Wer hat Angst vorm Schleuser?
Über die Dehumanisierung im Strafrecht
Gegenstände bleiben „im unbarmherzigen Außereinander des Raumes gebannt“, schreibt Georg Simmel (s. hier). Erst der Mensch zieht Linien durch dieses Nebeneinander, schafft Nähe und trennt ab, baut Brücken und Mauern (s. hier). Territoriale Grenzen sind solche Linien – und an ihnen zeigt sich, so der Soziologe Steffen Mau, wie radikal Räume sortiert werden: in drinnen und draußen, in erwünscht und unerwünscht, in legal und illegal.1)
Auch das Strafrecht funktioniert nach diesem Muster. Es zieht Linien, markiert Grenzen des Erlaubten und versucht dadurch das Zusammenleben zu sichern. Doch es kann inhuman und autoritär werden, wenn es in Grenzkontexten zum Feindstrafrecht mutiert. Dort wird es gleichermaßen zur „Sortiermaschine“2), die nicht mehr differenziert, sondern ausschließt. So kann das Strafrecht genutzt werden, um politische Grenzen zu ziehen: gegen Migration, gegen politische Gegner, gegen alles, was als Bedrohung inszeniert wird.
Am Beispiel der sog. „Schleuserkriminalität“ zeigt sich, wie populistische Politik das Strafrecht als autoritäres Instrument einsetzen kann und wie einem Strafrecht, das in Grenzkontexten zum Feindstrafrecht wird, die Maßstäbe der Menschlichkeit verloren gehen.
Schleuserkriminalität als feindstrafrechtliches Konstrukt
Es überrascht kaum, dass die Sortierlogik der EU-Außengrenzpolitik sich des Strafrechts bedient. Das Strafrecht operiert dabei entlang einer berüchtigten „spezifischen politischen Unterscheidung“, nämlich der „Unterscheidung von Freund und Feind“.3) Das Strafrecht wird zum Mittel der Kriegsführung gegen gefährliche Invasoren – gegen Migranten, die zur Projektionsfläche von Ängsten werden4) (zum Feindstrafrecht als Angststrafrecht s. hier, S. 70). Neben dem Migranten figuriert noch ein anderer Akteur als Feind, gegen den die Bekämpfungsrhetorik des Strafrechts eingesetzt wird (zur Bekämpfungsrhetorik s. hier), nämlich „der Schleuser“.
Der Diskurs um den Schleuser erinnert an Carl Schmitts Auseinandersetzung mit der Figur des Piraten.5) Die Aktion des Piraten sei politisch. Das lege seine Bezeichnung als „Feind des Menschengeschlechts“ nahe, gegen den Krieg zu führen sei.6) Auch der „Schleuser“ wird als Feind der Menschheit gesehen. Die Schleuserkriminalität missachtet menschliches Leben und beraubt Menschen ihrer Würde, liest man etwa in der Begründung des Vorschlags für eine EU-Richtlinie zur Verhinderung und Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt in der Union vom 28.11.23 (s. hier). Der Schleuser strebe nach Profit, indem er die Verzweiflung der Menschen ausnütze, und begehe eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen (s. hier). Deswegen wird ihm der Krieg erklärt. Dafür stehen die weiten und im Hinblick auf die Handlungsmotivationen indifferenten Tatbestände des § 96 AufenthG und des Art. 3 der geplanten EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität: Erhält man als Unterstützer:in eines Drittstaatsangehörigen bei der Ein- und Durchreise oder beim Aufenthalt in einem Mitgliedstaat einen Vorteil oder lässt sich einen Vorteil versprechen, macht man sich als Schleuser:in strafbar. Unterstellt wird, dass allein wegen dieses Vorteils jede altruistische Motivation, humanitäre Fluchthilfe zu leisten, ausgeschlossen ist.
Diese Bestrafung im Kontext von Grenzen ist nicht selbstverständlich; dies zeigt ein Blick in die deutsch-deutsche Geschichte: Im Hinblick auf Fluchtversuche aus der DDR bewertete dies die Rechtsprechung explizit anders: Humanitäre Hilfeleistungen durften gegen Bezahlung erbracht werden.7) „Ein Vertrag, durch den sich Jemand verpflichtet, dem anderen Vertragsteil für die sog. Ausschleusung eines Einwohners der Deutschen Demokratischen Republik ein Entgelt zu zahlen (Fluchthelfervertrag), verstößt weder gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) noch […] gegen die guten Sitten (§ 138 Abs. 1 BGB)“, entschied der BGH im Jahr 1977 (s. hier). Fluchthilfeverträge waren in dieser Zeit sogar üblich. Berichten von Fluchthelfer:innen aus dieser Zeit lässt sich entnehmen, dass es unvermeidbar gewesen sei, einen gewissen Preis für die Aufwendungen zu verlangen; anders konnten sie die kreativen Fluchtwege nicht aufbauen und pflegen.8) Trotz der Preisforderung wurde der helfende, rettende Charakter der Leistungen nicht in Zweifel gezogen. Nach heutiger Rechtslage wären die Helfer :innen der Mauerzeit kriminelle „Schleuser“. Jana Trinh bringt dies in ihrer Dissertationsschrift „Strafbarkeit der Fluchthilfe“ auf den Punkt: „Vom Helden zum Straftäter“, so könne man die Entwicklung des Ansehens von Fluchthelfer:innen beschreiben.9)
Undifferenziertes, inhumanes Strafrecht
Ungeachtet ihrer Motivation drohen Helfenden (darunter auch Rechtsberater:innen sowie Mitgliedern von NGOs) nun im aktuellen Rechtsregime hohe Haftstrafen. Bekannt ist der Fall des 2013 festgenommenen Syrers, der in Athen angekommenen Landsleuten Ausweispapiere und Flugkarten beschaffte und sie auf diese Weise dabei unterstützte, nach Deutschland zu kommen. Er rechtfertigte sich damit, dass er helfen wollte, Geflüchtete (darunter auch Minderjährige) aus der Heimat zu ihren in Deutschland lebenden Familienangehörigen zu bringen. Die Flüchtigen hätten ihn um Unterstützung gebeten und von sich aus angeboten, für seine Hilfe zu zahlen. Dies alles half ihm aber vor dem Landgericht Essen nicht.10) Die Revision des Angeklagten hat der BGH abgelehnt (s. hier). Dieses Verfahren hat den NDR-Journalisten Stefan Buchen veranlasst, sein aufsehenerregendes Buch „Die neuen Staatsfeinde“ zu schreiben. Buchen prangert die undifferenzierte Behandlung von Fluchthilfe an: Eine humanitäre Aufgabe sei auch dann erfüllt, wenn die Helfer:innen finanziell entschädigt würden (s. hier).11)
Wird allein auf die Vorteilsannahme statt auf die Motivation und Umstände des Einzelfalls abgestellt, kann auch das Pönalisierungsverbot des Art. 31 Genfer Flüchtlingskonvention umgangen werden. Sogar Flüchtige selbst können durch die Hintertür nach Schleusereivorschriften bestraft werden. Beispielhaft dafür steht der Fall zweier sudanesischer Männer, die nach einem Bootsunglück mit sechs Toten im Ärmelkanal in Frankreich festgenommen wurden. Die zwei waren selbst auf dem Boot. Da sie für einen reduzierten Fahrpreis an der Organisation der Bootsfahrt mitwirkten, waren sie mit dem Vorwurf der Schleuserei konfrontiert (zu dem Fall s. hier). So werden nicht nur Fluchthelfer:innen schnell zu Kriminellen, sondern auch die Schutzsuchenden selbst. Sogar dann, wenn nicht festgestellt werden kann, dass sie einen finanziellen Vorteil erhalten haben: Allein die Steuerung des Bootes oder des Fluchtautos reicht nach dem geltenden Recht in einigen EU-Ländern (darunter auch Deutschland) aus, damit Gerichte eine Beihilfehandlung bejahen. Borderline-Europe berichtet von einer Reihe von Verfahren in Griechenland, bei denen gegen Helfer:innen bzw. Geflüchtete der Vorwurf der Schleuserei erhoben wurde, nur weil sie ein Schlauchboot gesteuert hatten, das zu kentern drohte.
Das sind alles eindeutige Zeichen für eine bedenkliche Entwicklung des Strafrechts in Deutschland und im ganzen EU-Raum: „Schleuser“ werden zum Staats- und Unionsfeind erklärt, ohne dass die Geschichten der Menschen und ihre persönliche Motivation in prekären Lebenssituationen in den Blick genommen werden. Dies ist inhuman. Ein solches Strafrecht spiegelt zudem seine Anfälligkeit für populistische und autoritäre Überhebungen.
Wege aus der Dehumanisierung
Es sprengt den Rahmen dieses Beitrags, ein Konzept für ein „resilientes Strafrecht“ zu entwickeln, das aktuelle, von außen oder innen kommende Gefahren für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eindämmen kann. Aus unserer Sicht sollte das Strafrecht nicht nur in der Verfassung und in demokratischen Strukturen verankert sein; es sollte auch selbstreflektiv sein – im Hinblick auf die eigene Gewaltförmigkeit und das Bewusstsein von Vulnerabilität und Machtasymmetrien. Ebenso zentral ist der Schutz der justiziellen Unabhängigkeit und sind Alternativen zu klassischer Strafverfolgung dort, wo die bisherige Strafgerechtigkeit an ihre Grenzen stößt. Auch eine wehrhafte Haltung gegenüber einer populistischen Instrumentalisierung des Strafrechts oder einzelner Strafverfahren ist von wesentlicher Bedeutung für ein resilientes Strafrecht.
Nur am Rande sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das nicht nur für die Gesetzgebung, sondern auch für die Praxis gilt. Resilientes Strafrecht wird auch durch gewisse Entwicklungen in der Praxis gefährdet: Justizakteur:innen werden öffentlich bedroht und delegitimiert, sobald sie migrationsfreundliche Entscheidungen treffen, so etwa aktuell im Anschluss an die Entscheidung über die Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Wenn die Vertreter:innen der Justiz in dieser Rolle als zu bekämpfende „Gegner“ angesehen werden und gerade nicht mehr als Mensch, als Gegenüber, schwächt auch diese Entmenschlichung der Recht-Sprechenden das System des Rechts.
Doch blicken wir auf das Strafrecht selbst, speziell auf die Strafgesetze. Wir haben oben bereits aufgezeigt, wie Schleuser durch das Feindstrafrecht dehumanisiert werden. Im Bereich der Migrationskriminalität erscheint uns somit auch ein besonders wichtiger Gesichtspunkt resilienten Strafrechts seine Humanität zu sein.12) Die Fokussierung auf das „Humane“, das Individuum, ermöglicht eine differenzierte Anwendung des Rechts, die in Distanzierung von jedem „Feindstrafrecht“ die Lebensrealitäten und strukturellen Bedingungen von Taten in den Blick nehmen kann. Das kann unter anderem davor schützen, das Strafrecht – und wie es angewendet wird – zur politischen Projektionsfläche zu machen bzw. es populistisch zu instrumentalisieren; es wird so vielmehr zu einem Ausdruck eines an Art. 1 Abs. 1 GG, den Grundrechten und dem Rechtsstaat orientierten Menschenbilds, das die Gleichzeitigkeit von Verantwortlichkeit und Verletzlichkeit, Individualität und struktureller Einbettung anerkennt.
Mit Blick auf ein humanes Strafrecht ist es aus unserer Sicht daher besonders wichtig, dass alle bestehenden individualbezogenen rechtsstaatlichen Vorgaben eingehalten werden, gerade mit Blick auf die Täter:innen, Kontextsensibilität, Fähigkeit zur Differenzierung, ggf. auch gegenüber Motivlagen. Und das Strafrecht sollte immer offen für Selbstreflexion, Kritik und Wandel bleiben – das gilt generell für ein resilientes Recht. Dazu zählt der Schutz von Richter:innen und Staatsanwält:innen als diejenigen Menschen, die das Recht umsetzen (müssen).
Um die Selbstreflexion und Kritikfähigkeit für ein resilientes Recht zu fördern, sind an dieser Stelle auch aktuelle kritische Stimmen zu berücksichtigen – etwa in Bezug auf marginalisierte Perspektiven oder Kritik an Machtverhältnissen und den Realitäten des Rechts. Für unsere Fragestellung kann etwa die Debatte um „Restorative Justice“13) die Möglichkeit des Dialogs statt einer Ausgrenzung der „Kriminellen“ einbringen. Daher sollten Verfahren so ausgestaltet werden, dass die Menschlichkeit aller Betroffenen zusätzlich zu ihrer jeweiligen Rolle betont wird. Dies kann durch narrative Elemente geschehen, ohne dass das zu einer inadäquaten Emotionalisierung des Rechts führen muss.14) Narration, ein Element des Humanen und der wiederherstellenden Gerechtigkeit, kann Subjektivität und Kontext wiederherstellen und damit der Dehumanisierung entgegenwirken. Sie kann Vulnerabilitäten aufzeigen, Beziehungen statt Gegnerschaft betonen und darauf hinwirken, dass Recht nicht nur der Durchsetzung von Regeln dient, sondern ein Strafurteil (ebenso wie die Strafnorm oder der Strafprozess) auch als soziales Lernverfahren verstanden wird.15) Insofern muss aus unserer Sicht ein resilientes Strafrecht (wieder) lernen, Geschichten zu hören und zu erzählen.
Gerade im Kontext der Migrations-Kriminalität zeigt sich somit die Gefahr, dass das Strafrecht entmenschlicht wird. Wenn komplexe Fluchtsituationen verkürzt dargestellt werden und Menschen, oft selbst von ökonomischen und politischen Extremsituationen betroffen, als „Schleuser“ oder „Schlepper“ bezeichnet werden, kann dies ein Ausdruck einer solchen Entmenschlichung sein. Sie versperrt den Blick auf die Bandbreite dieser Aktivitäten, von familiärer Unterstützung über solidarische Fluchthilfe, professioneller Organisation illegaler Migration bis hin zum zweifellos verwerflichen, oft die Flüchtenden ausbeutenden und gefährdenden Menschenhandel. Das heißt nicht, dass das bestehende Strafrecht insofern gar nicht differenziert; allerdings ausschließlich nach der Frage, ob der Handelnde ein ökonomisches Interesse hatte. Darin alleine kann im Übrigen schon eine klassistische Diskriminierung liegen: Während es sich Menschen mit hinreichendem Einkommen eher leisten können, altruistisch zu agieren, kann es für armutsbetroffene Fluchthelfer:innen durchaus erforderlich sein, sich zumindest ihren Aufwand erstatten zu lassen. Das würde aber wohl kaum bei der Frage berücksichtigt werden, ob sich Helfer:innen strafbar gemacht haben – vielleicht nicht einmal bei der Strafzumessung. Für ein resilientes Strafrecht sollten wir an diesem Beispiel, aber auch im Übrigen, auf eine Re-Humanisierung hinwirken und, unter Einbeziehung moderner, kritischer Strömungen, eine zukunftsgerichtete Ausgestaltung dieses Rechtsgebiets wagen.
References
↑1 | Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, 2022, S. 14. |
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↑2 | Mau (Fn. 1), S. 21. |
↑3 | Schmitt, Der Begriff des Politischen [i. Orig. 1932], 2009 [Neusatz auf Basis der Ausgabe von 1963], S. 25. |
↑4 | S. dazu Singelnstein/Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 2012, S. 115. |
↑5 | Schmitt, Personen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923 – 1939 [i. Orig. 1940], 2014, S. 274 ff. |
↑6 | Schmitt (Fn. 5), S. 276. |
↑7 | Trinh, Die Strafbarkeit der Fluchthilfe. Eine Auseinandersetzung mit dem sog. Schleusertatbestand in § 96 AufenthG, 2021, S. 28 f. |
↑8 | Veigel, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, 2011, S. 339; dazu instruktiv Trinh (Fn. 7), S. 28 f. |
↑9 | Trinh (Fn. 7), S. 35. |
↑10 | Buchen, Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden, 2014, S. 171 f. |
↑11 | Buchen (Fn. 10), S. 183 ff. |
↑12 | Montenbruck, Zivile Versöhnung, 4. Aufl. 2013, S. 189 ff. |
↑13 | Kilchling, in: Bartsch/Hoven/Limpberg/Maelicke/Merckle (Hrsg.), Resozialisierung und Wiedergutmachung, S. 101 ff. |
↑14 | Muhl/Willms, BewHi 2/2019, S. 159 ff., S. 167. |
↑15 | Hagemann/Magiera, in: Bartsch/Hoven/Limpberg/Maelicke/Merckle (Hrsg.), Resozialisierung und Wiedergutmachung, S. 57, 65; UNODC, Handbook on Restorative Justice, S. 7. |