Wahl per Stellvertretung und bei den Parlamentswahlen für die Auslandsfranzösinnen und – franzosen sogar die Wahl per Internet. Ein zweites Argument der Bundeswahlleiterin gegen die Urnenwahl in Auslandsvertretungen ist nämlich, dass diese aufgrund weiter Fahrzeiten gar nicht unbedingt attraktiv sei. Damit hat sie einen Punkt: Nicht jede und jeder wohnt in der Nähe einer großen Stadt mit Auslandsvertretung. Anders als in Frankreich kann also nicht eine in der Hauptstadt lebende Person die Stimme per Stellvertretung mit abgeben. Parallel müsste man die Briefwahl demnach aufrechterhalten oder andere zusätzliche Wahlteilnahmemöglichkeiten schaffen. Daran würden auch Auslandswahlkreise nichts ändern.
Abgesehen davon gibt es für eine Urnenwahl weitere Hürden, die nicht mit den deutschen Wahlkreisen zusammenhängen, sondern mit der Durchführung der Wahl im Ausland (vgl. zu einigen Hürden hier, S. 6). Die Einführung von Auslandswahlkreisen würde somit keineswegs dazu führen, dass eine Urnenwahl in deutschen Auslandsvertretungen einfach durchgeführt werden könnte.
Und schließlich: Auch die Argumentation, Auslandswahlkreise einzuführen, um die Repräsentation der Auslandsdeutschen zu verbessern, ist mit Vorsicht zu genießen. Zwar ist es richtig, dass diese derzeit keine „Lobby“ haben mögen. Die Idee, Auslandswahlkreise zur Interessenrepräsentation von Auslandsdeutschen einzuführen, betritt jedoch ein verfassungsrechtliches Spannungsfeld. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Wahlrecht 2024 ausdrücklich klargestellt (Rn. 182): „Es wäre ohnehin verfehlt, Wahlkreisabgeordnete als Delegierte ihres Wahlkreises anzusehen.“
Fazit und Ausblick
Die Debatte um die verbesserte Wahlteilnahme der Deutschen im Ausland steht noch am Anfang. Verbesserungen sind nötig. Statt Auslandswahlkreise einzuführen, ließe sich der Wahlprozess aber vielmehr dadurch verbessern, dass die aus den jeweiligen deutschen Wahlkreisen benötigten Stimmzettel in den Auslandsvertretungen ausgedruckt (vgl. jüngst diese politische Forderung) und/oder dass die Stimmen in den Auslandsvertretungen ausgezählt werden und das Ergebnis sodann elektronisch nach Deutschland übermittelt wird. Die Einführung von Auslandswahlkreisen braucht es dafür nicht. Diese würden nur einen Teil der Probleme lösen und neue schaffen.
Wie wäre eine rein digitale Stimmabgabe verfassungsrechtlich zu beurteilen?