13 October 2025

Akuter Klärungsbedarf

Zur Gesundheitsversorgung und sogenannten Behandlungsscheinen im Asylbewerberleistungsgesetz

Die Existenzsicherung nicht nur geflüchteter Menschen sorgt immer wieder für politische Kontroversen. Jüngstes Beispiel sind vorgesehene Kürzungen im SGB II. Auch die Gesundheitsversorgung von Leistungsberechtigten nach AsylbLG ist politisch umstritten. Dies liegt nicht nur am Gesetz, sondern auch an der Gesetzesausführung. Bei der Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) erteilen Leistungsbehörden häufig sogenannte „Behandlungsscheine“ und machen von diesen teilweise einzelne Besuche bei Ärzt*innen abhängig. Dabei hat das Bundessozialgericht klargestellt, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht von einer vorangegangenen Genehmigung in Form eines Behandlungsscheines abhängt. Zudem umfasst der Anspruch mehr als nur die Behandlung akuter Erkrankungen im medizinischen Sinne, wie der Wortlaut und die Vordrucke für Behandlungsscheine suggerieren. Hier besteht akuter Klärungsbedarf.

Grundlegendes zum AsylbLG

Das AsylbLG ist ein Sondersozialgesetz zur Existenzsicherung von hilfebedürftigen Asylsuchenden, geduldeten Menschen sowie Inhaber*innen bestimmter Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen (§ 1 Abs. 1 AsylbLG). Die Gesundheitsversorgung inklusive der Pflege ist dabei Teil des menschenwürdigen Existenzminimums (BVerfG Beschluss v. 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, Rn.90; BVerfG Beschluss v. 6.12.2005 – 1 BvR 347/98). §§ 4, 6 AsylbLG sollen eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung sichern.

Wichtig ist dabei: Nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG sind auch minderjährige Kinder von dem abgesenkten Leistungsniveau im AsylbLG betroffen. Nach aktuell 36-monatigem tatsächlichem – und bei Erwachsenen nicht rechtsmissbräuchlichen – Aufenthalt im Bundesgebiet erhalten Leistungsberechtigte sogenannte Analogleistungen auf Sozialhilfeniveau (§ 2 AsylbLG). Doch auch hier bestehen Einschränkungen. Da das AsylbLG formal weder Teil des SGB noch der in § 68 SGB I definierten besonderen Teile des SGB ist, richtet sich seine Ausführung grundsätzlich nach dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht der Länder. Allerdings: Gemäß § 6b AsylbLG gilt der sozialhilferechtliche Kenntnisgrundsatz des § 18 SGB XII. Dieser ist besonderes hinsichtlich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung relevant.

Kein Antragserfordernis

Nach § 6b AsylbLG, § 18 SGB XII entsteht der Behandlungsanspruch bei einer Erkrankung, sobald dem zuständigen Leistungsträger oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Alternativ genügt es, wenn ein nicht zuständiger Leistungsträger oder eine nicht zuständige Gemeinde über die Beanspruchung von AsylbLG-Leistungen Kenntnis erlangt.

Das heißt: Es bedarf keiner Bewilligung eines Antrags, um die existenzsichernden AsylbLG-Leistungen in Anspruch zu nehmen – schon gar nicht in Form eines Formulars. Dennoch ist immer wieder zu hören (und auch auf diesem Blog zu lesen), eine medizinische Behandlung sei regelmäßig erst nach Genehmigung durch einen Behandlungsschein möglich. Das BSG hat dem 2024 eindeutig widersprochen:

„Die vorangehende Genehmigung eines Krankenhausaufenthalts durch den Träger der Leistung sieht das Gesetz – anders als der Beklagte ohne weitere Begründung meint – nicht vor.“ (BSG, Urteil v. 29.2.2024 – B 8 AY 3/23 R, BSGE (vorgesehen), SozR 4-3520 § 4 Nr 2 (vorgesehen), Rn. 14.).

Behandlungsdringlichkeit statt Akuität

Die Gesundheitsversorgung im AsylbLG richtet sich nach § 4. § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG gewährt ausdrücklich einen Anspruch auf „erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen“. Außerdem begründet § 4 Abs. 2 AsylbLG Ansprüche für werdende Mütter und Wöchnerinnen, während Abs. 3 Impfschutz vermittelt.

Dem Leistungsumfang nach unterscheiden sich die „zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderliche Leistungen“ in § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG dabei kaum von den Leistungen, die die gesetzliche Krankenversicherung gemäß § 27 Abs. 1 SGB V gewährt. Die Schlechterstellung findet vielmehr bei den Anspruchsvoraussetzungen statt: auf solche Leistungen, die „zur Behandlung akuter Erkrankungen“ erforderlich sind. Dieser Wortlaut schließt die Behandlung chronischer Erkrankungen aus – selbst, wenn diese potenziell tödlich sind (so schon Gehring, info also 2025, 208, 212, 215).

Das BSG hat dieser engen Lesart eine klare Absage erteilt. Im Urteil vom 29. Februar 2024 (B 8 AY 3/23 R) stellte es klar: Leistungen sind auch dann zu gewähren, wenn chronische oder wiederkehrende Erkrankungen „dringend behandlungsbedürftig“ sind. Maßgeblich ist demnach die Behandlungsdringlichkeit, nicht die Akuität im medizinischen Sinn. Leistungen sind daher auch bei chronischen oder wiederkehrenden Erkrankungen zu gewähren, sofern eine Behandlung medizinisch unaufschiebbar ist:

„Der Begriff der von § 4 Abs 1 Satz 1 AsylbLG erfassten ‚akute Erkrankung‘ ist […] dahin auszulegen, dass unter eine ‚akute Erkrankung‘ bei bestehenden (ggf. chronischen) Erkrankungen auch ein laufender Behandlungsbedarf oder ein neu eingetretener Behandlungsbedarf wegen einer Verschlimmerung fällt, der eine Behandlung aus medizinischen Gründen unaufschiebbar werden lässt.“ (BSG, Urteil vom 29. Februar 2024 – B 8 AY 2/23 R, Rn. 29, juris)

Dabei stützt sich das BSG sowohl auf verfassungsrechtliche Vorgaben als auch auf die EU-Aufnahmerichtlinie. Es stellt jedoch ausdrücklich klar, dass damit nicht die Unterschiede zum SGB V eingeebnet werden, sondern lediglich eine medizinische Mindestversorgung sichergestellt werden soll (siehe Gehring, a.a.O.). In diesem Sinne begrenzt das Gericht den Anspruch, indem es betont, dass die Leistungen „vorübergehend“ konzipiert seien. Behandelt werden muss aber, wenn andernfalls eine irreversible oder akute Verschlechterung während des (prognostisch) verbleibenden Aufenthalts in Deutschland droht. Es kommt also darauf an, ob und wann bei Beginn einer Behandlung die Umsetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu erwarten sind und ob angesichts dessen (k)ein Behandlungserfolg erreicht werden kann – und nicht allein auf den Aufenthaltsstatus.

Trotz der Richtigstellung des Bundessozialgerichts halten viele Behörden – und selbst manche Menschenrechtsorganisationen – an der Fehlannahme fest, dass nach dem AsylbLG geflüchtete Menschen nur mit Schmerzmitteln versorgt werden dürften. Viele Betroffene verlassen ihre Sammelunterkünfte gar nicht erst, um ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und selbst wenn sie schließlich eine (fach-)ärztliche Praxis aufsuchen, werden notwendige Behandlungen mitunter verweigert – aus Sorge, die Kosten könnten nicht übernommen werden. Dabei gilt eindeutig: Niemand darf in Deutschland aufgrund einer behandelbaren Erkrankung unnötig leiden oder gar sterben.

Der sogenannte „Behandlungsschein“

Die gängige Verwaltungspraxis vieler Länder, die einen faktischen Genehmigungsvorbehalt für Gesundheitsdienstleistungen installiert, widerspricht dem Kenntnisgrundsatz. Das zeigt etwa das Beispiel Sachsen: Dort gibt der Vordruck „Krankenbehandlungsschein“ den Normtext des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG wortlautgetreu wieder:

„Für Asylbewerber nach § 1 AsylbLG werden gemäß § 4 AsylbLG nur die Kosten übernommen, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderlich sind.“

Weiterhin heißt es in dem Vordruck sogar:

„Die Notwendigkeit einer Krankenhauseinweisung ist zu begründen. Der Kostenträger entscheidet über die Genehmigung.“

Demnach wäre also selbst für dringendste medizinische Eingriffe zunächst die Genehmigung aus der Amtsstube nötig (ähnliches sehen Vordrucke in Hannover oder Online-Formulare in Freiburg im Breisgau vor). Das steht im klaren Widerspruch zum Gesetz. Nach § 6a S. 1 AsylbLG hat nämlich der sogenannte Nothelfer einen Erstattungsanspruch gegen den Leistungsträger, wenn eine Eilbehandlung erfolgt, bevor der Leistungsträger Kenntnis erlangt. Hier macht das Gesetz unmissverständlich deutlich, dass Krankenhausaufenthalte nicht vorab zu genehmigen sind.

Solche Formulare verwirren alle Beteiligten – die unterstützenden Sozialarbeiter*innen, behandelnde Ärzt*innen und Pflege- oder Praxisfachkräfte – und führen zu erheblicher Rechtsunsicherheit.

Ausblick

Der Wortlaut des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG ist völker– und verfassungsrechtlich überholt. Hier ist der Gesetzgeber in der Pflicht. Der Begriff der „akuten Erkrankung“ kann nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung jeden denkbaren Erkankungszustand erfassen. Bis dahin müssen die Leistungsträger, die noch mit Behandlungsscheinen arbeiten – in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen-Anhalt und Sachsen – ihre Ausgabepraxis der Rechtslage anpassen. Insbesondere sollte auf den Behandlungsscheinen nicht der Normtext abgedruckt werden.

Eine Rechtsmobilisierung durch betroffene geflüchtete Menschen selbst erfolgt nur selten – aus naheliegenden Gründen: Ein negatives Rechtsbewusstsein, fehlendes Rechtswissen, Armut und Sprachbarrieren – insbesondere beim meist schwer verständlichen Behördendeutsch – stellen erhebliche Hürden dar. Hinzu kommen häufig zusätzliche Belastungen durch (noch unbehandelte) Erkrankungen oder Behinderungen. Umso mehr gefordert ist das Hilfe- und Gesundheitssystem. Vor allem gut informierte und menschenrechtsorientiert arbeitende Sozialarbeiter*innen, aber auch Sozialbetreuer*innen in Unterkünften müssen Betroffene darüber informieren, welche Rechte sie haben und wie sie diese durchsetzen können. Auch Psycholog*innen, Ärzt*innen und Pflege- oder Praxisfachkräfte tragen entscheidend dazu bei, das Menschenrecht auf Gesundheit zu verwirklichen – der problematischen Gesetzesausführung zum Trotz.


SUGGESTED CITATION  Franke, Hannah; Gehring, Salomon: Akuter Klärungsbedarf: Zur Gesundheitsversorgung und sogenannten Behandlungsscheinen im Asylbewerberleistungsgesetz, VerfBlog, 2025/10/13, https://verfassungsblog.de/behandlungsschein-asylblg/.

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