This article belongs to our Spotlight Section » Die Egenberger-Entscheidung
29 October 2025

Grundrechtsvielfalt mit Überraschungsmoment

Zum Egenberger-Beschluss des BVerfG

Der Egenberger-Beschluss des BVerfG befasst sich nicht nur mit dem kirchlichen Arbeitsrecht, sondern zugleich mit grundlegenden Fragen des nationalen und europäischen Verfassungsrechts. Unter Einbeziehung europäischer Vorgaben konkretisiert und restrukturiert der Beschluss die rechtliche Prüfung im Falle einer Kollision zwischen religiösem Selbstbestimmungsrecht und arbeitnehmerseitigem Schutz vor Nichtdiskriminierung. Zugleich gibt er wichtige Antworten auf die Frage der gerichtlichen Kontrolldichte.

Da die Verfassungsbeschwerde in den Kategorien verfassungsrechtlicher Grenzziehung gegenüber der europäischen Integration gehalten war und dem BVerfG u.a. antrug, das Egenberger-Urteil des EuGH als kompetenzüberschreitendes Judikat unangewendet zu lassen, beförderte der Fall die Sorge vor einem erneuten Konflikt zwischen Karlsruhe und Luxemburg. Mit einer insgesamt ausgewogenen, differenzierten und vielschichtigen Entscheidung hat es der Zweite Senat vermocht, einem unnötigen Konflikt vorzubeugen und die Rechtssache auf die beiden zentralen Fragen hin auszurichten: die grundrechtliche Maßstabsbildung im europäischen Grundrechtspluralismus und die verfassungsrechtliche Anwendung dieser Maßstäbe durch die Fachgerichte im Einzelfall. Insoweit liegt die Entscheidung auf einer Linie mit der Recht-auf-Vergessen-Judikatur. Gleichwohl überrascht das Urteil durch Ausführungen zum Solange-Vorbehalt im Rahmen der Begründetheit und wirft die Frage auf, wie und wann dieser Kontrollvorbehalt künftig aktiviert wird.

Was zuvor geschah

Namenspatin des Rechtsstreits war die konfessionslose Vera Egenberger, die sich auf eine Stelle der Diakonie bewarb. Nachdem die Diakonie sich für einen bekennenden Christen entschieden hatte, forderte Frau Egenberger arbeitsgerichtlich eine Entschädigungszahlung wegen Diskriminierung aus Gründen der Religion. Das schließlich befasste BAG legte dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung des Art. 4 II der Gleichbehandlungsrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG) vor.

Die Richtlinienbestimmung konkretisiert das in Art. 21 GRCh verankerte Diskriminierungsverbot und erlaubt es den Mitgliedstaaten, die Ungleichbehandlung einer Person aus religiösen Gründen in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen vom Diskriminierungsverbot auszunehmen, wenn die Religionszugehörigkeit nach der Art der Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ angesichts des religiösen Ethos der Kirchen darstellt. Der EuGH betonte in seinem Urteil u.a., dass die Richtlinie auf die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen dem – auch in Art. 17 AEUV und in Art. 10 GRCh verankerten – Recht auf Autonomie der Kirchen einerseits und dem Recht der Arbeitnehmer auf Nichtdiskriminierung andererseits abziele (Rn. 50 f.). Er stellte zudem klar, dass die in der Richtlinienbestimmung genannten Kriterien im Einzelfall unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abzuwägen seien und die Abwägung einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen müsse (Rn. 52-54, 61 ff.). Als wenig subtilen Hinweis erinnerte der EuGH daran, dass nationales Recht, welches nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden könne, jedenfalls mit Blick auf die unmittelbare (negative) Horizontalwirkung von Art. 21 GRCh sowie Art. 47 GRCh unangewendet bleiben müsse.

Im Bemühen, die Vorgaben innerstaatlich umzusetzen, sprach das BAG Frau Egenberger eine Entschädigung zu. Gegen die Entscheidung des BAG – und mittelbar die des EuGH – wendete sich die Diakonie im Wege der Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG erklärte diese für teilweise zulässig und begründet, da das BAG den Gestaltungsspielraum verkannt habe, den die Gleichbehandlungsrichtlinie in ihrer Auslegung durch den EuGH den Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung belasse und dem Recht auf religiöse Selbstbestimmung in der Folge nicht die ihm verfassungsrechtlich zustehende Bedeutung bei der Auslegung und Anwendung des die Richtlinie umsetzenden § 9 I AGG beigemessen habe (Rn. 143).

Grundrechtsvielfalt im Spielraumbereich

Zentrales Leitmotiv der Entscheidung ist zweifelsohne die Betonung – und Bekräftigung – der (nationalen) Grundrechtsvielfalt im Spielraumbereich.

Eröffnung von Spielräumen

Der Beschluss fußt insoweit konzeptionell auf der Recht-auf-Vergessen-Judikatur, welche die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab vor dem BVerfG anerkennt, soweit das einschlägige unionale Fachrecht zwingende Vorgaben trifft, hingegen weiterhin „primär“ die Grundrechte des Grundgesetzes anwenden will, soweit das unionale Fachrecht mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume eröffnet und die Anwendung des Grundgesetzes nicht das Grundrechtsniveau des Unionsrechts bzw. unionsrechtlich spezifizierte Grundrechtsanforderungen unterläuft. Entscheidende Vorfrage für die Maßstabsdetermination ist damit die Bestimmung der Regelungsdichte des unionalen Fachrechts (Spielraumtest). Überzeugend stellt das BVerfG insoweit auf die Intention des EU-Gesetzgebers ab und arbeitet heraus, dass die Gleichbehandlungsrichtlinie einschließlich ihres Art. 4 II rahmensetzenden Charakter aufweise und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume eröffne, mithin also keine Vollharmonisierung bewirke (Rn. 155 ff.). Daher wendet das BVerfG vorliegend primär die Grundrechte des Grundgesetzes an, deren Schutzniveau nicht hinter dem der Charta zurückbleibe. Ob es insoweit wirklich keinen Unterschied macht (so Rn. 175), dass Art. 3 III 1 GG laut BVerfG keine Drittwirkung zukommt (tendenziell anders hier), während dies bei Art. 21 GRCh nach EuGH der Fall ist, darf man mit einem Fragezeichen versehen.

Unionsrechtliche Spielraumbegrenzung bzw. -rahmung

Zugleich betont das BVerfG aber zutreffend und für den Fall zentral, dass der durch die Richtlinie eingeräumte mitgliedstaatliche Spielraum durch unionsrechtliche Vorgaben gerahmt ist. Spielraumbegrenzend wirken namentlich die in Art. 4 II der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen, die ihrerseits EU-Grundrechte konkretisieren (Rn. 165, 209, 211 ff.). Die Richtlinienbestimmung soll einen Ausgleich zwischen dem religiösen Selbstbestimmungsrecht und dem Schutz von Arbeitnehmern vor Diskriminierung herstellen, zugleich aber unterschiedlichen Wertungen, auch grundrechtlichen, auf nationaler Ebene Raum geben (Rn. 166).

Übersetzungs- und Durchsetzungsleistung

Das BVerfG erbringt eine grundlegende Übersetzungsleistung, indem es die unionsrechtlichen (Rahmen-)Vorgaben mittels unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts in die grundgesetzliche Grundrechtsprüfung integriert. Auf Rechtfertigungsebene hält das BVerfG für den Ausgleich kollidierender Rechtsgüter im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts an seiner zweistufigen Prüfung fest (Rn. 203 ff.), richtet diese aber an den – als verbindlich anerkannten – Vorgaben des Unionsrechts aus (Rn. 209 ff.).

Dies führt zu im Ergebnis nicht unerheblichen Modifikationen: Das Vorbringen der Kirche ist auf der ersten Stufe zwar nach wie vor lediglich auf Plausibilität hin zu prüfen. Dieser Prüfungsschritt erfährt aber durch die Einbeziehung der EuGH-Rechtsprechung eine „Schärfung“: Fachgerichte haben im Einzelfall festzustellen, ob sich aus der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung „objektiv ein direkter Zusammenhang“ zwischen der geforderten Kirchenmitgliedschaft und der fraglichen Tätigkeit ergibt (Rn. 216 f.). Auf zweiter Stufe ist eine Gesamtabwägung der widerstreitenden Rechtsgüter vorzunehmen, die einer vollen gerichtlichen Prüfung unterliegt und im Rahmen derer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine grundlegende Bedeutung zukommt (Rn. 221). Ob sich die in der Richtlinie aufgestellten Kriterien tatsächlich so naht- und bruchlos den hiesigen grundrechtsdogmatischen Topoi Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zuordnen lassen, wie es das BVerfG schulbuchmäßig vorführt (Rn. 224), mag abermals mit einem Fragezeichen versehen werden. Unter dem Strich gelingt es dem BVerfG so aber, die unionsrechtlichen Vorgaben einschließlich der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit des Abwägungsvorgangs in das deutsche Verfassungsrecht zu übersetzen und damit zugleich verfassungsgerichtlich durchzusetzen.

Kontrollvorbehalte

Das Vorstehende macht einen Verdienst des Beschlusses besonders deutlich, der auch für Recht auf Vergessen oder Europäischer Haftbefehl III charakteristisch ist: Eine Verfassungsbeschwerde, die in konzeptionell überdehnten Grenzkategorien (Ultra-vires-Akt und Verfassungsidentität) gehalten ist, wird im Kern auf das zurückgeführt, worum es in der Sache geht: die richtige Kalibrierung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs unter Einbeziehung bzw. Koordinierung verschiedener Schutzebenen, national wie europäisch. Damit könnten etwaige Kontrollvorbehalte eigentlich auf eine (hypothetische) Sekundärebene verlagert werden. Gleichwohl spielen diese vorliegend eine zentrale Rolle.

Engführung der Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle für juristische Personen

Die Diakonie berief sich auf zwei Kontrollvorbehalte. Die Ultra-vires-Rüge erfolgte gleich doppelt, zum einen inzident im Rahmen der Rüge einer Verletzung des religiösen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 4 I, II i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 III 1 WRV i.V.m. Art. 20 III GG sowie zum anderen prinzipal über Art. 38 I 1 i.V.m. Art. 20 I, II und Art. 79 III GG. Ferner rügte die Diakonie unter Berufung auf Art. 1 I, Art. 20 I, II GG sowie Art. 79 III und Art. 23 I GG eine Verletzung der Verfassungsidentität.

In Bezug auf juristische Personen nimmt das BVerfG insoweit eine relevante Klarstellung vor: Juristische Personen können sich nicht auf eine Verletzung des demokratischen Kerngehalts des Wahlrechts oder der Menschenwürdegarantie berufen. Deshalb verneint der Zweite Senat überzeugend bereits die Zulässigkeit der prinzipalen Ultra-vires-Rüge sowie der Rüge einer Verletzung der Verfassungsidentität. Als privatrechtlicher Verein könne sich die Diakonie weder auf das in Art. 38 I GG verankerte „Recht auf Demokratie“ (Rn. 137) noch auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG berufen (Rn. 142). Die Hürde der Zulässigkeit nimmt die Verfassungsbeschwerde einzig unter dem Gesichtspunkt der inzidenten Ultra-vires-Rüge, d.h. dem Vorbringen, das BAG habe die Diakonie in ihrem religiösen Selbstbestimmungsrecht verletzt, indem es der Auslegung des EuGH gefolgt sei, die jedoch ultra vires und deshalb unbeachtlich sei (Rn. 119).

Egenberger: kein Ultra-vires-Akt

Überzeugend legt der Zweite Senat in der Begründetheit dar, weshalb sich das Egenberger-Urteil des EuGH nach den eng konzipierten Maßstäben der Ultra-vires-Kontrolle nicht als eine evidente und strukturell relevante Kompetenzüberschreitung darstellt. Unter eingehender Würdigung der vom EuGH in Egenberger vorgenommenen Auslegung des Primär- und Sekundärrechts verdeutlicht das BVerfG, dass sich die Auslegungsergebnisse des EuGH als mindestens vertretbar und nicht etwa methodisch willkürlich darstellten. Das gilt für das Verständnis des Art. 17 AEUV als Abwägungsgebot (nicht als Bereichsausnahme) ebenso wie für die kompetenzrechtliche Reichweite des auf Art. 19 AEUV gestützten Antidiskriminierungsrechts und die konkrete Auslegung der darin niedergelegten einschlägigen sekundärrechtlichen Maßstäbe. Da eine Berufung der Diakonie auf Art. 38 I GG ausscheidet, tritt vorliegend die neuere, nicht auf demokratische Legitimation mittels Wahlrecht, sondern im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Begründung der Ultra-vires-Kontrolle hervor (Rn. 227).

So sehr dies im Ergebnis überzeugt und deshalb als Karlsruher Akt der Europarechtsfreundlichkeit verbucht werden mag, so sehr zeigt sich darin die strukturelle Problematik einer Ultra-vires-Kontrolle durch nationale Verfassungs- bzw. Höchstgerichte. Denn letztlich nimmt das BVerfG eine, wenn auch auf einen Willkürmaßstab reduzierte, Kontrolle der unionsgerichtlichen Auslegung des Unionsrechts vor. Materieller und methodischer Maßstab dieser Kontrolle ist letztlich ein unionaler. Dass das BVerfG zu einer solchen Kontrolle institutionell nur bedingt in der Lage ist, wird nicht zuletzt durch den Umstand illustriert, dass das Meinungsspektrum, welches das BVerfG als Hintergrundfolie zur Vermessung der Vertretbarkeit der unionsgerichtlichen Auslegung aufspannt, ausschließlich deutschsprachigem Schrifttum entstammt. Das ist einerseits verständlich, handelt es sich beim BVerfG eben um ein deutsches Verfassungsgericht, andererseits aber unzureichend angesichts der sprachlich wie rechtskulturell vielfältigen Natur des Unionsrechts. Institutionell abgebildet wird diese Vielfalt nicht in Karlsruhe, sondern in Luxemburg.

Solange ex machina: Solange-Test ohne – und jenseits – der Zulässigkeitsprüfung?

Dann eine Erscheinung. Choreographisch auf maximalen Überraschungseffekt angelegt, dogmatisch freischwebend, erhält plötzlich ein Solange-Test Einzug in die Begründetheitsprüfung. Verwundert mag sich der unbefangene Leser fragen, ob er Zentrales in der Zulässigkeitsprüfung übersehen habe. Für zulässig erklärt wurde doch einzig die inzidente Ultra-vires-Rüge (Rn. 119, 128 ff.). Und doch folgen, gliederungstechnisch wie rechtsdogmatisch von der Ultra-vires-Kontrolle klar separiert, Ausführungen zu einer „Unterschreitung des vom Grundgesetz als unabdingbar gewährleisteten Grundrechtsstandards“ (Rn. 233, 235, 254 ff.), mithin ein Solange-Test.

Abermals mag das vom BVerfG gefundene Ergebnis als europarechtsfreundlich verbucht werden, betont der Zweite Senat doch den strukturell vergleichbaren Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene: Nicht nur der abstrakte Normbestand, sondern auch seine konkrete Anwendung durch den EuGH unter Einbeziehung der EGMR-Rechtsprechung garantiere ein europäisches Schutzniveau des religiösen Selbstbestimmungsrechts, welches nicht hinter das grundgesetzlich geforderte Mindestniveau zurückfalle (Rn. 254 ff.). Die Unionsgrundrechte offerieren in ihrer Konkretisierung durch das Sekundärrecht im Bereich des religiösen Selbstbestimmungsrechts ein Schutzniveau, das dem grundgesetzlichen strukturell vergleichbar ist (Rn. 266).

Gleichwohl stellen sich mehrere Fragen, die vorliegend nur angerissen werden können. Erstens: Kann es einen Solange-Test ohne – und jenseits – der Zulässigkeitsprüfung geben? Es überrascht, dass der Solange-Vorbehalt, wie ihn das BVerfG auch bezeichnet (Rn. 233), im Egenberger-Beschluss allein in der Begründetheit firmiert, während er bislang konzeptionell auf die Zulässigkeitsprüfung bezogen war. Nach der Solange-II-Rechtsprechung übt das BVerfG im unionsrechtlich determinierten Bereich keine Kontrolle am Maßstab der deutschen Grundrechte aus, „solange die Unionsgrundrechte einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell bieten, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgen“ (vgl. aus jüngerer Zeit Rn. 84 m.w.N. sowie – noch ohne den Zusatz „jeweils“ – Rn. 132). Mit der Vermutung eines hinreichenden europäischen Schutzniveaus korrespondiert ein qualifiziertes Substantiierungserfordernis, wonach Verfassungsbeschwerden „von vornherein unzulässig“ sind, „wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs […] unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei“ (hier: Rn. 62).

Bislang schien gesichert, dass diese (prozessrechtliche) Hürde beim gegenwärtigen Stand des EU-Grundrechtsschutzes kaum überwunden werden könne und daher eher hypothetischer Natur ist. Möglicherweise wollte der Zweite Senat die Identitätsrüge nicht nur als unzulässig abweisen, sondern die darin sinngemäß behauptete Insuffizienz des europäischen Schutzniveaus auch in der Sache widerlegen. Eine solche Widerlegung in der Sache lässt sich kaum anders in die Entscheidungsgründe integrieren als unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs und etwaiger Grenzen der Verbindlichkeit der unionsrechtlichen Vorgaben in ihrer umstrittenen Auslegung durch den EuGH. Allerdings korrespondiert die Begründetheitsprüfung dann nicht mehr vollständig mit der (überzeugenden) Engführung der Zulässigkeitsprüfung. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die hier (ex officio?) erfolgte Ausübung des Solange-Tests im Rahmen der Begründetheit eine über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung erlangen könnte.

Die Frage nach einem etwaigen Bedeutungszuwachs des Solange-Tests stellt sich, zweitens, umso relevanter dar, als das BVerfG nunmehr mit der schon in Recht auf Vergessen II (dort Rn. 47 a.E.) angekündigten Verschärfung des Solange-Vorbehalts Ernst macht: Der grundgesetzlich „jeweils“ als unabdingbar gebotene Schutzstandard beziehe sich danach nicht auf das in der jeweiligen Zeit gebotene, garantieübergreifend generelle Schutzniveau, sondern auf „eine auf das jeweilige Grundrecht des Grundgesetzes bezogene generelle Betrachtung“ (bestätigend Rn. 233). Gemeint ist mit anderen Worten eine auf das jeweilige Grundrecht bezogene und in diesem Sinne garantiespezifische Äquivalenzprüfung. Genau diese nimmt das BVerfG nunmehr hinsichtlich der Sicherung des religiösen Selbstbestimmungsrechts auf europäischer Ebene vor.

Drittens lenkt der vom BVerfG ausgeübte Solange-Test das Augenmerk darauf, dass die von der Gleichbehandlungsrichtlinie belassenen Wertungsspielräume im Bereich des religiösen Selbstbestimmungsrechts möglicherweise kleiner bemessen sind, als es zunächst den Anschein hat. Denn die Solange-Rechtsprechung, welche die Grundrechtsprüfung des BVerfG am Maßstab deutscher Grundrechte im Vertrauen auf ein äquivalentes europäisches Schutzniveau zurücknimmt, greift ja überhaupt nur im Anwendungsbereich zwingender bzw. vollharmonisierender Vorgaben des Unionsrechts. Die Vorgaben des Art. 4 II der Gleichbehandlungsrichtlinie erweisen sich trotz ihrer rahmenhaften Natur letztlich als substanziell tiefgreifend.

Fazit

Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass die Kategorien der Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsunfreundlichkeit in ihrer jeweils klaren Parteinahme kaum mehr die komplexen und vielschichtigen Fragestellungen des Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem einzufangen vermögen. So europarechtsfreundlich sich der Egenberger-Beschluss im Ergebnis darstellt, so fragwürdig ist nach wie vor das Verfahren der Ultra-vires-Kontrolle und so überraschend sind die Ausführungen zum Solange-Vorbehalt in der Begründetheitsprüfung. Unter dem Strich überzeugt die Entscheidung vor allem durch ihre differenzierte grundrechtliche Maßstabsbildung, die in der Anerkennung und Verarbeitung der unionsrechtlichen Vorgaben ebenso wie in der Aufrechterhaltung innerstaatlicher Spezifika im Hinblick auf Grundrechtswertungen und -dogmatik ein gelungenes Beispiel des Managements unterschiedlicher Grundrechtsschichten abgibt.


SUGGESTED CITATION  Wendel, Mattias; Geiger, Sarah: Grundrechtsvielfalt mit Überraschungsmoment: Zum Egenberger-Beschluss des BVerfG , VerfBlog, 2025/10/29, https://verfassungsblog.de/egenberger-solange-grundrechtspluralismus/, DOI: 10.59704/93adc03ffdc56d39.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Diskriminierungsverbot, Egenberger, Europäischer Grundrechtsschutz, Solange, Ultra Vires


Other posts about this region:
Deutschland