Die Frage nach dem Warum
Der Bürgerrat als Zaubertrank der Demokratie?
Dass sich die repräsentativen Demokratien in einer Krise befinden, ist hinlänglich bekannt. Verfassungsresilienz und Wehrhaftigkeit der Demokratie stehen im Zentrum der aktuellen politischen Debatte. Populist*innen und Extremist*innen fordern die Demokratie mannigfaltig heraus – und profitieren dabei maßgeblich vom schwindenden Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Das Narrativ von „denen da oben“ und „uns hier unten“ wird bewusst propagiert, um Souverän und Repräsentanten zu spalten. Zu beobachten ist deshalb eine Störung im Responsivitätsverhältnis, die sich durch das gesunkene Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsrechtlichen Institutionen und das Funktionieren der repräsentativen Demokratie als solcher äußert. Die Auswirkungen sind offensichtlich: Die Akzeptanz der Demokratie als Herrschaftsform schwindet.
Deliberative Ansätze wie der Bürgerrat setzen an dieser Bindung zwischen Staatsvolk und Repräsentanten an und möchten durch stärkere Partizipation das Defizit der mangelhaften Rückkopplung ausgleichen. Repräsentanten können auf ein (nach politikwissenschaftlichem Verständnis) repräsentatives Ergebnis „aus dem Volk“ bei der Entscheidungsfindung zurückgreifen. Das Staatsvolk darf sich hingegen in die Entscheidung eingebunden fühlen und die Mitglieder des Bürgerrates erleben ein unmittelbares Legitimationsempfinden. Diese Wirkungen stehen dabei allerdings regelmäßig unter der Prämisse, dass der Bürgerrat hoheitlich durchgeführt wird. Hier entstehen sensible Berührungen zum sensiblen Verfassungskern aus Art. 20 Abs. 1, 2 GG. Interessanterweise wurde aber die Frage nach dem Warum von Bürgerräten bisher primär aus deliberativer Perspektive betrachtet und gilt dort als beantwortet. Die deliberative Perspektive muss freilich nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der verfassungsrechtlichen Funktionsanalyse sein. Will man deliberative Verfahren allerdings in institutionalisierte Bahnen lenken, kommt man an einer rechtlichen Anbindung nicht vorbei. Können also die propagierten Funktionen schon nicht eingehalten werden, sind weitere verfassungsrechtliche Diskussionen – auch zu Institutionalisierungen – überflüssig. Aus diesem Grund lohnt sich eine Funktionsanalyse, die verfassungstheoretische Anforderungen mit den Wirkungen eines Bürgerrats abgleicht.
Legitimationsfunktion
Die sicherlich offensichtlichste Funktion ist bereits angeklungen und betrifft die Rückkopplung im Verhältnis zwischen Souverän und Repräsentanten, die durch Bürgerräte verbessert werden soll. Dieses Verhältnis ist in Art. 20 Abs. 2 GG grundlegend hinterlegt, bei dem zunächst alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Diese wird durch Wahlen und Abstimmungen und durch die Staatsgewalten ausgeübt. Dabei handelt es sich um ein Input-geprägtes Legitimationsmodell, das das BVerfG in einem Säulenmodell konkretisiert. So knüpfen eine personelle und eine sachlich-inhaltliche Säule die Ausübung der Staatsgewalt an den Souverän (Art. 20 Abs. 2 GG). Die hoheitliche Aufgabe wird durch die Staatsgewalt ausgeführt, welche wiederum durch eine ununterbrochene Legitimationskette zum Souverän legitimiert ist. Durch die gesetzliche Befugnis ist die Behörde zudem sachlich-inhaltlich an das Legitimationssubjekt gebunden. Nach diesem Modell kann ein Bürgerrat ohne gesetzliche Grundlage keine verbindlichen hoheitlichen Entscheidungen treffen. Das Problem einer faktischen Verbindlichkeit wird von der Staatsrechtswissenschaft diskutiert, wirkt aber in Anbetracht der mittlerweile etablierten Praxis weniger gewichtig als bisher angenommen. Solange klar und unmissverständlich kommuniziert wird, dass es sich nur um Empfehlungen handelt und schon kein Schein einer rechtlichen Verbindlichkeit erweckt wird, dürften sich die Entscheidungsbefugten nicht verbindlich gebunden fühlen. Eine etwaige Befassungspflicht könnte dieses Problem allerdings verstärken, da diese in die Abgeordnetenfreiheit eingreifen könnte. Interessant ist dabei, dass sich bisher weder die Repräsentanten an das Ergebnis des Bürgerrates gebunden fühlen noch die Bürger*innen verbindliche Entscheidungen seitens des Bürgerrates wollen.1) Die Spannung ergibt sich im Hinblick auf die Legitimationsfunktion vielmehr aus dem Umstand, dass der deliberativen Idee ein Output-geprägtes Legitimationsverständnis zugrunde liegt. Auch wenn diesbezüglich unterschiedliche Ausprägungen existieren, ist diesen gemein, dass sich die Legitimation auf das Politikergebnis bezieht, das den Nutzen bzw. die Interessen des Souveräns fördern muss. Eine existierende politische Einheit handelt dann legitim, wenn sie kollektive Lösungen findet, die die Interessen der Gemeinschaft fördern. Hiernach kann auch ein Bürgerrat legitimiert sein. Doch auch im Input-geprägten Modell ist (insbesondere aus der Infrastrukturplanung) eine Demokratieförderung anerkannt, die in der Schaffung von begünstigenden oder verstärkenden Bedingungen der Legitimationsvermittlung besteht.2) Gerade hier setzt auch der Bürgerrat an, der diese Funktion im Verhältnis zwischen Souverän und Staat (und somit auch im verfassungsrechtlichen Sinne) die Legitimationsfunktion fördern kann. Der vermeintliche Widerspruch zwischen deliberativer und verfassungstheoretischer Funktion ließe sich also auflösen.
Akzeptanzfunktion
Eine weitere wichtige verfassungstheoretische Funktion wird in der Akzeptanz von politischen Maßnahmen gesehen. Wird die Einbindung der Bürger*innen bereits in einem frühen Stadium gewährleistet, so erhöht das deutlich die Akzeptanz gegenüber späteren hoheitlichen Entscheidungen. Das zeigen die Akzeptanzdefizite bei bedeutenden Infrastrukturprojekten (am anschaulichsten bspw. Stuttgart 21), die nicht selten ein Hindernis für deren Umsetzung waren und sind. Auch hier stellt sich dann die Frage der Legitimation, da sich aktiv geäußerter, von einer Mehrheit getragener Widerstand negativ auf das repräsentative System auswirkt. Es müssen deshalb Bedingungen geschaffen werden, die die hoheitliche Entscheidung zumindest akzeptanzfähig machen. Aus juristischer Perspektive ist die Übersetzung eines Akzeptanzmodells nicht ganz einfach. Entscheidungen können nicht ausschließlich von Meinungen Einzelner abhängen, da dies letztlich dem repräsentativen System des Grundgesetzes zuwiderlaufen würde. Auch zu erwartende Widerstände lassen sich schwerlich in juristisch messbare Belange übertragen. Doch auch wenn die Akzeptanz nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert ist, ist sie doch als Grundvoraussetzung im Demokratieprinzip angelegt. Die notwendigen demokratischen Mehrheitsentscheidungen sind zwangsläufig verbunden mit immanenten Entscheidungen gegen Interessen der Minderheit. Dass die Minderheit diese Mehrheitsentscheidung akzeptiert, ist Grundbedingung des demokratischen Konsenses. Daran knüpft auch der Bürgerrat an, indem dort alle Meinungen zu Wort kommen können, idealerweise ein herrschaftsfreier Diskurs ermöglicht sowie eine Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip getroffen wird. Dieser „herunterskalierte“ Dialog soll den gesamtgesellschaftlichen Dialog widerspiegeln und so die Mehrheitsfindung im Kleinen simulieren. Das ist mit der verfassungsrechtlichen Akzeptanzfunktion vereinbar, denn auch juristisch genügt die sog. „Verfahrensakzeptanz“, bei der das Ergebnis letztlich irrelevant ist. Dieses gilt dann als angemessen, da es in einem akzeptanzfähigen Verfahren zustande gekommen ist. Diese Funktion kann der Bürgerrat unterstützen, indem er dazu beiträgt, die Akzeptanzfähigkeit der jeweiligen Entscheidung zu fördern.
Transparenzfunktion
Das Kriterium der Transparenz ist im deliberativen Gedanken des Bürgerrates nicht umstritten, sondern evident. Ohne Transparenz könnte der Bürgerrat im Verhältnis zur Öffentlichkeit keinerlei Wirkung entfalten. Verfassungsrechtlich ist die Transparenzfunktion eng mit der Informationsfunktion verknüpft und wird häufig als Grundbedingung für Informationen verstanden. Dies ist an mehreren Stellen des Grundgesetzes angelegt. Sie wird unter anderem durch die Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG mittelbar gesichert und ist im Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG über den Öffentlichkeitsgrundsatz verankert. Zudem ist die im Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 2 GG angelegte Responsivität entscheidend, die als Grundlage auf der gegenseitigen Transparenzsicherung beruht.
Informationsfunktion
Bei der Informationsfunktion geht es um die transparente Weitergabe von Wissen, was eine notwendige Bedingung eines gelungenen Dialogs ist. Dieser Dialog zwischen Entscheidungsträgern und Öffentlichkeit setzt eine gemeinsame Wissensbasis voraus, die durch transparente Informationen erst ermöglicht wird. Deren Gehalt wirkt sich auch auf die anderen Funktionen aus, indem sie beispielsweise als Grundlage für ein akzeptanzfähiges Verfahren dienen. Die Überschneidungen zur Transparenzfunktion sind offensichtlich, auch wenn sie in Bezug auf die Ausrichtung abweichen. Die Informationsfunktion wirkt sich auf das Innenverhältnis zwischen Entscheidungsträgern und Bürgerrat aus, während die Transparenz das Außenverhältnis betrifft. Ähnlich der Transparenzfunktion ist auch die Informationsfunktion verfassungsrechtlich angelegt. So verpflichtet beispielsweise Art. 82 Abs. 1 GG zur Veröffentlichung von Gesetzen. Eine spezifische Ausgestaltung dieses Informationsverhältnisses sieht das Grundgesetz allerdings nicht vor, sondern eröffnet je nach verfassungsrechtlichem Bereich einen weiten Spielraum. Doch keinesfalls ist die Informationsvermittlung dabei einseitig zu verstehen. Zwar wird der Souverän mit Informationen versorgt, doch helfen Informationen auch den staatlichen Institutionen, eine fundierte Entscheidungsgrundlage zu erhalten. Gerade die Interessen und Bedürfnisse der Bürger*innen sind diffus und teilweise schwer zu identifizieren. Dass Repräsentativorgane und Behörden sich Informationen beschaffen können müssen, ist unstrittige, ständige Übung. So werden regelmäßig Verbände, Experten oder NGOs in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden, um eine möglichst fundierte Entscheidung zu sichern. Auch der Bürgerrat könnte ein solches, mittelbar eingebundenes Instrument der Informationsvermittlung sein. Im besten Fall entsteht so ein Zusammenspiel gegenseitiger Informationsgewinnung.
Qualitätsfunktion
Bei der Qualitätsfunktion geht es darum, dass hoheitliche Entscheidungen unter Abwägung aller relevanten Belange getroffen werden. Für die Exekutive ergibt sich das ausdrücklich aus dem Untersuchungsgrundsatz (§ 24 VwVfG), welcher der Behörde eine umfassende Amtsermittlung auferlegt. Verfassungsrechtliche Relevanz haben hier wiederum die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG sowie der Grundrechtsschutz des Verwaltungsverfahrens selbst. Doch auch das verfassungsrechtlich präzise ausgestaltete Gesetzgebungsverfahren trägt den Grundsatz des Qualitätserfordernisses in sich. Demnach werden auch der Legislative bestimmte Qualitätsanforderungen auferlegt. Auf beiden Ebenen kann ein Bürgerrat hier wichtige Erkenntnisse generieren, die die hoheitliche Entscheidungsgrundlage anreichern. Insbesondere eine versachlichte Diskussion innerhalb des Bürgerrates kann der sog. false-balance entgegenwirken. So werden Entscheidungen nicht durch laute und prominente Mindermeinungen verfälscht, sondern können auf ein versachlichtes Meinungsbild zurückgreifen.
Kongruenz zwischen Funktion und Wirkung
Wie gezeigt wurde, haben Bürgerräte durchaus das Potential, verfassungsrechtliche Funktionen zu erfüllen. Die sozialwissenschaftlichen Funktionszuschreibungen lassen sich jeweils auch mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Einklang bringen. Jedoch hängen manche Funktionen (sowie insb. deren Effektivität) von den spezifischen Voraussetzungen und Ausgestaltungen der Bürgerräte ab. Eine politisch missbräuchliche Anwendung, die sich z.B. durch eine voreingenommene Vorauswahl der Bürger*innen ergeben kann, würde sich sogar kontradiktorisch auswirken. Abschließend lässt sich deshalb festhalten, dass auch die vorgenommene Funktionsanalyse darauf hindeutet, dass Bürgerräte einer hoheitlichen Standardisierung zugeführt werden sollten.
References
↑1 | Saskia Goldberg and André Bächtiger (2023). Catching the “Deliberative Wave”? How (Disaffected) Citizens Assess Deliberative Citizen Forums. British Journal of Political Science 53 (1): 239–247. |
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↑2 | Jan Ziekow, Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie, 2012. |