08 September 2025

Existenzminimum im Schatten nationaler Migrationspolitik

Wie der ewige „Herbst der Reformen“ im Asylsozialrecht zu immer dysfunktionaleren Ergebnissen führt

Auch in der Sommerpause blieben die deutsche Flüchtlingsaufnahme und der Sozialleistungsbezug von Geflüchteten Thema. Sozialministerin Bärbel Bas hat für den „Herbst der Reformen“ einen Referentenentwurf vorgelegt, der die Eingliederung der Ukraine-Geflüchteten in das Asylbewerberleistungsgesetz vorsieht. De facto werden die Kosten damit nicht wesentlich verringert, sondern vor allem in die Verantwortung der Länder und Kommunen gelegt. Dies ist vor dem Hintergrund, dass die Regierung gerade die „Auslastung der Kommunen“ in der Flüchtlingsaufnahme als Argument für die Zurückweisungen an den Grenzen anführt, eine merkwürdige Dynamik. Diese erklärt sich jedoch als Teil eines größeren Grunddilemmas: der Spannung zwischen verfassungsrechtlich geschütztem Existenzminimum und dem Drang zu politischem Aktionismus in der Thematik. Diese grundlegende Spannung (1) hat sich, so die These des Beitrags, mittlerweile derart verhärtet, dass sie auch mit Blick auf die rechtliche Systematik dysfunktionale Folgen verursacht: Sie führt (2) zu – grob gesagt – „schlechtem Recht“, drängt (3) Gerichte in die Rolle ständiger Rechtsfortbildung und bedingt (4) eine Rechtsprechung, die nicht zuletzt die europäische Integration gefährdet. Diese Entwicklungen haben zudem (5) Konsequenzen nicht nur für die Existenzsicherung von Geflüchteten – diese postfaktische Migrationspolitik gefährdet auch das Ansehen der Gerichte.

Keine besten Freunde: Der Rechtsaktionismus in der Existenzsicherung und das Verfassungsrecht

Die Reform der Sozialministerin bedient also erneut das Narrativ, Geflüchtete hätten „zuviel“. Maßstäbe in der Flüchtlingsaufnahme werden in diesem Sinne seit Jahren systematisch heruntergeschraubt, von AnkER-Zentren und verlängerten Fristen in Erstaufnahmeeinrichtungen über Kürzungen auf das physische Existenzminimum und Sachleistungen. Hier herrscht seit jeher der ewige Herbst der Reformen. Das Bundesverfassungsgericht hat der Einschränkung des Existenzminimums für Geflüchtete in Deutschland jedoch eine klare grundrechtliche Grenze gesetzt: Das Existenzminimum ist migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 – 1 BvL 2/11; BVerfG – BVerfG, Beschl. v. 19. 10.2022 – 1 BvL 3/21). Einschränkungen im Bereich des Existenzminimums müssen deshalb auf nachvollziehbaren Erkenntnissen zu tatsächlichen Minderbedarfen beruhen (BVerfG, Beschl. v. 19.10.2022 – 1 BvL 3/21, Rn. 59). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Asylsozialrecht ist Ausdruck seiner evidenzbasierten Verhältnismäßigkeitsabwägung im Existenzsicherungsrecht: Einschränkungen in der Existenzsicherung sind insofern nur dann verhältnismäßig, wenn der Minderbedarf oder die Wirkung der Sanktion hinreichend verlässlich nachvollzogen werden kann (BVerfG, Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, Rn. 134). Dennoch versucht die Politik immer wieder, die Grenzen des Existenzminimums durch willkürliche Kürzungen zu unterschreiten und im Asylsozialrecht nationalen ordnungspolitischen Motiven wie der Abschreckung und Beschleunigung von Asylverfahren unterzuordnen. Insbesondere im Zuge der zunehmenden Ideologisierung der Migrationsdebatte wird entgegen bestehender verfassungsrechtlicher Rechtsprechung agiert und an den rechtlichen Pfeilern des Existenzminimums gesägt.

Das AsylbLG als Beispiel „schlechter Gesetzgebung“

Während die Politik im Asylsozialrecht meint, schnelle „Erfolge“ erzielen zu können, wird das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) immer unübersichtlicher. Der hektische und unsystematische Rechtsaktionismus führt dazu, dass sich zunehmend nicht mehr aus dem Gesetzestext des AsylbLG selbst erkennen lässt, welches geschriebene Gesetz eigentlich noch wie gilt. Die generelle Systematik des AsylbLG leidet dadurch.

Ins Auge fallen insbesondere die schlichtweg toten Normen im AsylbLG. § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG sieht weiterhin vor, dass die Leistungen in Aufnahmeeinrichtungen eingeschränkt werden können, da die Geflüchteten dort „Bedarfsgemeinschaften“ bilden würden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung bereits 2022 für verfassungswidrig erklärt (BVerfG, Beschl. v. 19.10.2022 – 1 BvL 3/21). Der Gesetzgeber hat die Entscheidung trotz mehrerer gesetzlicher Reformen des AsylbLG nicht umgesetzt, weswegen der nichtige Paragraph nach wie vor im Gesetz steht. Gleiches gilt für dessen Parallelnorm, § 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG. Auch nach dieser Norm bekommen Geflüchtete, wenn sie in Sammelunterkünften wohnen, nur einen abgesenkten Geldbetrag. Auch hier liegt aber keine empirische Grundlage für die Minderbedarfe vor. Die Gerichte wenden deshalb § 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG nicht mehr an (SG Stuttgart, Beschl. v. 14. Juni 2024 – S 11 AY 2008/24 ER) und das Bundessozialgericht hat die Frage nach deren Rechtmäßigkeit dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt (BSG, Beschl. v. 26.09.2024 – B 8 AY 1/22 R). Obwohl die Ministerien schon 2022 selbst davon ausgingen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch § 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG verfassungswidrig ist (etwa hier, S. 8440), setzt auch der aktuelle Referentenentwurf aus dem Ministerium für Arbeit und Soziales zur Änderung des AsylbLG geltendes Verfassungsrecht nicht um. Eine verfassungsrechtlich angezeigte Reform des AsylbLG, die die Rechte von Asylantragstellenden stärkt, scheint in diesen Zeiten ein schwieriges Unterfangen.

Dem folgt das „Begriffswirrwarr“ (Spitzlei, InfAuslR 2024, S. 295) der Leistungen im AsylbLG, das mit der Bezahlkarte weiter ausgebaut wurde und exemplarisch für die Symbolpolitik im Asylsozialrecht steht. Die Leistungsarten im AsylbLG reichen von „Sachleistungen“ über „Wertgutscheine“ und „unbare Abrechnungen“ bis zu „Geldleistungen“ oder „Leistungen in Geldeswert“. Wie diese sich genau voneinander unterscheiden, ist auch in der Literatur nicht wirklich klar, für die Praxis aber auch irrelevant. Auch die Unterbringungsformen selbst, Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft, sind keine eigenständig im AsylbLG definierten Leistungsformen. Was genau die Leistung „Aufnahmeeinrichtung“, was die Leistung „Gemeinschaftsunterkunft“ ausmacht, bleibt rechtlich unklar.

Neben diesen Unklarheiten führen die migrationspolitischen Vorgaben im AsylbLG trotz der zahlreichen Überlastungsdebatten zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand: Die teure Unterbringung in Massenunterkünften, die Verwaltung der Bezahlkarten nebst Einzelfallentscheidungen über den Barbetrag und die Leistungsform (etwa Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2025 – L 8 AY 55/24 B ER) müssen letztlich von den Kommunen gestemmt werden (zur Überlastungsdebatte: Engler, DÖV 2025, i.E.).

Gerichte werden zur Rechtsfortbildung gezwungen

Die unsystematische und verfassungswidrige Gesetzgebung im AsylbLG führt dabei auch dazu, dass den Gerichten im deutschen Asylsozialrecht die Aufgabe aufgezwungen wird, vermehrt Rechtsfortbildungen zu betreiben. Ungeschriebene Tatbestandsmerkmale, wie sie in anderen Gesetzestexten die Ausnahme darstellen, sind im Asylbewerberleistungsgesetz gang und gäbe. Dass Gerichte geltendes Recht auslegen und gegen den Willen der Politik durchsetzen, ist nicht ungewöhnlich, sondern gerade Teil der Gewaltenteilung. Allerdings wird durch den rasanten Rechtsaktionismus im AsylbLG, der oftmals rechtswidrig oder dysfunktional ist, ein Ausmaß an Rechtsfortbildungen erreicht, das den Gesetzgebungsprozess konterkariert. Die Gerichte werden gerade derzeit wie in keinem anderen Gesetz in die Rolle gebracht, vom Gesetzestext abzuweichen: Um die Normen verfassungs- bzw. europarechtskonform anwenden zu können, müssen Gerichte regelmäßig zusätzliche Tatbestandsmerkmale kreieren oder Normen gar unangewendet lassen. Die Politik erlässt sehenden Auges rechtlich höchst fragwürdige Gesetze, um ein Handeln in Sachen Migrationseindämmung vorzeigen zu können, im Wissen, dass diese vor den Gerichten nicht standhalten werden. Das AsylbLG wird dabei zunehmend zu einem „Richterrecht“; eine Dynamik, die vor allem dem Ansehen der Gerichte in der ohnehin polarisierten Debatte schadet.

Das jüngste Beispiel hierfür ist der neu eingeführte Leistungsentzug nach § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG für Dublin-Geflüchtete, der von den Gerichten durchgehend als europarechtswidrig und mit dem Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für unvereinbar gehalten wird. Den Dublin-III-Geflüchteten sollen nach dem neuen § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG sämtliche Leistungen entzogen werden, sobald eine Abschiebung angeordnet wurde – „auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist“. Für eine Maximaldauer von zwei Wochen können sie Überbrückungsleistungen erhalten, sprich Bett, Brot und Seife. Dieser neueste Leistungsentzug wird von den Gerichten (und der rechtswissenschaftlichen Literatur, etwa Frerichs, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 09.04.2025), Rn. 201) für rechtswidrig gehalten. Er ist zunächst europarechtswidrig, weil für die Dublin-III-Geflüchteten sowohl die alte (Richtlinie 2013/33/EU) als auch die neue Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2024/134/EU) nach Art. 2 Aufnahmerichtlinie so lange gilt, bis eine bestandskräftige Entscheidung über den Asylantrag ergangen ist. Der Leistungsentzug verletzt zudem das verfassungsrechtliche Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, da er einen vollständigen Leistungsausschluss vorsieht, mit primär migrationspolitischen Erwägungen: Minderbedarfe müssen jedoch auch bei kurzfristigen Aufenthalten, das heißt für alle Hilfsempfänger bis zum Ende ihres Aufenthalts, nachvollziehbar bemessen werden (SG Karlsruhe, Beschl. v. 19.02.2025 – S 12 AY 424/25 ER – juris, Rn. 19). Einige Behörden haben insofern damit begonnen, Weisungen zu erteilen, das Gesetz entsprechend so auszulegen, dass die Überbrückungsleistungen bis zur tatsächlichen Ausreise erbracht und nicht vollständig entzogen werden (vgl. Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration Rheinland Pfalz, S. 7). Der Leistungsentzug ist aber auch schlichtweg nicht praktikabel: Eine freiwillige Ausreise innerhalb von zwei Wochen ist in Dublin-Fällen nicht möglich. Geflüchtete im Dublin-III-Verfahren werden im Regelfall abgeschoben, jedenfalls im Rahmen einer staatlich überwachten Ausreise überstellt (Wittmann, S. 81 m. w. N.).

All dies haben auch bereits die Sachverständigen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens im Innenausschuss dargelegt (Wittmann, S. 82 und Lincoln). Die Ampel-Koalition entschied sich dennoch, das unsystematische und höchstwahrscheinlich rechtswidrige Gesetz zu erlassen.

Nationale Migrationsinteressen vor europäischer Integration: Das Bundesverwaltungsgericht und die „Schattenwirtschaft“

Auch auf europarechtlicher Ebene wird es nun dysfunktional – und zwar bei der Frage der humanitären Situation der Flüchtlingsaufnahme, etwa in Griechenland oder Italien. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in einer Entscheidung Anfang dieses Jahres entschieden, dass Zurückweisungen von nicht vulnerablen Geflüchteten nach Griechenland mit Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK vereinbar sind, sie dort also keine erniedrigende, unmenschliche Behandlung erwartet. Die Entscheidung des BVerwG liest sich dabei beispielhaft für die Spannung zwischen den rechtlichen Grenzen des Existenzminimums und nationaler Migrationspolitik: Es kann sich nicht gänzlich vom (auch europarechtlich geschützten) Existenzminimum freisagen, verwässert dieses jedoch bis zur Unkenntlichkeit, um – wie in diesem Fall – Rückführungen zu ermöglichen.

Dabei stellt das Gericht fest, dass der Kläger keine Wohnung auf dem regulären Wohnungsmarkt finden wird, sondern in Notunterkünften unterkommen muss. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt dabei selbst die begrenzte Datenbasis seiner Entscheidung an (BVerwG, Urt. v. 16.04.2025 – 1 C 18.24, Rn. 43) und stützt seine Entscheidung dennoch darauf. Dies ist einerseits problematisch, weil aktuelle Berichte zur Situation in Griechenland durchaus starke Versorgungslücken in der Grundversorgung von Geflüchteten, also auch in der Unterbringung, sowie eine Überforderung von NGOs, diese Lücken aufzufangen, statuieren (Pro Asyl/Refugee Support Aegean, S. 2 f.; Democratic Lawyers of Switzerland et al., Expert Opinion, S. 35). Das BVerwG greift hier also auf äußerst „ausgewählte“ Informationen vor Ort zurück. Gerade vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des EGMR, die eine ausreichende Informationsbasis zu systemischen Defiziten in den Hilfssystemen zur Bedingung für Rückführungen nach Griechenland macht (EGMR, Urt. v. 15.10.2024, H.T. v. GERMANY AND GREECE, Rn. 145), scheint andererseits auch die rechtliche Würdigung fraglich: Ob das Gericht mit einer so spärlichen Datenlage begründen kann, dass Geflüchtete in Griechenland nicht gefährdet sind, unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden, kann angezweifelt werden (so auch VG Hamburg, Beschl. v. 15.05.2025 – 15 B 2836/25 – juris, Rn. 34f.; VG Oldenburg, Beschl. v. 24.07. 2025 – 12 B 5698/25 – juris, Rn. 15).

Darüber hinaus geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Kläger zwar keine staatlichen existenzsichernden Leistungen in Griechenland erhalten werde, seinen Unterhalt jedoch in der „Schattenwirtschaft“ bestreiten könne (BVerwG, Urt. v. 16.04.2025 – 1 C 18.24, Rn. 44). Die Rechtsprechung zur Schattenwirtschaft ist nicht gänzlich neu, sondern hat sich seit einigen Jahren in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts etabliert (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.11.2024 – 1 C 24.23; BVerwG, Urt. v. 21. 04.2022 – 1 C 10.21). Sie ist zu Recht umstritten: Pro Asyl und einige Verwaltungsgerichte (VG Oldenburg, Beschl. v. 24.07.2025 – 12 B 5698/25, Rn. 16; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 23.08.2024 – 18a L 1299/24.A) zweifeln die Europarechtskonformität der Rechtsprechung an. Flüchtlinge in die Schattenwirtschaft anderer Staaten zu schicken, verstoße gegen das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit, Art. 4 Abs. 3 S. 1 EU-Vertrag, „welches die rechtliche oder tatsächliche Hintertreibung des Unionsrechts und der zu ihrem Vollzug ergangenen Rechtsvorschriften verbietet“ (VG Oldenburg, Beschl. v. 24.07.2025 – 12 B 5698/25, Rn. 16). Die EU hat erst 2019 eine gemeinsame Behörde eingerichtet, die die gemeinsame Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbsarbeit forciert (vgl. Verordnung 2019/1149/EU). Das BVerwG führt in seinem Urteil lediglich zwei Entscheidungen zur Begründung an, dass der Verweis auf die Schattenwirtschaft nicht gegen Europarecht verstößt (BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 01.04.2025 – 2 BvR 1425/24 und EuGH, Urt. v. 02.10.2019 – C‑93/18, Bajratari). Keine der beiden Entscheidungen hat jedoch zur Frage entschieden, ob ein Mitgliedstaat Geflüchtete mit Verweis auf die Schattenwirtschaft in einen anderen Mitgliedstaat rückführen darf – und die Schattenwirtschaft dort sozusagen als notwendige Bedingung der Rückführung ‚fördert‘. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verwässert die Grenzen des Existenzminimums für Geflüchtete nicht nur im äußersten Maße, sondern konterkariert die europäische Integration – um nationalen Interessen in der Migrationspolitik gerecht zu werden. Das Urteil spricht merkwürdig selbstverständlich von dem „Arbeitskräftebedarf in der Schattenwirtschaft“ in Griechenland, insbesondere im „Tourismus oder der Landwirtschaft“ (BVerwG, Urt. v. 16.04.2025 – 1 C 18.24, Rn. 49). Eine solche laissez-faire Haltung in Bezug auf die Schwarzarbeitsbekämpfung eines Mitgliedstaats bei einem obersten deutschen Fachgericht vorzufinden, kann doch sehr erstaunen.

Die eigentlichen Kosten: Die Debatte um das Existenzminimum ist mehr als eine rechtsdogmatische Frage

Unabhängig davon, wie die Rechtsprechung und die gesetzlichen Einschränkungen des Existenzminimums aus rechtlicher Sicht zu bewerten sind: Der Mythos der lockenden Sozialleistungen ist und bleibt empirisch nicht belegt. Es handelt sich bei den Leistungseinschränkungen also vielmehr um symbolische Gesetze, deren tatsächliche Wirkungen beschränkt sein dürften: Sozialleistungen sind auch nach den Studien des BAMF selbst kein gesicherter „Pull“ Faktor (etwa hier, S. 157ff.). Die Tendenz des politischen Aktionismus in der Thematik ist aber aus drei Gründen äußerst bedenklich: Erstens erhöhen die Angriffe auf das Existenzminimum für die Geflüchteten selbst die reale Gefahr einer weiteren (rechtlichen) Prekarisierung, die mit der kompletten Leistungsstreichung bis hin zur Obdachlosigkeit geht. Zweitens ist es für einen faktenbasierten Diskurs zu Migration – und Politik generell – problematisch, wenn die Mythen zur Migration (siehe hierzu Fluchtforschung gegen Mythen) immer wieder aufs Neue reproduziert werden. Und drittens geraten in diesem migrationsfeindlichen und hochideologisierten Klima Gerichte, deren Urteile die Rechte von Geflüchteten stärken, zunehmend unter Druck (siehe Statement Bundesrechtsanwaltskammer). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat eine klare Judikatur zum menschenwürdigen Existenzminimum entwickelt, die migrationspolitischen Relativierungen des Existenzminimums Grenzen setzt und Kürzungen auf empirisch nachweisbare Minderbedarfe stützt. Wann sich die Debatte zur Existenzsicherung wieder stärker auf empirisch gefestigtem Boden bewegt, ist derzeit nicht absehbar. Solange bleibt es die mühsame Aufgabe der Rechtswissenschaft, die faktenbasierte Rechtskultur des Bundesverfassungsgerichts, auch zum Schutz ihrer eigenen Autonomie, umfassend zu verteidigen.


SUGGESTED CITATION  Engler, Anne-Marlen: Existenzminimum im Schatten nationaler Migrationspolitik: Wie der ewige „Herbst der Reformen“ im Asylsozialrecht zu immer dysfunktionaleren Ergebnissen führt, VerfBlog, 2025/9/08, https://verfassungsblog.de/existenzminimum-migrationspolitik-asylsozialrecht/, DOI: 10.59704/1ae5e4f9562f8617.

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