Plädoyer für eine Stiftung für Partizipative Demokratie
Wie man Bürgerräte institutionalisieren könnte
Die Demokratie lebt von der Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Wahlen, Volksentscheide und Petitionen sind dabei die bekanntesten Mittel, um politische Entscheidungen mitzugestalten. Doch es gibt auch weniger bekannte Formen der Beteiligung, die sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit erfreuen: dialogorientierte Beteiligungsverfahren wie die sogenannten Bürgerräte.
Vorschläge zu möglichen institutionellen Regelungen von Bürgerräten sind in einer Handreichung an den Bundestag zusammengefasst, die ich gemeinsam mit anderen Experten und Expertinnen der Bürgerbeteiligung verfasst habe (Lietzmann et al. 2021): In dieser Stellungnahme empfehlen wir die kurzfristige Einrichtung einer Organisationseinheit „Partizipative Demokratie“ beim Deutschen Bundestag, die direkt dem Ältestenrat des Bundestages unterstellt sein sollte. Dieses Modell würde kurzfristig die Verstetigung von Bürgerräten ermöglichen. Doch langfristig benötigt es eine robustere Lösung, um politische Unabhängigkeit zu gewährleisten und eine kontinuierliche Umsetzung sicherzustellen: eine Stiftung für partizipative Demokratie.
Herausforderungen der Institutionalisierung
Bürgerräte sind zufällig ausgeloste Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich intensiv mit politischen Fragen auseinandersetzen und Empfehlungen erarbeiten. Dabei bringen sie ihre eigenen Erfahrungen und Perspektiven ein, während sie durch Expertinnen und Experten sachlich informiert werden (Bächtiger et al., 2014). Diese Form der Beteiligung kann dazu beitragen, politische Entscheidungen transparenter und nachvollziehbarer zu machen, besonders in Zeiten wachsender Politikverdrossenheit und gesellschaftlicher Polarisierung. Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Sichtweisen und Interessen in politischen Entscheidungsprozessen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Bürgerräte könnten hier eine Brücke zwischen Politik und Bürgerschaft schlagen (Oppold und Renn, 2021).
Obwohl Bürgerräte in Deutschland bereits in verschiedenen Kontexten erprobt wurden, fehlt bislang eine verbindliche Struktur, um sie dauerhaft und nachhaltig in die politische Landschaft zu integrieren. Damit die erarbeiteten Empfehlungen nicht ins Leere laufen, müssen sie systematisch in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Ohne eine klare Verankerung in den politischen Strukturen droht das Instrument, seine Legitimität zu verlieren (Curato und Böker, 2016; Strohtmann und Liesenberg, 2024).
Es gibt viele Vorschläge in der Literatur, wie das Instrument der Bürgerräte als konstitutives Element der politischen Willensbildung in die politische Kultur Deutschlands integriert werden könnte (Schatz et al. 2024). Diese Vorschläge reichen von der Einrichtung eines nationalen Bürgerbüros bis zur Gründung einer unabhängigen Stiftung. Gemeinsam mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen haben wir in einer Stellungnahme an den Bundestag empfohlen, zunächst eine neue Organisationseinheit „Partizipative Demokratie“ beim Deutschen Bundestag einzurichten, die direkt dem Ältestenrat des Bundestages unterstellt sein sollte (Lietzmann et al., 2021). Diese Organisationseinheit könnte die externen Dienstleister beauftragen, Bürgerräte durchzuführen, das Prozessdesign und die Qualitätssicherung zu koordinieren und die Anbindung der Bürgerräte ans Parlament sicherzustellen. Dies kann etwa über die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen und über die Einrichtung von Ausschüssen zur fraktionsübergreifenden Vorbereitung und inhaltlichen Konzeptionalisierung des Prozesses sowie dessen Begleitung während der Durchführungs- und Nachbereitungsphase erfolgen. Auf diese Weise könnte das Parlament sein Initiativrecht zur Einberufung von Bürgerräten ausüben und die Umsetzung eines neuen Bürgerrates könnte jeweils zeitnah und mit gleichbleibender Qualität erfolgen. Dieses Modell würde kurzfristig die Verstetigung von Bürgerräten ermöglichen. Für eine langfristige Institutionalisierung müsste aber eine andere Lösung gefunden werden, die Unabhängigkeit, Kontinuität und sichere Finanzierung vereinigt. Aus unserer Sicht ist eine Stiftung für partizipative Demokratie dafür eine besonders vielversprechende Option.
Eine „Stiftung für Partizipative Demokratie“
Langfristig sollte die Verantwortung für Bürgerräte einer Stiftung des öffentlichen Rechts übertragen werden. Diese unabhängige Institution würde dafür sorgen, dass Bürgerräte auch über Legislaturperioden hinweg stattfinden und nicht von politischen Machtwechseln abhängig sind. Eine solche Stiftung könnte die Transparenz und Qualität der Verfahren sichern und würde ähnlich wie die Rundfunkräte durch eine diverse Zusammensetzung unabhängig agieren.
Eine Stiftung für Partizipative Demokratie bietet mehrere entscheidende Vorteile und nur wenige Nachteile gegenüber alternativen Lösungen:
Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschehen: Da die Stiftung keiner Regierung unterstellt ist, können Bürgerräte unabhängig von parteipolitischen Interessen durchgeführt werden. Dies ist auch ein wesentlicher Vorteil gegenüber Landes- oder Bundesanstalten, die gegenüber den ihnen zugeordneten Ressorts nur begrenzt eigenständig agieren können. Auch wäre eine Stiftung mit der Stellung einer Staatsrätin für Partizipation, wie dies in Baden-Württemberg zurzeit praktiziert wird, mit dem Einsatz der Stiftung kompatibel, da die Staatsrätin die Stiftung als eine professionelle und operativ agierende Partnerin für die politische Umsetzung der Beteiligungsformate nutzen könnte.
Kontinuität über längere Zeiträume: Während politische Institutionen durch Wahlen und Machtwechsel stark beeinflusst werden, würde eine Stiftung langfristige Stabilität bieten. Durch die Unabhängigkeit von Wahlzyklen können auch Stiftungsrat und Beirat asynchron zu den Wahlperioden berufen werden. Das stärkt die Eigenständigkeit der Stiftung und hilft darüber hinaus, die Stiftung aus dem Tagesgeschäft der Politik herauszuhalten.
Plattform für institutionelles Lernen: Die Stiftung könnte Wissen über erfolgreiche Verfahren sammeln, evaluieren und weiterentwickeln, so dass Bürgerräte stetig verbessert werden. An die Stiftung könnte eine Bibliothek mit Forschungsauftrag angeschlossen werden, die national und international die wesentliche Literatur sammelt und auswertet.
Vertretung der gesellschaftlichen Vielfalt: Der Stiftungsrat könnte so besetzt werden, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichberechtigt vertreten sind. Dafür sind Stiftungsräte gut geeignet. Sie sind meist auch mit hohem Prestige versehen, so dass es für Organisationen wie Individuen attraktiv ist, in ein Gremium der Stiftung berufen zu werden.
Nachhaltige Finanzierung: Eine Stiftung könnte langfristig durch öffentliche und private Mittel finanziert werden, wodurch eine stabile und verlässliche Durchführung von Bürgerräten gewährleistet wäre. Hierzu ist aber notwendig, die Stiftung so zu institutionalisieren, dass sie langfristig über ausreichende Mittel verfügen kann und nicht in Abhängigkeit von öffentlichen oder privaten Geldgebern gerät.
Natürlich stehen diesen Vorteilen auch mögliche Nachteile entgegen. Je nachdem, wie der Stiftungsrat aufgestellt wird, können bestimmte Interessen überpräsentiert sein. Vor allem sind bei öffentlichen Stiftungen gerne die politischen Parteien nach dem Proporzprinzip vertreten und damit würde sich die jeweilige politische Mehrheitsmeinung immer durchsetzen. Ebenso könnten die etablierten Interessengruppen bevorzugt werden, wodurch innovative Ansätze eher behindert werden. Allerdings sind diese Konsequenzen nicht zwingend, wenn man die Zusammensetzung des Stiftungsrates unter Einschluss von Expertinnen und Experten, Praktiker und Praktikerinnen aus der Beteiligungsbranche sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft bestimmt.
Einsetzung und Ausgestaltung der Stiftung
Die Einsetzung dieser Stiftung müsste vom Bundestag beschlossen werden. Sie sollte aus dem laufenden Bundeshaushalt finanziert werden, um flexibel auf Nachfragen aus Politik und Gesellschaft reagieren zu können. Die Stiftung kann zunächst vom Parlament oder von der Exekutive (Regierung, Ressorts, Bundes- und Landesbehörden) aufgefordert werden, zu einem politisch kontroversen Thema einen Bürgerrat oder ein ähnlich strukturiertes Beteiligungsverfahren zu initiieren. Um die Agenda für das Verfahren möglichst adressatengerecht planen zu können, sollten die Auftraggeber das Thema, die zur Diskussion gestellten Politikoptionen (immer gekoppelt mit der Möglichkeit, dass die Teilnehmenden auch selber eigene Optionen einbringen oder bestehende modifizieren können) und mögliche Zielkonflikte vorab präzisieren. Ob ein Thema für den Bürgerrat oder ein ähnliches Verfahren geeignet ist, kann dann die Stiftung aufgrund ihrer Expertise nachprüfen und gegebenenfalls ein Thema zurückweisen oder eine Nachbesserung verlangen.
Neben den politischen Gremien können aber auch Anfragen für Bürgerräte von zivilgesellschaftlichen Gruppen, Wirtschaftsvereinigungen oder Interessengemeinschaften an die Stiftung herangetragen werden. Der Stiftungsrat entscheidet dann, welche dieser Vorschläge umgesetzt werden. Obwohl diese Anfragen nicht direkt von der Politik eingebracht werden, müssen die Antragsteller genau angeben, an wen sich die Empfehlungen richten und welche Entscheidungsprozesse beeinflusst oder angeregt werden sollen. Es geht hier nicht darum, ein Stimmungsbild der Bevölkerung zu erzeugen, sondern stets um eine aktive Politikempfehlung mit klaren Handlungsfolgen.
Die Zusammensetzung des Stiftungsrates sollte von dem Gedanken der gesellschaftlichen Vielfalt und Heterogenität geprägt sein. Im Stiftungsrat sollten die politischen Parteien zwar eine Stimme haben, aber nicht die Mehrheit der Sitze beanspruchen. Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, der Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften, kultureller Einrichtungen und Religionsgemeinschaften können und sollen hier die notwendige Breite der Gesellschaft abbilden. Neben dem Stiftungsrat sollte die Stiftung einen Partizipationsbeirat mit Expertinnen und Experten für Beteiligungsverfahren einrichten, in dem Personen aus Wissenschaft, Praxis und Durchführungsorganisationen versammelt sind. Dieser Beirat kann Eingaben sichten, Verfahrensvorschläge ausarbeiten oder modifizieren und laufende Vorhaben überwachen. Der Beirat kann Vorschläge an den Stiftungsrat einbringen; das letzte Entscheidungsgremium ist und bleibt der Stiftungsrat. Die Stiftung wird von einem Geschäftsführer oder einer Geschäftsführerin operativ geleitet. Je nach Arbeitsaufwand werden in die Geschäftsführung Fachleute und administratives Personal eingebunden.
Um die Unabhängigkeit der Stiftung zu wahren und ihre Kontinuität sicherzustellen, sollten die rechtlichen Hürden für eine Auflösung entsprechend hoch sein. Sollte die Stiftung durch den Bundestag im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens errichtet werden, könnte im Gesetz festgelegt werden, dass für die Auflösung der Stiftung eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln erforderlich ist. Zudem sollte eine Mindestausstattung garantiert werden. Die Stiftung kann auch Spendengelder von Dritten entgegennehmen, diese Dritte dürfen aber keinen Einfluss auf die Inhalte und die Verfahrensabläufe nehmen können. Wie die Stiftung genau in entsprechende rechtlich verbindliche Gesetze oder Verordnungen einzubetten wäre, sollte im Diskurs mit führenden Vertreterinnen und Vertretern der Rechts- und Politikwissenschaften geklärt werden.
Neben der Umsetzung und Organisation wäre ein weiterer wichtiger Bestandteil die Evaluation: Die Stiftung sollte verpflichtet werden, unabhängige Studien in Auftrag zu geben, um die Wirksamkeit der Bürgerräte kontinuierlich zu prüfen und das Verfahren fortlaufend weiterzuentwickeln. So ließe sich sicherstellen, dass Bürgerräte tatsächlich einen Mehrwert für die Demokratie bringen. Jährlich sollte die Stiftung einen Rechenschaftsbericht erstellen und dem Parlament vorlegen.
Ein Impuls für deliberative Politikgestaltung
Bürgerräte stellen keinen Ersatz, sondern eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie dar. Sie können Parlament oder Regierung bei der Lösung komplexer Probleme beraten und Lösungsvorschläge bei festgefahrenen Konflikten einbringen. Bürgerräte sind demnach nicht nur Instrumente für eine demokratische und deliberative Erweiterung politischer Entscheidungsfindung, sondern bieten auch Vorschläge zur praktischen Lösung von Problemen. Dies macht sie zu einem wertvollen Instrument, gerade in Zeiten postfaktischer Verunsicherung und zunehmender Polarisierung. Natürlich können Bürgerräte nicht alle Probleme, die heutige Demokratien bedrohen, lösen. Sie werden auch nur tendenziell die Tendenzen zu autoritären Strömungen in der Bevölkerung entgegenwirken können. Aber sie stellen eine Innovation dar, die, wenn sie gut organisiert und professionell begleitet werden, wertvolle Impulse für politische Entscheidungsprozesse liefern können (Bächtiger & Parkinson, 2016; Curato et al., 2017). Auch die OECD (2020) bewertet sie als besonders geeignet für nationale und internationale Beteiligungsverfahren. Allerdings müssen sie, um auch kontinuierlich und langfristig wirksam zu sein, in die politische Institutionenlandschaft eingebettet werden. Aus meiner Sicht wäre dafür eine öffentliche Stiftung mit einem plural besetzten Stiftungsrat und einem ausreichenden Jahresbudget die beste Lösung. Wenn es gelingt, Bürgerräte nachhaltig in die politischen Strukturen zu integrieren, könnten sie zu einer wichtigen Säule der Demokratie werden.