Too big to handle: Warum wir so schlecht sind im Abwenden von Katastrophen
Finanzkrisen, Genozide, Umweltkatastrophen, Epidemien, Kriege – dauernd passiert etwas, von dem wir zuvor genau wussten, dass es a) mit einiger Wahrscheinlichkeit oder sogar sicher passieren und b) ganz unvorstellbar schrecklich werden würde. Und trotzdem haben wir es passieren lassen. Und zwar nicht nur weil wir nicht anders konnten. Sondern weil wir es offenbar irgendwie, all things considered, nicht anders wollten. Was wir hätten tun können, haben wir unterlassen. Was wir hätten wissen können, wollten wir nicht wissen.
Warum? Wie kommt das? Was hat es auf sich mit diesem merkwürdigen Phänomen? Und wie könnten wir da besser werden? Um auf diese Fragen Antworten zu suchen, hat sich letzte Woche am Berliner Wissenschaftskolleg eine außerordentlich illustre Gruppe von Wissenschaftler_innen aus allen möglichen Disziplinen zu einem Workshop unter dem (wohl auch selbstreferentiell zu verstehenden) Titel “Too big to handle” zusammengefunden. Untertitel: “Why Societies ignore Looming Disasters.” Ich hatte das Privileg, hinten drinzusitzen und mir meine Notizen und Gedanken dazu zu machen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Selten habe ich so viel intellektuelle Anregung und Grund zur Niedergeschlagenheit gleichzeitig erfahren.
Eingeladen hatten die Völkerrechtlerin Anne van Aaken (St. Gallen) und der Evolutionsbiologe Janis Antonovics (Virginia). Beide waren 2011 als Fellows am Wissenschaftskolleg*. Zu den vielen Vorzügen dieser preisenswerten Institution gehört, dass dort Leute, die auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Dinge erforschen, miteinander ins Gespräch kommen und so auf ganz neue Forschungsperspektiven stoßen. Die Begegnung van Aaken/Antonovics ist ein Musterbeispiel dafür: Antonovics verzweifelte an der Beobachtung, dass wir nicht genügend gegen das “looming disaster” der Antibiotika-Resistenz von Seuchenerregern unternehmen, und in van Aaken fand er eine Gesprächspartnerin, die aus ganz anderen Anlässen ganz ähnliche Sorgen umtrieben.
So entstand die Idee zu diesem Workshop. Und darüber hinaus womöglich, wie Antonovics nur halb ironisch in Aussicht stellte, zur Begründung einer neuen Wissenschaftsdisziplin, vielleicht unter dem schön vieldeutigen Namen “Disastrologie”.
Nichtstun im Angesicht des Schreckens
Warum entscheiden wir uns im Angesicht eines “looming disasters” so häufig fürs Nichtstun oder sonst eine inadäquate Reaktion? Der Psychologe Andreas Glöckner (Göttingen) versuchte diese Diskrepanz durch die Notwendigkeit zu erklären, sich in einer komplexen Welt voller Unsicherheiten schnell entscheiden zu müssen. Tatsächlich ist die Fülle der Informationen oft viel zu groß und die Zeit viel zu knapp, um uns nach Wägung aller verfügbarer Pros und Kontras (oder auch nur auf Basis heuristischer Faustregeln) für die Option zu entscheiden, die uns den größten Gewinn verspricht. Stattdessen wählen wir die Option, die sich am mühelosesten in eine kohärente Interpretation des Geschehens einfügt. Glaubt man verstanden zu haben, was man vor sich hat, dann ergibt sich daraus, welche Informationen man für relevant hält und welche nicht, und daraus wiederum ergibt sich, was man zu tun hat. Man macht sich blind für die katastrophalen Folgen des eigenen Handelns und für Warnsignale, die nicht zu dem so konstruierten Weltbild passen. Erst wenn das Weltbild zusammenbricht, ändert man sein Verhalten, und zwar abrupt, übergangslos und unkoordiniert – was seinerseits katastrophale Folgen wie Bank-Runs oder Massenpanik haben kann.
Der Hang zur Fehlentscheidung im Angesicht der Katastrophe wäre somit in jeden Einzelnen quasi kognitionsbiologisch eingebaut. Aber was sagt uns das über die Art, wie arbeitsteilige, gesellschaftliche Institutionen mit Risiken umgehen?
Vom Klimawandel bis zu Ebola ist für die meisten wirklich großen Katastrophen kennzeichnend, dass sie erstens nur in einer gemeinsamen, koordinierten Anstrengung Vieler abgewendet werden können und zweitens die Ressourcen, Interessen und Kosten dabei höchst unterschiedlich verteilt sind. Dazu kommt drittens, dass jeder Einzelne womöglich am besten davon kommt, wenn er sich drückt und darauf setzt, dass die anderen die Kosten schultern. Nichtstun kann aus dieser Perspektive eine vollkommen rationale Handlungsoption sein.
Ökonomen bauen komplexe spieltheoretische Modelle, um solche Entscheidungskonstellationen zu rekonstruieren und nach ihren Erfolgsaussichten zu ordnen. Todd Sandler (Dallas) und Scott Barrett (Columbia) stellten solche Modelle zur Diskussion. Sie alle beruhen aber auf der Annahme, dass man die positiven und negativen Folgen in Dollar und Cent berechnen und so miteinander saldierbar machen kann. Aber kann man das?
Nutzen und Kosten der Kosten-Nutzen-Analyse
Die Juristin und Ökonomin Susan Rose-Ackerman (Yale) nahm sich die Anstrengungen von EU-Kommission und OECD vor die Flinte, in Europa die Politik durch Kosten-Nutzen-Analysen zu rationalisieren. Bei “looming disasters”, so Rose-Ackerman, sei ein solcher “angewandter Utilitarismus”, der allen erwartbaren Nutzen gegen alle erwartbare Kosten zu saldieren versucht, nicht nur keine Hilfe, sondern regelrecht schädlich. Wenn es um die Prävention großer, sich über lange Zeiträume entwickelnder Katastrophen wie den Klimawandel gehe, prämiere die Kosten-Nutzen-Analyse politische Kurzsichtigkeit, da in der Zukunft liegende Kosten und Nutzen diskontiert in die Analyse einfließen und bei langen Zeiträumen gegen Null tendieren. Aus dieser Sicht spricht überhaupt nichts dagegen, erst einmal nichts zu tun und künftige Generationen die Zeche zahlen zu lassen.
Immerhin: Kosten-Nutzen-Analyse mache die Alternativen klar (Scott Barrett) und erleichtere es, mit den politischen Entscheidungsträgern zu kommunizieren (Todd Sandler), versuchten einige Ökonomen eine Ehrenrettung. Der Jurist Christopher McCrudden (Belfast) warf ein, dass zumindest die eng verwandte Methode des Impact Assessment (in etwa: Gesetzesfolgenabschätzung) erlaube, gerade auch nicht markttaugliche Werte wie Menschenrechte ins Auge zu fassen.
Bei den meisten am Tisch überwog indessen die Skepsis. Der Ökonom Martin Hellwig (MPI Bonn) geißelte die von allen Wertentscheidungen abstrahierende Kosten-Nutzen-Analyse als “Fake-Positivismus”, der Kompensationsmöglichkeiten für die Belasteten in Aussicht stelle, die in der Praxis nie geleistet würden: “This is what gives economics a bad name!” Die Experten der Kosten-Nutzen-Analyse, forderte Susan Rose-Ackerman, sollten nicht so so tun, als wüssten sie ex cathedra über die richtige Antwort auf alle gesellschaftlichen Wertungsfragen Bescheid – diese Antworten zu geben, sei Sache demokratischer Aushandlungsprozesse. Alle Kosten und Nutzen mit dem gleichen Maß zu messen, heiße sich um die Möglichkeit politischer Kompromisse zu bringen, ergänzte Anne van Aaken.
Apropos Expertokratie
Expertenwissen versus Volkswillen: mit diesem uralten Dilemma muss sich die Wissenschaft, wenn es um Katastrophen und deren Abwendung geht, auch jenseits ökonomischer Rationalisierungsversuche beschäftigen. Das wurde insbesondere deutlich, als der Jurist Jonathan Wiener (Duke) seinen Vortrag mit dem beziehungsreichen Titel “The Tragedy of the Uncommons” hielt.
Mit “Uncommons” meint Wiener sehr, sehr seltene, aber auch sehr, sehr katastrophale Risiken. Sehr selten im Sinn von Teilchenbeschleuniger-erzeugt-Schwarzes-Loch-selten. Oder Asteroid-schlägt-ein-und-vernichtet-alles-Leben-auf-der-Erde-selten. Oder Marssonde-kehrt-zurück-und-hat-extraterrestrische-Keime-an-Bord-selten – alles Beispiele, die Wiener ohne Zeichen von ironischer Distanzierung anführte. Während die Öffentlichkeit vertrautere, wenngleich immer noch seltene Risiken (Flugzeugabstürze, Minenunglücke) in der Regel dramatischer beurteile als die Experten, so Wiener, sei es bei solchen völlig unvertrauten Risiken umgekehrt: Sie würden, gemessen an dem, was auf dem Spiel steht, systematisch unterschätzt. Um so mehr gehörten die Experten, die diese “Uncommons” erforschen und Präventionsmöglichkeiten entwickeln, gefördert und ihre Warnungen beachtet.
An Leuten, die das Label Experte für sich in Anspruch nehmen können, fehlte es wahrhaftig nicht um den Tisch. Aber das war den meisten dann doch zu viel. In einer Welt mit sehr ungleich verteilten Lebenschancen sei es tatsächlich für viele Menschen vollkommen rational, wenn sie zu dem Schluss kommen, dringlichere Probleme zu haben, als sich vor Asteroiden und Mars-Bakterien zu ängstigen, wandte der Philosoph Philip Kitcher (Columbia) ein. Die Ökonomin und Historikerin Deidre McCloskey (Illinois/Chicago) erinnerte daran, dass Experten vom Nuklearen Winter bis zu Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen schon viele Katastrophen prophezeit haben, die sich nicht realisierten. Die Vielfalt der vorstellbaren Schrecken sei in der Moderne enorm gewachsen – sei die Gefahr nicht eher, dass sich alle permanent nur noch in hysterischer Angst vor Weißgottnichtallem herumwälzen?
Schade, dass an dieser Stelle kein Religionssoziologe zugegen war, der die Diskussion um Einsichten zur Rolle apokalyptischer Erlösungs- und Zeitenwendefantasien hätte bereichern können. Der Klimaforscher Detlef Sprinz (Potsdam) immerhin brachte die Sprache auf die Apokalypse des Johannes, das letzte Buch der Bibel. Und die Literaturwissenschaftlerin Françoise Lavocat (Paris III) steuerte die Beobachtung bei, dass die zeitgenössische Literatur sich, anders als die des 18. Jahrhunderts, vor allem mit Katastrophen von mythischen Dimensionen beschäftige – und zwar mit Vorliebe mit solchen, wie sie Wiener als Beispiel anführe, vom Asteroideneinschlag (“Armageddon”) bis zur Machtübernahme künstlicher Intelligenz (“Matrix”).
Ein weiterer Grund, warum Experten bisweilen Demut walten lassen sollten, kam in anderem Kontext auf. Der Biologe Janis Antonovics brachte im Rahmen seiner Klage, dass die medizinische Forschung sich so hartnäckig den Erkenntnissen der Evolutionsbiologen zur Antibiotika-Resistenz von Erregern verschließt, die Rede auf die selbstreferenzielle Art, wie wissenschaftliche Communities nun einmal funktionieren: Was zählt in der Wissenschaft, ist der Applaus der eigenen Fachkollegen, und den bekommt man nicht unbedingt, wenn man Wissen propagiert, das von außerhalb stammt. Das könne man durchaus generalisieren, merkte Susan Rose-Ackerman an. Auch Martin Hellwig fühlte sich stark an die Gepflogenheiten seiner eigenen Ökonomendisziplin erinnert. Was die Wissenschaft gerade als Riesenkatastrophe empfindet und was nicht, so der Eindruck, ist oft weniger eine Frage der Erkenntnis als des akademischen Herdentriebs.
The Power of Narrative
Trotzdem: Das Problem, dass die Wissenschaft angesichts drohender Katastrophen wenig ausrichten kann, wenn ihr keiner zuhört, ist real. Anne van Aaken fragte, ob die Wissenschaft nicht mehr Geschick entwickeln sollten, Geschichten zu erzählen und die Menschen auch emotional zu erreichen. Die Literaturwissenschaftlerin Françoise Lavocat dämpfte ihren Optimismus: Dass die Leute gern in Katastrophenfilme gehen, habe nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass sie sich dort belehren lassen wollen: Es handelt sich ja gottseidank um Fiktion.
Um so energischer ermunterte der Biologe Peter Kareiva die Wissenschaft, auf “the power of narrative” zu setzen, wenn sie etwas bewirken wollen. Das hängt damit zusammen, dass Kareiva – als einziger in der Runde – kein akademischer Wissenschaftler ist, sondern Chief Scientist einer NGO, nämlich der weltgrößten Umweltorganisation Nature Conservancy (und in dieser Funktion offenbar gerade im Auge eines umweltaktivistisch-wissenschaftlichen Hurrikans). Sein Rat an die Wissenschaft: nicht Alarm wegen irgendeiner Katastrophe am Horizont schlagen, die niemand abwenden kann und für die sich niemand verantwortlich fühlt (Stichwort: “2 Grad Celsius Temperaturerhöhung!!”). Sondern an Problemen ansetzen, die diejenigen treffen, die man zum Handeln bewegen will. Wer im erzkonservativen Texas die Manager von Dow Chemical dazu bringen wolle, gegen den Klimawandel aktiv zu werden, dürfe ihnen nichts von irgendwelchen Tipping Points erzählen, sondern müsse sie beim Trinkwasser packen, das in Texas knapp wird, wenn man nichts tut.
Nun bin ich als Betreiber des Verfassungsblogs der Letzte, der widersprechen würde, wenn jemand mehr Interaktion der Wissenschaft mit der politischen Öffentlichkeit fordert; das wäre ja auch noch schöner. Eins würde ich aber aus meiner journalistischen Erfahrung hier beisteuern wollen. Während meiner Zeit als Redakteur einer großen Tageszeitung hatte ich Gelegenheit, mehrere epidemologisch-mediale Boom-and-Bust-Zyklen mitzuerleben: BSE, Vogelgrippe, SARS, you name it. Oder erinnert sich noch jemand an das “Y2K-Problem”? Als wir alle glaubten, Schlag null Uhr am 1.1.2000 gehen alle Lichter aus?
Am Anfang all dieser Episoden standen Experten, die vor Katastrophen warnten: sehr mächtige Narrative, und sehr erfolgreich. Die Öffentlichkeit reagierte, und es kam zu einer Feedbackschleife, je mehr die Öffentlichkeit von Angst ergriffen wurde, desto soghafter wurde ihre Nachfrage nach Informationen, die diese Angst nährten und immer weiter wachsen ließen, bis irgendwann jemand bemerkte, dass eigentlich gar nicht allzu viel passiert war, und die ganze Riesenwelle binnen Stunden in sich zusammenkrachte.
Ich will damit nicht zu Zynismus aufrufen, im Gegenteil. Mir kommt es nur darauf an, dass man als Wissenschaftler das Pferd namens “Power of Narrative” nicht allzu naiv besteigen sollte, denn wohin es mit einem galoppiert, kann man oft nicht kontrollieren. Und so viel weiß ich als Journalist: die Öffentlichkeit ist zwar geduldig und macht am Ende doch jede Massenhysterie immer wieder freudig mit, aber irgendwann wird es auch ihr zuviel. Ihre Alarmierbarkeit ist ein zwar reichlich vorhandenes, aber doch begrenztes Gut, und die Wissenschaft muss sich gut überlegen, wie viel davon sie abruft und wofür sie es einsetzt. Sonst ist eines Tages, wenn es wieder mal ganz duster am Horizont aussieht, womöglich nichts mehr davon da.
Und das wäre wirklich eine Katastrophe.
*Full Disclosure: Der Verfassungsblog unterhält seit 2011 eine Kooperation mit dem Forschungsverbund Recht im Kontext am Wissenschaftskolleg.
Vielen Dank für diesen hochinteressanten Bericht über eine anregend multidisziplinäre Tagung. Allen, denen jetzt auch ein bischen schwindlig ist ob so vieler Katastrophen, Apokalypsen und Hypes sei zur Ernüchterung Gerd Gigerenzers Buch über die Psychologie des Risikos empfohlen, in dem auch der Umgang von Wissenschaft und Medien mit Ungewissheit thematisiert wird – und das gerade für die juristischen Leser und Leserinnen des Verfassungsblogs (und für alle andern) viel Stoff zum Nachdenken bietet: https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/aktuelles/aktuelle-forschungsergebnisse/risiko-wie-man-die-richtigen-entscheidungen-trifft