EU-Kommissionspräsident: Wen und was wollten wir eigentlich wählen?
„Wie haben wir gewählt? Aber haben wir wirklich gewählt – oder hat das Volk gewürfelt?“ Niklas Luhmanns Sarkasmus in der FAZ am 22.10.1994 betraf die Bundestagswahl jenes Jahres. Schwarz/Gelb hatte gegen Rot/Grün knapp obsiegt. Luhmanns Kommentar liest sich vergnüglich – und enthält Diagnosen von erstaunlicher Passgenauigkeit für das europäische Wahlereignis des Jahres 2014: Die Differenzen zwischen den beiden großen Blöcken seien geringfügig, und die Politik operiere selbstbezüglich, hat Luhmann geltend gemacht. Ein Grund hierfür sei der Umstand, „dass es der Politik nicht mehr gelingt, politische Fronten und Optionen an Differenzen auszurichten, die das Wirtschaftssystem vorgibt“. Das ist im Krisen-Europa nicht anders. Gewiss ist hier die Parteienlandschaft größer, auch viel unangenehmer, als in der Bundesrepublik des Jahre 1994. Aber auch diese Konkurrenz kann mit aussichtsreichen Alternativen etwa zum Umgang mit den Finanzmärkten nicht aufwarten.
Um was ging es bei der Wahl? Um Europa selbst, hieß es in einem zuerst in der Zeit vom 9. März 2014 abgedruckten, dann weit verbreiteten und ungemein prominent unterstützten Manifest (http://waehlt-europa.de/; http://vote4europe.eu). Neu sei nämlich: „Dieses Mal treten verschiedene Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten an, und mit ihnen stehen unterschiedliche Modelle für Europa zur Wahl.“ Der Auftritt von Spitzenkandidaten bedeute nichts Geringeres als einen „Quantensprung“.
Miguel Maduro, Bruno de Witte und Mattias Kumm, die das Projekt einer Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament und also mittelbar durch die EP-Wahl in einem Arbeitspapier des Europäischen Hochschulinstituts, Florenz über “The Euro-Crisis and the Democratic Governance of the Euro. Legal and Political Issues of a Fiscal Crisis” entwickelt und öffentlich beworben haben, hatten dies anders nuanciert. Da war von unterschiedlichen Modellen nicht die Rede. Es komme vielmehr darauf an, die politische Legitimation der Kommission zu stärken und damit deren Chancen zur effektiven Wahrnehmung ihrer neuen Aufgaben und Befugnisse im europäischen Krisenmanagement zu stärken. Die situative Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitik werde über den Wahlakt demokratisch abgesegnet, dadurch besser vermittel- und durchsetzbar. Demzufolge ging es also darum, eine demokratische Legitimation für denjenigen zu schaffen, der das in der Sache Notwendige vollziehen würde.
Ein solches Verständnis von den Spitzenkandidaturen hätte die Bürger Europas wohl kaum, die in der so genannten Peripherie gewiss nicht, für die EP-Wahl motivieren können. Insoweit war das Manifest nicht nur normativ ansprechender, sondern auch realistischer. Aber auch das Manifest hat die Spitzenkandidaten nicht zur Personalisierung seines Slogans nutzen können. Da gab es einmal das Programm eines „‘anderen Europas’, das den Markt demokratischen Regeln unterwirft“, für das SPE-Spitzenkandidat Martin Schulz stehen sollte. Für die politische Alternative eines „ ‘Weniger-Europas’, das vom Marktimperativ bestimmt wird“, musste das Manifest dann aber auf einen Politiker verweisen, der tatsächlich gar nicht zur Wahl stand, nämlich David Cameron. EVP-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker, der nun tatsächlich Kommissionspräsident wird, schien dem Manifest also beredter Weise für gar nichts zu stehen.
Diskrepanzen zwischen dem Policy-Paper der Professoren und dem Manifest der Prominenten gab es mithin. Aber der empfohlene Weg zur Veränderung war der gleiche: Man dürfe nicht warten auf die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit, europäischer Parteien, eine neue Wahlgesetzgebung, ein Umbau des institutionellen Gefüges von Rat, Kommission und Parlament. Eine bloße prozedurale Innovation, nämlich die intergouvernemental verabredeten Bestimmung des Kommissionspräsidenten durch die demokratische Auswahl aus parteipolitisch bestimmten Personalangeboten abzulösen, könne und solle tiefgreifende politische Veränderungen auf den Weg bringen. Der eher matte Verlauf des Wahlkampfs, in dem weithin wieder nur unter nationalen Vorzeichen gefochten wurde, die insgesamt nicht so strahlende Wahlbeteiligung, der Wahlerfolg EU-feindlicher Parteien hat diese Einschätzung nicht berührt. Europa werde „direkt ins Herz getroffen“, wenn man die Bindungswirkung des Wahlergebnisses nicht achte, erklärte Jürgen Habermas in einem Interview in der FAZ vom 30.5.2014. Außerhalb Deutschlands wird die Spitzenkandidaten-Frage selten so gesehen und bewertet.
In Deutschland orientiert sich die Diskussion augenscheinlich allem voran an der bundesdeutschen Verfassung. Dort entscheidet bekanntlich die Bundestagswahl auch über die Kanzlerschaft. Die Kenntnis dieses verfassungsrechtlichen Faktums genügt den meisten journalistischen Kommentatoren, um sich als kritische Kommentatoren der europäischen Gemengelage in die Brust zu werfen. „Soll denn Hannelore Kraft den nächsten Bundeskanzler aussuchen?“, ist ein typisches Beispiel für die geläufigen Pointierungen. Einher ging das meist mit einem Gestus demokratischer Empörung, zu dem sicherlich auch der Umstand ermutigen konnte, dass sich viele wissenschaftliche Beobachter als Zeugen einer institutionellen Auseinandersetzung nach dem Vorbild des preußischen Verfassungskonfliktes wähnen: demokratisches Parlament gegen nicht-demokratische Exekutive. Da ist es klar, auf welcher Seite man zu stehen hat.
Es wäre aber hilfreich, sich für einen Moment von diesem demokratischen Sendungs(selbst)bewusstsein frei zu machen, dann bekäme man die Dinge etwas besser in den Blick. Es hieß dieser Tage oft, die Bürger hätten Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten gewählt, und dieser Wille der Bürger dürfe nicht missachtet werden. Aber recht besehen stimmt das so gar nicht, und dafür muss man gerade nicht einmal den Umstand bemühen, dass die Spitzenkandidaten in vielen Ländern unsichtbar blieben. Die europäischen Parteien haben entschieden, für die Parlamentswahlen einen europäischen Spitzenkandidaten zu benennen. An dieser Entscheidung, die die Spannung zwischen Parlament und Europäischem Rat erst erzeugt hat, waren die Bürger Europas nicht beteiligt. Was hätte denn ein Bürger wählen sollen, der mit seiner Stimme zwar die Zusammensetzung des Parlaments, nicht aber den Kommissionspräsidenten bestimmen wollte? Diese Frage kann aber gar nicht erst erwogen werden, wenn die bundesstaatliche Verfassung der Bundesrepublik unreflektiert als Blaupause fungiert. Denn dort ist der Parlamentswahlkampf mit Spitzenkandidaturen natürlich bewährt und normativ richtig.
Die rhetorische Überhöhung des politischen Geländegewinns der europäischen Parteien und des Parlamentes im Verhältnis zum Europäischen Rat wäre sicherlich zu verschmerzen, wenn denn die eingeschlagene Richtung im Übrigen über jeden Zweifel erhaben wäre. Aber dies ist unseres Erachtens nicht der Fall. Das bekommt man allerdings erst in den Blick, wenn man den Vergleich mit der Verfassung der Bundesrepublik nicht nur so weit treibt, wie er in den eigenen Kram passt. Gegen den Vorschlag des eingangs zitierten Policy-Papers einer direkten Wahl des Kommissionspräsidenten haben wir seinerzeit generelle demokratische Bedenken gegen die Konzentration auf die Personalauswahl der Exekutivspitze deutlich gemacht, wenn die Instrumente der parlamentarischen Steuerung der Exekutive derart unterentwickelt bleiben wie sie es in Europa sind. Unser Einwand bleibt gültig: Die Auswahl des Kommissionspräsidenten durch ein Parlament, das anschließend das Handeln der Kommission nicht durch Gesetzgebungsinitiative und die Macht des Vertrauensentzugs steuern kann, ist eine drastisch kupierte Version demokratischer Verfassungsstaatlichkeit.
Darüber hinaus sind gerade aus der Perspektive des bundesstaatlichen Vergleichs die institutionelle Macht des Rates im Gesetzgebungsverfahren und dessen Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit von besonderem Gewicht. Am Wahlabend wähnten sich einige deutsche Parteivertreter augenscheinlich in einem zur bundesdeutschen Verfassung analogen Rahmen und äußerten die Erwartung, nun werde so etwas wie Koalitionsgespräche aufgenommen, um ein Regierungsprogramm auszuhandeln. Das hatte sich dann bald erledigt, weil eine Große Wahlkoalition unausweichlich war und bemerkenswerter Weise in dieser wohl nur noch zu verabreden war, welche Position Martin Schulz einnehmen könnte.
Aber davon unabhängig: Angenommen eine parlamentarische Koalition hätte vor der Wahl Junckers tatsächlich ein Kommissionsprogramm verabredet, und dieser wäre erstens tatsächlich willens, sich über die Zeit daran zu halten, und er wäre zweitens in der Lage, es in der Kommission durchzusetzen, obgleich er weder deren Mitglieder bestimmt noch eine Richtlinienkompetenz beanspruchen kann. Selbst dann bliebe die Politik der Juncker-Kommission doch strikt begrenzt auf die Kompromisslinien des Rates. Ohne qualifizierte Mehrheit im Rat kann die Kommission wenig ausrichten. Die maßgeblichen Vertreter im Rat indessen sind – anders als die Vertreter im Bundesrat, der zudem grundsätzlich mit einfacher Mehrheit entscheidet – Repräsentanten kompakter und untereinander konkurrierender Wohlfahrtsstaaten, die von ihren Wählern zu Recht sowohl für die gesellschaftliche Reproduktion als auch für den sozialen Ausgleich verantwortlich gemacht werden. Diese Repräsentanten sind nicht durch starke Parteien integriert, deren Machtzentrum auf der übergeordneten europäischen Ebene angesiedelt wäre. Wie der bundesdeutsche Fall zeigt, macht erst eine solche Parteiintegration den nachhaltigen Widerstand gegen die Politik der übergeordneten Ebene im Einzelfall außerordentlich anstrengend und auf Dauer gestellt schwer möglich. Demgegenüber ist auf europäischer Ebene den Ratsvertretern die Blockade der Kommissionspolitik ein Leichtes.
Die Vorwirkungen der institutionellen Stellung des Rates konnte man nun im Nachfeld der EP-Wahlen wunderbar beobachten. Wenn sich der Europäische Rat schon dem Kandidaten Juncker nicht entziehen konnte, weil vor allem in Deutschland die öffentliche Meinung und auch große Teile begleitender Wissenschaft nicht bereit sind, die Besonderheiten der Unionsverfassung und ihrer sozio-ökonomischen Grundlage zur Kenntnis zu nehmen, dann, so lautete die Kompromissformel Angela Merkels, nur gegen die Verabredung einer „strategischen Agenda“. Die Verhandlungen über ein Regierungsprogramm der Kommission fanden also im Europäischen Rat statt, nicht zwischen den Parteien, die alsbald den Kommissionpräsidenten parlamentarisch tragen wollen. Maßgebliches Gewicht hatten dabei mutmaßlich nicht diejenigen Regierungen, die mit Juncker ohnehin schon immer einverstanden waren, sondern diejenigen, die sich ihre Niederlage bezahlen lassen wollten, zuletzt vor allem Großbritannien. Aber auch unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung zeigt die erfolgreiche Aneignung des Vorschlagsrechts durch die europäischen Parteien vor allem diese Folge: Der Europäische Rat antwortet mit der öffentlichen Akzentuierung seiner aus der Unionsverfassung resultieren Gestaltungsprärogative – ein durchaus ironisches Resultat des versprochenen demokratischen Quantensprungs.
Vielleicht ist all das auch den Befürwortern der Spitzenkandidaturen nur zu gut bekannt. Sie widersprechen unserer Diagnose womöglich nicht, aber setzen darauf, dass sich der demokratische Anspruch des Europäischen Parlaments (hinter dem der demokratische Anspruch einer sich als europäisch verstehenden Bürgerschaft stehen möge) mittelfristig auch in der Unionsverfassung niederschlagen wird, um diese sodann nahe einen bundesstaatlichen Typus heran zu führen. Es sei zusammenfassend erinnert, was dies in etwa voraussetzt: Richtlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten, Berufung und Entlassung der Kommissionsmitglieder durch ihn, Gesetzgebungsinitiative des Parlaments, Wahlrechtsgleichheit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, Entscheidung im Rat durch einfache Mehrheit. (Nota bene: Wir nehmen an dieser Stelle gerade auf die Institutionen des Grundgesetzes nur zur Veranschaulichung Bezug. Selbstverständlich würden funktionale Äquivalente, die institutionell die demokratische Steuerung der Regierung seitens der parlamentarischen Mehrheit gewährleisten, völlig genügen). Hinzu treten müsste noch eine Integration der mitgliedstaatlichen Parteien in intern steuerungsmächtige europäische Parteien. Dies ist jedoch ein Strukturerfordernis, das sich durch eine Änderung des Unionsrechts nicht herbeiführen lässt. Entgegen verbreiteter Auffassung wird die erforderliche Parteiintegration gegenwärtig nicht durch eine unpassende Unionsverfassung behindert, sondern in erster Linie durch die realen Konfliktlinien zwischen den mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften. Die können die Parteien nicht voluntaristisch überschreiten, und sie haben sich in der Eurokrise zudem verfestigt und vertieft. (In diesem Licht erscheint Martin Schulz’ Slogan im Schlussspurt des Wahlkampfs „… damit ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden kann“ eigentlich ganz konsequent). Vor diesem Hintergrund wagen wir fortgesetzt zu fragen: Wie wird es um die Demokratie in Europa und um das Projekt europäischer Integration bestellt sein, wenn sich all diese Voraussetzungen nicht einstellen?
Für uns auffällig an diesem Punkt ist die Parallele zur Diskussion um die Verfassung der Währungsunion. Deren Funktionsimperative setzen bekanntlich die demokratische und soziale Verfassung in denjenigen Mitgliedstaaten unter Druck, die Haushaltsnotlagen und Wachstumsschwäche aufweisen. Es ist ebenfalls bekannt: Diesen Druck zu beseitigen erforderte entweder eine weitgehende Integration der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik, sowie eine Zentralisierung der Haushalte – oder aber eine gemeinschaftliche Aufhebung des Euro. Natürlich ist die Aufhebung des Euro keine politische Option („Scheitert der Euro, scheitert Europa“) – es erschiene als Rückschritt in der Integration und käme außerdem ziemlich teuer. Also muss es zu einem tiefgreifenden Integrationsschritt kommen. Aber, so fragen wir entsprechend: Wie wird es um die soziale und demokratische Substanz der mitgliedstaatlichen Verfassungen bestellt sein, wenn dieser Schritt dennoch ausbleibt? Die Parallele in beiden Diskussionssträngen ist freilich kein Zufall. Die Spitzenkandidaturen waren gerade auch als Antwort auf die Legitimationsprobleme der Krisenpolitik gedacht. Aber die Antwort behandelt ein Strukturproblem der Währungsunion (Stichwort: interne Wechselkursverzerrungen durch volkswirtschaftliche Ungleichgewichte) als formales Demokratieproblem. Und weil die unterliegende Diagnose falsch ist, ist es kein Wunder, dass die eigentlich problematische Struktur auch die Antwort, die Wahl des Kommissionspräsidenten, ins Leere laufen lässt.
Im Falle der Spitzenkandidaturen steht im Vergleich zur Währungsunion freilich weniger auf dem Spiel. Es geht bei den Spitzenkandidaturen wohl „nur“ um die Kapazität von Parlament und Kommission, den beschwerlichen Weg inkrementeller Kompromissbildung fortzusetzen, die durch die kupierte Politisierung der Bestimmung des Kommissionspräsidenten Schaden nehmen könnte. Darüber hinaus geht es ebenfalls „nur“ um eine weitere Enttäuschung über ein vollmundiges, aber am Ende leeres Versprechen zu den demokratischen und sozialen Potentialen der Union. Gleichwohl kann die Leere des Versprechens am Ende doch gefährlich werden, wenn und weil der neue Kommissionspräsident, wie immer man die Stärkung seiner Legitimation beurteilen mag, nicht ausrichten kann, was den Bürgern Europas angekündigt wurde. Sein Dilemma ist: Ein „anderes Europa“, in dem der Markt demokratisch erarbeiteten Regeln unterworfen würde, bleibt für ihn außer Reichweite. Eine effektivere Durchsetzung echter oder vermeintlicher Sachzwänge, wenn sie denn gelänge, wäre seiner Legitimität und der des europäischen Projekts abträglich. Ohnehin steht zu befürchten, dass Europas Neue Soziale Frage von den Gegnern des europäischen Projekts strategisch instrumentalisiert werden wird: Die dramatischen Asymmetrien zwischen Nord und Süd, die sich zuspitzenden Ungleichheiten im Innern der europäischen Gesellschaften, die damit verbundenen Ängste bieten hierfür den rechten Nährboden. Diesen Konfliktkonstellationen ist weder durch fassadendemokratische Inszenierung personeller Alternativen, noch durch Oktroi struktureller Reformen beizukommen. Vorstellbar ist deren Bewältigung ist nur auf dem Weg über meist kleinteilige politische Auseinandersetzungen und kollektive Lernprozesse, die dann auch in institutionellen Erneuerungen umgesetzt werden können. Schlichte Formeln von „Mehr Europa“, selbst wenn unterlegt mit einem Grundvertrauen in die Vernunft der Geschichte, sind kein tauglicher Ersatz für solche Prozesse.
Schöner Text.
Nur eines @”Eine effektivere Durchsetzung echter oder vermeintlicher Sachzwänge, wenn sie denn gelänge, wäre seiner Legitimität und der des europäischen Projekts abträglich.”: Das Wahre und Gute an Sachzwängen ist doch, dass diese sich ohnehin selbst durchsetzen!
Der Text berücksichtigt. wie schon die vorherige Debatte, nicht, dass das Parlament schon immer seine Position durch die normative Kraft des Faktischen – oder in anderen Worten durch Erpressung – ausgeweitet hat.
Der Wortlaut der Verträge bestimmt die Wirklichkeit eben nur begrenzt, seit das Parlament mit dem Budgetrecht ein Erpressungspotential in der Hand hat und auch nutzt. Von der Benennung des Kommissionspräsidenten bis zum de facto Initiativrecht hat das EP diese Möglichkeit in den letzten Jahren genutzt.
Das ist auch nicht spezifisch für das EP, vielmehr zieht sich Vergleichbares durch die Verfassungsgeschichte vieler Staaten in der Frühzeit ihrer demokratischen Ordnung.
@Marc: Sie haben eine gute Beobachtung gemacht! Wegen Ihrer Anregung habe ich den Text gerade noch einmal durchgesehen. Mir ist aufgefallen, dass auch die Fußballweltmeisterschaft gar nicht berücksichtigt ist!!!
Der Artikel verdient gelesen und kommentiert zu werden. Mit ihm wird der Zustand des unter-schiedlichen Verstehens von Europa ausführlich und verständlich beschrieben. Beschreibungen, mit denen der Zustand vorgestellt wird, sich vorstellen lässt, erkannt werden kann.
Erkennbar ist auch: die Frage wen oder was wollten wir eigentlich wählen, betrifft nicht nur den EU-Kommissionspräsidenten.
Diese Frage ist allerdings keine neue. Vielleicht gerade deshalb können nun auch die damaligen Fragen Niklas Luhmanns noch besser als sarkastisch verstanden werden. Denn auch heute noch wollen wir wählen, mit beliebigen Verstehen von dem, wovon wir auswählen sollen.
Eine Kritik zu dieser Auffassung liest sich so:
Wir hätten doch aus dem alternativen Angebot auswählen können (sollen), entweder Mehr-Europa oder Weniger-Europa, entweder Mitglieder aus der einen oder der anderen nationalen Parteien und entweder Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz.
Es wären doch konkrete Auswahlmöglichkeiten gewesen. Nicht nur Junker und Schulz seine vorstellbar, sondern mit ihrer Person auch, was mit Mehr-Europa oder Weniger-Europa vorstellbar sei.
Der Frage, wen oder was wollten wir eigentlich wählen, kann also die fehlende Antwort zugrunde liegen auf die Fragen: Warum und wofür wollen (sollen) wir wovon auswählen? Wieder Auswählen, obwohl bisher damit die Ursachen der Sachzwänge (der Krise) nicht verstanden und deren Auswirkungen trotz Auswählen bisher nicht beherrscht worden sind, die realen Konfliktlinien zwischen den mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften sich verfestigt und vertieft haben?
Joerges und Rödl erkennen folgerichtig (es ist kein logischer Schluss) aus dem von ihnen Beschriebenen, vermuten zu können, dass die Bewältigung der Konfliktkonstellationen vorstellbar sei, das sie vorstellbar beschrieben werden kann. Und dass die schlichte Formel von „Mehr Europa“ nicht einmal dafür tauglich ist.
„Mehr Europa“ (aber auch Konfliktlinien) ist beliebig vorstellbar, weil beliebig zu verstehen. Denn „Mehr Europa“ ist nur scheinbar ein Begriff, so griffig „Mehr Europa“ auch verwendet wird.
“Die Entstehung Normativer Ordnungen” hängt also auch ab von einer nicht nur vorstellbaren, sondern von einer nicht beliebig zu verstehenden Beantwortung: Warum und wofür?
Herzlichen Dank! Ein sehr verständiger Beitrag, der mir nochmals einige neue Aspekte näher gebracht hat!